Die Hoschköppe / 7. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 7. Kapitel

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Donnerstag, 21. Juli 1988


Mit Rücksicht auf die beiden Frauen, die zwar nicht mehr jung verliebt schienen, ging ich gleich zu Jochens Wohnung. Dort hängt im Hausflur eine ganze Batterie blecherner Briefkästen. Neugierig sah ich durch den schmalen Schlitz in Jochens Fach, konnte aber in der tiefen Finsternis nichts erkennen. Einen eigenen Schlüssel hierfür hatte er mir noch nicht anvertraut. Jochen wohnt in der ersten Etage, gleich über dem Trockenraum, was besonders im Winter eine erfrischende Fußkälte beschert. Hier legte ich neben der Spüle die aus Gehlsdorf mitgebrachten Sachen ab: Schnittlauch, Petersilie, zweimal Mutox, Kinderhaarwäsche für die Pullover und Zahnpasta. Nun blieb nur noch übrig, ein halbes Brot, einen kleinen Becher Salat, ein Viertel Stralsunder Markenkäse, Zucker, Eier (Sorte B) und Limo zu besorgen, was schnell getan war, denn die Kaufhalle steht in unmittelbarer Nähe und die alljährliche Sachsenschwemme war noch nicht über uns gekommen. Ich packte auch diese alltäglichen Köstlichkeiten aus und legte sie so weg, dass wir sie im Bedarfsfalle wiederfinden. Bei alledem ließ ich auf strickte Weisung Jochens das Fenster geschlossen.
Ich las ein paar langweilige Seiten aus einem langweiligen Buch, bevor ich gegen 17.15 Uhr mit dem Aufdecken begann. Da Jochen noch immer nicht gekommen war und ich nicht ohne ihn zu essen anfangen wollte, nahm ich noch einmal sein Buch zur Hand. Dann endlich schnappte die Tür.
Aus dem Briefkasten hatte Jochen nur die blöde Zeitung mitgebracht. Weiter nichts, keinen Brief, womit wir doch ganz fest gerechnet hatten. Wir aßen, ohne uns wie sonst dafür Zeit zu nehmen. Am Fenster gegenüber keine Bewegung. Das Rollo war bis auf einen schmalen Spalt heruntergelassen. Zur Beobachtung unseres Fensters? Das wollten wir jedenfalls solange geschlossen halten, bis Jochens Mutter und Kati, seine Schwester, wieder gegangen waren. Der da drüben sollte glauben, hier sei noch niemand zu Hause.
Jochens Mutter hatte sich zu halb 7 angemeldet. Wir warteten vergebens, die Familie kam nicht. Auch gut, sagten wir uns, wenn sie nicht kommen, dann fangen wir schon mal mit dem Vorbereiten der Renovierung an. Während wir uns bemühten, in dem kleinen gelben Plasteeimer den Tapetenkleister und im großen roten das Deckenweiß einzuweichen, begab sich unsere Fantasie auf die wildesten und abenteuerlichsten Ausflüge. Da mitten hinein klingelt es Sturm. Jochen sah mich fragend an. Konnte das seine Mutter sein? Oder der von gegenüber? Jochen ging zur Tür und ließ den Fußballer rein, der ja auch noch hatte kommen wollen, um sich zwei Schlafsäcke auszuborgen. Der hielt sich aber zum Glück nicht länger auf, hatte selbst keine Zeit.
Ich turnte waghalsig auf der obersten Stufe der wackligen Trittleiter herum, um den Vorhang abzunehmen, der die Kochnische von der guten Stube trennt, als es erneut mit Getöse klingelte. Während ich mich Halt suchend an den Vorhang klammerte, ging Jochen aufmachen. Diesmal nun waren es tatsächlich seine Mutter und seine Schwester, die mit über einer Stunde Verspätung auftauchten. Jochen händigte ihnen die Kronen aus, die er für die beiden eingetauscht hatte. Sie besprachen mit ihm auch noch andere Dinge, die die ČSSR-Reise betrafen. Ich fummelte weiter am Vorhang herum, der eine erschreckende Menge Staub von sich gab. Diese ungemütliche Atmosphäre, wozu auch Jochen noch sein Bestes beitrug, veranlasste die beiden, sobald als möglich wieder das Weite zu suchen. Das heißt, gute zwanzig Minuten hatten sie uns trotzdem wie auf Kohlen sitzen lassen. Als Entschädigung für den verdeckten Rausschmiss gaben wir ihnen die Petersilie und den Schnittlauch mit. Sie nahmen das Geschenk dankbar an und ließen großzügig einen verwelkten Rest zurück.
Mit schweren Armen stieg ich von der Leiter. Der Vorhang war schon unten. Endlich konnten wir das Fenster öffnen und die Staubwolke nach draußen entlassen. Nun warteten wir gespannt auf irgendein Ereignis. Nebenbei wurde das Poster von der Wand genommen, die Strippe mit den Küchenkräutern von der Gardinenstange abgetüdert, an der eben noch der Vorhang hing, an mehreren Stellen die Wandhöhe ausgemessen, die gleichmäßige Neigung der Decke bewundert und damit begonnen, anhand der gewonnenen Messwerte die Tapete zuzuschneiden.
Um halb 9 klingelte es dann erneut. Obwohl wir darauf gewartet hatten, schraken wir zusammen. Es war aber niemand draußen, der eingelassen werden wollte, auch der Briefkasten war leer geblieben. Enttäuscht machten wir uns wieder über die Tapete her und schufteten ohne weitere Unterbrechung durch bis Viertel 10. Bahn für Bahn der neuen Tapete schichtete sich übereinander. Auf Knien krochen wir vor der Anbauwand hin und her. Dann riss ein wiederholter Klingelstoß unsere Köpfe hoch. Jochen ging zur Tür, schon etwas langsamer, und brachte von dort ein zusammengefaltetes Blatt kleinkariertes Schreibpapier mit zurück, das ihm entgegen geflattert war, als er die Tür öffnete. Darauf also, auf diesen Fetzen, hatten wir die ganze Zeit gelauert! Beim ersten Klingeln, vor einer dreiviertel Stunde, hatte mein Herz noch ganz aufgeregt gegen das blaukarierte Arbeitshemd geschlagen. Inzwischen war es erschöpft. Nun pochte es nicht noch einmal mit dieser Heftigkeit.

Ehe wir da irgendeine Aktion starten, schreiben Sie mir
doch bitte auf, was Sie wann und wo mit mir vorhaben.
Sollten Sie sich nur mit mir unterhalten wollen (auf Grund
meines Briefes), legen Sie einen Zeitpunkt fest, denn Sie arbeiten,
ich nicht. Gestern Abend kam ich mir ehrlichgesagt total
kindisch vor. Ich meine das Ding mit dem weglaufen.
Ich habe doch buchstäblich die Flucht ergriffen, ganz einfach
aus dem Grunde, Sie könnten mir etwas sagen, was mir nicht
paßt. Mir wurde gestern von Ihnen angeboten, heute um 20.00
vorbeizukommen, das hab ich auch gemacht, vor der Tür
aber sprach auf einmal wider alles dagegen. Würde mich
nicht wundern, wenn Sie mich als beknakt bezeichnen würden.
Erstmal verfahren wir so, daß Sie mir (heute noch) ant-
worten.
          Kann ja sein, daß wir uns auf der Straße treffen
                                                  (auf dem Weg von Ihnen
                                                                           zu mir)
       Die Haustür dürften Sie noch kennen.
       Stecken Sie den Brief bitte in den Kasten   Pohl
              Ich werde Ihn mir dann
               hohlen, sobald Sie aus der Haustür raussind.
                                               Sicher ist sicher.
                                                            Thomas

Beim Lesen dieser Zeilen, die mit einem richtigen Namen endeten, kam aber die Erregung unaufhaltsam zurück gekrochen und packte uns an Händen und Füßen. Dieser Zettel war so etwas wie ein Taufschein. Von nun an hatte der anonyme Gegenüber einen Namen, einen Vor- und Nachnamen. Gefällt mir gut: Thomas. Thomas, das kling so wie …
Jochen nahm das erstbeste Stück Papier, das ihm in die Finger fiel, und schrieb mit zitternder Hand einen Termin auf:

               Sonnabend, 19.30, dann können wir uns unterhalten.

Er zog die Jacke über und verschwand.
Nach wenigen Augenblicken, die mir aber unendlich vorkamen, war er zurück und berichtete, er habe ihn, Thomas, noch vor dessen Haustür angetroffen und ihm den Zettel übergeben. Außer: „Alles klar?“ hatte er nichts weiter zu Thomas gesagt. Es klang etwas enttäuscht, als Jochen sagte: „Der ist doch schon ganz schön reif, als ich so vor ihm stand. Der muss sich ja schon rasieren. Groß ist er nicht, er geht mir bloß bis hier.“ Jochen hielt sich die flache Hand waagerecht vor den Mund.
Nun lief der Fernseher. Zufällig hatte ich in „Hair“ rein geschaltet. Ich besitze eine polnische LP davon, den Film kannte ich noch nicht und wollte ihn unbedingt bis zu Ende ansehen. Jochen hatte aber genug für heute, baute die Betten, die noch frei zugänglich waren, verschwand zuerst im Bad und dann unter der Steppdecke. Er brachte gerade noch so viel Kraft auf, mit dem Lichtschalter zu spielen und darauf die Antwort abzuwarten. Bis zum Filmende war ich unsichtbar geblieben. Thomas sollte denken, Jochen sei allein. Dann ging auch ich ins Bett. Mein letzter Blick und die letzten Gedanken galten aber dem Fenster gegenüber, das noch immer kurze Lichtbündel aussandte.




Mittwoch, 20. Juli 1988 - Freitag, 22. Juli 1988

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