Die Hoschköppe / 9. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 9. Kapitel

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Sonnabend, 23. Juli 1988


Sind beide früh aufgestanden, für einen Sonnabend sogar sehr früh. Und das mit einem tollen Muskelkater. Es dauerte eine Weile, bis wir in Schwung kamen. Jede Bewegung verursachte Schmerzen. Schreibtischarbeit scheint nicht sonderlich zu trainieren. Das bisschen Fahrradfahren wohl auch nicht. Auf Jochens Drängen hin hatten wir uns vor Jahren in Sportzeug auf die Straße gewagt. Es war natürlich schon dunkel. Wir wollten ein paar Kilometer joggen. Als Erstem war mir die Puste weggeblieben. Der einzige Erfolg dieses einmaligen Unternehmens waren riesige Blasen an jedem Hacken. Alleine mochte der ängstliche Jochen in der Dunkelheit nicht laufen und mit dem Fahrrad nebenherfahren durfte ich nicht. Das Training wurde also aus Mangel an Beteiligung wieder eingestellt.
Bei der Morgenwäsche vermieden wir jede unnötige Verrenkung, hielten uns dafür etwas länger beim Frühstück auf. Dann holte ich aus dem Bad den fertigen Kleister. Der alte Quast hat etwas gemeinsam mit mir. Beide haben wir längst den besten Teil unserer Haarpracht eingebüßt, erfüllen aber noch recht gut unseren Zweck. Während ich, über den Fußboden rutschend, die Tapeten einkleisterte, hatte Jochen sein Tun mit dem Ankleben. Bahn für Bahn bedeckte er zuerst die Fensterwand, dann die freie Wand zur Kochnische hin.
Gegen 8 Uhr öffnete sich das Fenster gegenüber. Das war etwas Besonderes. „Der kleine Thomas ist wohl aus seinem Bett gefallen. So früh schon. Das ist doch sonst nicht seine Art“, sagte ich. Vor 11, halb 12 tat sich da sonst nichts am Wochenende. Wir machten noch eine ganze Weile Witze darüber.
Mittag war schon lange vorbei, als wir mit dem Tapezieren endlich fertig waren. Wir schwitzten genauso wie die Fensterscheiben. Jochen warf die Würstchen ins heiße Wasser und ich verschaffte uns Platz zum Sitzen. Den rechten Appetit auf Würstchen hatte ich nicht. Mit Mühe würgte ich zwei von den Dingern runter. Noch ein Bissen und mir wäre übel geworden. Mit dem Zeug war nicht viel los. Vorsorglich nahmen wir einen kräftigen Schluck Klaren und machten uns mit halber Kraft wieder ans Werk.
Auch der Alte Fritz, der seinen Platz oben auf der Anbauwand hat, blieb nicht verschont. Er war mit den Jahren gealtert und hatte Flecken angesetzt. An einigen Stellen hat der Gips Schrammen und hier und da fehlt schon ein Eckchen. Nun stand er auf seinem kleinen provisorischen Holzsockel mitten im Zimmer, trocknete vor sich hin und wurde weißer und weißer. Richtig schmuck sah er wieder aus mit seinem Dreispitz, trotz des etwas strengen Gesichts.
Angeblich hatte diese Büste lange Jahre in irgendeinem dunklen Geräteschuppen zubringen müssen. Vor vier Jahren, es war im März, kamen Thomas der Geile und Ulf damit angeschleppt. Als Abschiedsgeschenk sozusagen. Wir wussten von Thomas, dass seine Familie einen Ausreiseantrag gestellt hatte. „Nun ist es endlich soweit, in wenigen Tagen müssen wir die DDR verlassen haben“, meinte Thomas damals. Sie waren beide gekommen, um sich von uns zu verabschieden. Ulf wollte vorerst nach Berlin gehen und dann später nachfahren. Wie er das anzustellen gedachte, hatte er aus verständlichen Gründen für sich behalten. Wir wissen bis heute nicht, ob er es geschafft hat und jetzt drüben bei Thomas ist. Beide haben sich danach nicht wieder gemeldet. Vielleicht haben sie es versucht? Oder aus den Augen, aus dem Sinn?
Kennengelernt hatten wir Thomas den Geilen vor acht oder sieben Jahren am Strand. Er hatte sich, genau wie wir, am Feldrand hinter den schützenden Sträuchern eine sonnige und windstille Ecke gesucht. In seinen ausgebleichten Jeansklamotten und mit dem roten Helm in der Hand machte er eine sehr gute Figur. Damals hatte er mittelblondes Haar, das ihm bis auf die Schulter fiel. Für Jochen war es leicht gewesen, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Sie unterhielten sich ganz einfach über die Schule. Thomas ging damals zur EOS. Er raffte seine wenigen Sachen zusammen und kam zu uns. Wir verbrachten den weiteren Nachmittag zusammen, ohne, dass etwas passiert war. Gegen Abend fuhren Jochen und ich dann mit den Rädern zu mir nach Hause. Jochen wohnte damals noch bei seiner Mutter. Thomas war mit dem Moped vorausgefahren und wollte vor meiner Haustür auf uns warten. Er wartete wirklich. Auch den Abend verbrachten wir mit irgendeiner Unterhaltung zu dritt. Nachdem Thomas mitbekommen hatte, dass Jochen nicht die Nacht bei mir verbringen würde, gab er mir in einem unbeobachteten Moment zu verstehen, dass er wiederkommen werde, sobald Jochen fort sein würde. Seine Nähe hatte mich ohnehin in Unruhe versetzt, jetzt keimte auch noch Vorfreude auf. Er war dann gegangen, aber Jochen hielt sich noch reichlich lange auf. Meine Hoffnung schwand und die Vorfreude mit ihr. Ahnte Jochen etwas? Aber schließlich musste er doch nach Hause, wollte er nicht wieder langes Fragen seiner Mutter über sich ergehen lassen. Thomas mag schon längst zu Hause in Lütten Klein sein, dachte ich, als plötzlich kleine Steinchen an die Scheiben und aufs blecherne Fenstersims schlugen und mich aus meinen Gedanken rissen. Unten stand Thomas, der in einem Schatten gewartet hatte, breitbeinig im Rasen und strahlte durch die Dunkelheit nach oben, bückte sich dann, nahm den Schlüsselbund auf, den ich ihm zugeworfen hatte, und war mit wenigen Schritten an der Haustür. Hiervon erfuhr Jochen erst zwei Jahre später.
Deshalb war es gar nicht der Alte Fritz, dem ich so viel Aufmerksamkeit angedeihen ließ, sondern das Andenken an Thomas den Geilen. Diesen Namen hatte er übrigens von Dieter bekommen, den wir durch ihn kennengelernt hatten. Vielleicht komme ich später einmal auf Dieter zu sprechen.
Anfangs stand uns der Dreispitz beim Aufräumen des Zimmers nur im Wege, konnten wir ihn doch erst nach oben auf den Schrank bugsieren, nachdem er vollständig trocken war. Mit allem Kram, der wieder raus musste, zogen wir, Abstand haltend, um ihn herum. Auch das Aufräumen und Saubermachen brauchte seine Zeit. Zum Abendbrot waren wir mit allem fertig. Es tat gut, zu sitzen, die Beine hochzulegen und das Vollbrachte zu betrachten. Dieses Gefühl war selten, etwas geschafft zu haben. Wir kosteten es aus.
Zu 19.30 Uhr war Thomas bestellt. Ich ging deshalb ungefähr 10 Minuten nach 7 zu mir nach Hause, stellte dort den Fernseher an und begann, einen Brief an einen Thomas in Westberlin zu schreiben. Ja, auch der heißt Thomas. Der will am 12. August kommen und ein paar Tage bleiben. Ich war mit diesem Brief noch nicht weit gekommen, als ein Film begann, den ich mir natürlich ansehen musste, zumal mir die nötige Muße zum Schreiben fehlte. Danach machte ich mich wieder an den Brief und wurde erst weit nach 22.20 Uhr damit fertig. Mit Jochen hatte ich vereinbart, gegen 20 nach 10 zurückzukommen. Wir wollten dann gemeinsam einen anderen Film ansehen. Ich beeilte mich, die vorher schon abgezogene Bettwäsche und ein paar andere Kleinigkeiten in einen großen roten Kunstlederbeutel zu stopfen und mich auf den Weg zu machen.
Von meinem Fenster aus blicke ich direkt auf die Wilhelm-Hörning-Straße. Vor Jahren, als die Bäume in den Gärten kleiner waren, konnte ich Jochens Haustür sehen. Auf zwei Gehwegen durchquere ich diese Gärten, will ich in die Kaufhalle oder zu Jochen gehen. Auf dem ersten dieser Wege stieß ich auf ihn. Er wollte mich abholen. Gespannt lauschte ich seinem ersten Bericht, mit dem er sogleich begann. Sein Mund war wie der Deckel eines dampfenden Topfes. Er erzählte, dass Thomas pünktlich, auf die Sekunde genau, um 19.30 Uhr geklingelt hatte und dann, ohne irgendwelche Hemmungen zu zeigen, was ja eigentlich verwunderlich ist, sofort durch den Korridor bis in die Stube getobt sei. Ich hatte Jochen vorher geraten, er solle ihn aus taktischen Gründen die Schuhe ausziehen lassen. Dies tat Thomas dann auch, wie Jochen meinte, aber erst nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass sie beide wirklich allein waren. Bis kurz vor 22.20 Uhr hätten sie sich sehr angeregt unterhalten. Während Jochen erzählte, warf ich den Brief in den Kasten neben der Kaufhalle. Er berichtete noch immer, und seine Begeisterung für Thomas nahm mit jedem Satz zu, als wir schon längst die Betten gebaut hatten und zusammen hineingekrochen waren.
Dann loderten für einen Moment Leuchtfeuer an beiden Ufern des Hellesponts auf.
Ich lag noch lange wach. Was mir Jochen erzählt hatte, schwirrte wie ein Mückenschwarm durch meinen Kopf.


Freitag, 22. Juli 1988 - Sonntag, 24. Juli 1988

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