Die Hoschköppe / 8. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 8. Kapitel

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Freitag, 22. Juli 1988


3 Uhr nachmittags in Gehlsdorf. Ich kaufte zwei Farbroller. Wenn man in ganz Rostock nicht das Gesuchte findet, dann hat man in der dortigen Drogerie immer noch eine gute Chance. Vor dem Laden wartete ich auf einen Kollegen, der mich in seinem „Wartburg“ bis nach Lichtenhagen mitnehmen wollte. Außer ihm saß noch ein anderer im Wagen, den wir am Kabutzenhof absetzten, weil er dort in seinen eigenen Hirsch einsteigen wollte.
Die Farbroller legte ich in Jochens Wohnung, damit er sie dort sofort vorfindet, wenn er nach Hause käme. Er hätte sonst nach Warnemünde zurückfahren müssen, um sich welche bei einer Kollegin auszuborgen. Ich eilte von da aus schnurstracks in meinen Keller, zog mir die gute Jacke aus und die schwarzen Gummistiefel an. Mit einer Rosenschere bewaffnet, ging ich zum Beschneiden der Sträucher wieder vors Haus. Da das Fräulein, das meiner Tür gegenüberwohnt, auch im Begriff war, das Haus zu verlassen, fragte ich sie, mehr aus Höflichkeit, ob sie schon die Rechnung vom Schlüsselnotdienst bekommen habe. Nein, meinte sie, die sei noch nicht da. Wie es gekommen sei, dass die Leute so schnell zur Stelle waren, fragte ich noch.
„Sie waren zufällig in Lütten Klein“, sagte sie.
Ich hatte mal bei Jochen den Schlüssel abgebrochen und mehrere Stunden verzweifelt gewartet. Das Dumme daran war damals, dass Jochen ausgerechnet an dem Tag einen Kollegen mit nach Hause brachte. Heute lacht Jochen selbst darüber, aber damals war ihm so auf die Schnelle keine plausible Erklärung eingefallen, wieso er nicht in seine eigene Wohnung reinkommen könne.
Dann kam die dritte Partei meiner Etage dazu. Der Mann ging genierlich und zur Seite blickend vorbei, seine Frau gab aber ihre Meinung zum Besten: „Das wird aber auch mal Zeit, dass die Sträucher beschnitten werden.“
Sehr wohl, gnäd'ge Frau. Küss die Hand, gnäd'ge Frau. Stets zu Diensten! Blöde Kuh! „Sie hätten doch schon längst was sagen können, ich hätte ihnen gern die Rosenschere gegeben“, hatte ich zu ihr gesagt. Sie lachte nur und weg war sie. Und, meine Sträucher sind es schließlich auch nicht. Es war eine dumme Tageszeit, sofern eine Tageszeit überhaupt dumm sein kann, in der ich mich da zu schaffen machte. Sonntagvormittag wäre besser gewesen, dann muss man nicht unbedingt rein- oder rausgehen.
Inzwischen war Charlotte, meine unmittelbare Nachbarin, runtergekommen, im Haus die Einzige mit Herz und die mit anfasste. Sie riss erst ein paar Grasbüschel raus und fegte dann das Abgeschnittene zusammen. Nachdem wir den beachtlichen Haufen in den Container geschafft hatten, ging ich hoch, um mir die Hände zu waschen. Die beiden Girls waren ausgeflogen. Sie hatten einen Fensterflügel offen gelassen. Das war gut. Das weibliche Geschlecht riecht immer etwas „anders“. Der Auslaufschlauch der Waschmaschine war über den Rand der Badewanne gesteckt. Sicher hatten sich die „pfiffigen Kerlchen“ mit der Waschmaschine heißes Wasser gemacht. Gut, dass sie selber darauf gekommen waren, denn Lichtenhagen ist turnusmäßig dran. Mit dem abgestellten warmen Wasser.
Als ich dann zu Jochen kam, war er gerade dabei, von der Fensterwand die Raufasertapete herunterzureißen. Er war wohl dabei ins Schwitzen gekommen, denn er belegte mich sofort: „Dir ist wohl nicht ganz ordentlich, dass du bei dieser Hitze einen Pullover trägst!“
Ich musste ihn ausziehen, den Pullover, und zur Strafe in die Kaufhalle gehen. Und damit ich nichts vergessen konnte, bekam ich einen Zettel mit: Brot, Wurst, 4 Würstchen, Käse zum Überbacken, 12 Brötchen, 1 Tüte Milch, Schokolade, Brause.
Ich stand in der Schlange vor eine der Kassen, als ich plötzlich Thomas sah. Mit einem vollen Einkaufsbeutel verließ er gerade die Kaufhalle. Er sieht wirklich gut aus, dachte ich.
Zu Hause erzählte ich Jochen von dieser Begegnung. Auch, dass ich morgens an der S-Bahn-Haltestelle Frank gesehen hatte, der mit demselben Zug fahren wollte.
Mit Frank hat es auch so seine Bewandtnis. Ich habe ihn anfangs schon einmal erwähnt, nur da wussten wir noch nicht, dass er Frank heißt. Er gehörte mit zu denen, die wir anfangs in Verdacht hatten, den allerersten Brief geschrieben zu haben. Das erste Mal war er uns vor zwei Jahren am Strand als ein hübscher Blonder aufgefallen, der mit seinem Fahrrad des Öfteren dort angeradelt kam und die Kerle erst scharfmachte und sie dann abblitzen ließ. Ganz so, wie es Buben tun, die nur neugierig sind, oder solche, die es schon mal gerne probieren würden, sich aber nicht trauen. Im vergangenen Sommer überraschten wir ihn, wie er mit einem jungen Mann zugange war. Es war nicht unsere Absicht gewesen, sie zu stören. Frank verzog sich daraufhin sofort. Er fuhr mit seinem Rad ein ganzes Stück zurück und verschwand dann in einem Trampelpfad. Jochen war ihm nachgefahren und eine ganze Weile weggeblieben. Er erzählte hinterher, dass er ihm durch die Kartoffelrosen gefolgt sei. Das hatte ich selber gesehen. Im hohen Gras, unmittelbar am Rand der Steilküste, habe er ihn vorgefunden: nackt, auf dem Rücken liegend, seinen Steifen in der rechten Faust.
Danach hatten wir Frank nicht wiedergesehen, bis eben zu diesem Sommer. Er war wieder an unserem Strand aufgetaucht, diesmal zu Fuß, wie es schien. Er hatte nur eine kurze, zu enge Turnhose an, sodass ihm alle Kerle lechzend nachschauen mussten, ob sie wollten oder nicht. Bis zu unserer Stelle war er hochgekommen und bog dann nach links in Richtung Feld ab. Jetzt oder nie dachte ich und ging ihm nach. Ein Stück weiter weg war er dann stehen geblieben und hatte sich zu mir umgedreht. Drei Meter vor ihm blieb dann ich stehen und betrachtete ihn gründlich. Er ist größer als ich, was mir Angst machte, und ganz so gut sieht er auch nicht mehr aus. Aber seine Turnhose, auf die es schließlich ankam, beulte sich zunehmend aus. Bei ihrem Anblick bekam ich Herzklopfen. Da er mein Zögern anscheinend als Ablehnung auffasste, wollte er an mich vorbei zurückgehen. Hastig und auf alles gefasst, ergriff ich die große Beule. Er blieb wie angewurzelt stehen und sah mich an. Erst nach einer Weile fragte er: „Was soll das?“
„Ich dachte, es würde dir sicher Spaß machen, oder?“ Ich wusste nichts Besseres zu sagen.
„Ja, dass schon“, gab er zu.
„Das ist ja ein gewaltiges Ding, das du da hast! Hast du das schon mal fotografieren lassen?“ fragte ich beeindruckt und wog das schwere Gerät in meiner Hand. Jochen hatte schon davon geschwärmt, aber dies hätte ich mir beim besten Willen nicht träumen lassen. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag, dann wollte ich meinen Fotoapparat dabeihaben. Ich hielt noch immer sein Ding in der Hand, als Jochen angeschissen kam und sich dazwischen drängeln wollte. Er erhielt aber von Frank eine Abfuhr.
„Wer ist das denn?“, fragte Frank, als Jochen wieder weg war.
„Das ist mein Freund. Der ist in Ordnung.“
Dann war auch Frank wieder abgezogen. Den Fotoapparat hatte ich zwar anderntags mit, aber Frank war nicht wieder aufgetaucht.
Damit hätte diese Episode eigentlich beendet sein können. Aber! Vor Kurzem kam ich zu Jochen, es muss an einem Wochenende gewesen sein, als ich in seinem Korridor fremde Turnschuhe und eine fremde Jacke vorfand. Wird sich jetzt Jochens Kollege fragen, warum ich für diese Wohnung einen Schlüssel habe, dachte ich. Jochen hatte mich gehören und war mir sofort entgegengekommen. Ich staunte nicht schlecht, denn er war vollkommen nackend!
„Ich habe Besuch“, sagte er lediglich.
Das war zwar nicht zu übersehen, aber noch keine Erklärung dafür. Auf der braunen Liege hatte er den Bengel vom Strand ausgebreitet, auch splitterfasernackt, der gerade noch mit einer Decke seine Blöße hatte verbergen können. Ich stand davor und kuckte dumm aus der Wäsche, wusste im ersten Moment nichts zu sagen. Jochen stellte den Liegenden dann als Frank vor. Also Frank, auch nicht schlecht, dachte ich. Zur Begrüßung langte ich unter die Decke. Auf diese Situation unvorbereitet und nicht besonders scharf auf einen flotten Dreier, zog Frank sich seine Hose an. Ganz ungeniert, als mache es ihm gar nichts aus, setzte er sich auf die Couch.
Wenn ich es mir richtig überlege, dann wird es eher an einem Wochentag gewesen sein, denn ich war nur zum Abendbrotessen zu Jochen gegangen. Wir aßen dann zu dritt. Danach war ich wieder zu mir nach Hause gegangen.
Am nächsten Tag erzählt mir Jochen, dass er gerade am Fenster gestanden hatte, als Frank vorbei ging und zu ihm hochgesehen habe. Dabei muss es dann in beiden irgendwo geblitzt haben, denn Jochen war automatisch zur Tür gegangen, um durch den Spion zu sehen, während Frank traumwandlerisch auf ihn zu steuerte. Als Frank vor der Tür angekommen war, hatte Jochen nur noch zu öffnen brauchen. Alles andere ergab sich von selbst.
Ich bin abgeschweift. Die Geschichte mit Frank sollte gar nicht erzählt werden. Wie kam ich überhaupt darauf? Auch so, ich und er sind morgens mit derselben S-Bahn gefahren. Normalerweise fahre ich eine Bahn später. Heute wollte ich aber bis zum Hauptbahnhof durchfahren, um meine Fahrkarte umzutauschen, denn Jochens Mutter hatte gestern darauf entdeckt, dass die Rückfahrt am 31. 07. erfolgen soll, was mir natürlich nicht aufgefallen war. Bei einer Kontrolle hätte ich ganz schön alt ausgesehen. Ich war schon einmal mit einer verkehrten Fahrkarte auf Reisen gewesen. Auf diesen Ärger kann ich ganz gut verzichten.
Während Jochen noch mit der eingeweichten Raufasertapete an der Fensterwand kämpfte, machte ich Abendbrot, das wir wie ein Provisorium zu uns nahmen. Anschließend bekam ich ein paar alte Klamotten angepasst. Wir räumten, so gut es ging, alle Möbel auf die eine Seite und deckten sie notdürftig ab. Eigens zu diesem Zweck hatte Jochen heute zwei dicke Rollen Krepppapier aus dem Tapetenladen geholt. Elf Mark die Rolle. Dann begannen wir, die Decke zu weißen, das heißt, soweit es der beschränkte Platz für die Trittleiter und Jochens kurze Arme zuließen, wobei er auf der Leiter artistische Fähigkeiten zeigte. Ich war für die Handlangerarbeiten zuständig. Dann wurde ein Teil der Möbel zurückgeräumt, wieder mit Papierbahnen abgedeckt, und der mittlere Teil der Decke geweißt.
Draußen war es schon lange dunkel geworden. Die Scheiben des kahlen Fensters hatten sich beschlagen. Irgendwann war die Decke dann fertig. Wir waren es schon lange. Ein kurzer Hieb aus der Schnapsflasche gab wieder Power, denn die Fensterwand sollte noch unbedingt vor dem Schlafengehen mit neuer Tapete beklebt werden. Jochen bestand darauf. Ich hatte schon lange keine Lust mehr. Aber kurz nach halb 11 war auch das geschafft.
Und in dieses Chaos hinein platzte so gegen halb neun Thomas, um Jochen einen Brief zu geben. Zum Teufel noch mal! Hatte er denn nicht gesehen, dass Jochen nicht allein ist und dass wir schwer zu tun haben?

Zwar überrascht über Ihr Erscheinen gestern Abend, und
das auch noch mit Antwort, mußte ich feststellen, daß
jenes gar keine Antwort, sondern nur eine Einladung war.
Ursprünglich rechnete ich mit einem Brief, in dem
Sie einiges hätten klarstellen können. Das kam
mir aber schon so komisch vor, denn es hat ja nicht
lange gedauert, bis Sie die Antwort brachten. Demzu-
folge wurde der Brief nicht richtig von Ihnen gelesen,
oder aber Sie wußten nicht, was Sie nun mit dem
Papierchen anfangen sollten. Wer sagt mir eigentlich,
daß Sie morgen allein sind. Wenn ich das von
meinem Fenster richtig sehe, sind Sie gerade beim
Tapetzieren oder Streichen, und da kann man
jede Hand gebrauchen. Wieso sind Sie eigentlich nicht
verheiratet und haben Kinder. Sie sind nicht der Typ
für Scheidung, glaube ich jedenfalls. Sie sehen jeden Falls
nicht so aus. Sie brauchen diese Fragen nicht beant-
worten. Zumal es mich im Grunde genommen gar-
nichts angeht und ich wüßte auch sonst keinen
Grund, wieso Sie es mir sagen sollten.
                                                                                Diesmal bitte per
Noch können Sie das ganze vergessen,                    Brief, oder ist Ihnen
ich muß es ja dann gezwungener                             das zu intim.
Maßen auch tun.                               21.00 in meinem Briefkasten (bitte)
Denn zu einem Gespräch ist es ja noch                       bei Pohl
nicht gekommen.
Ist es der Mann, mit dem Sie sozusagen „zusammen leben“?

Dieser Bengel, dieser Thomas, scheint unendliche Langeweile zu haben. Oder unendlich viel Kummer mit sich selbst.
Natürlich konnte und wollte Jochen nicht alles stehen und liegen lassen, nur um einen ausführlichen Antwortbrief zu verfassen. Und außerdem konnten wir uns keine rechte Vorstellung davon machen, was in dem Schädel des Bengels vor sich gehen mochte, denn das sich dort so einiges tat, war uns schon klar. Wir hatten es nicht nur mit dem Grips einer Eierteigmuschel zu tun. Was wollte er von uns, oder zumindest von Jochen? Welchen verrückten Ideen würde er nachgeben, solch einen Brief in den Händen? Meinte er es wirklich ehrlich? Das würde sich erst bei einem Gespräch herausstellen. Aber auch nur möglicherweise!
Als Thomas um halb 11 auch noch die Stirn hatte, zu klingeln, um auf die Antwort auf seine Briefe nachzufragen, da waren wir echt sauer. So fix und fertig, wie wir beide waren! Jochen gab ihm das sehr deutlich zu verstehen. Sein robuster Ton erschien uns im Nachhinein dann als etwas überzogen, sodass wir nun fürchten, er werde sich nicht wieder melden.
Hätte es nicht so nötig getan, ich wäre ohne mich zu waschen ins Bett gefallen. Das Rollo hatten wir runtergezogen.



Donnerstag, 21. Juli 1988 - Sonnabend, 23. Juli 1988

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