Die Hoschköppe / 6. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 6. Kapitel

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Mittwoch, 20. Juli 1988


Dem 26. April folgten Tage gespannter Erwartung. Die Zeit verging aber ungestört und es geschah nichts, was unseren Frieden beeinträchtigte. So verstrichen knappe zwei Monate, in denen die Sonne von Mittag zu Mittag höher hinaufgeklettert ist. Sie schien mir noch kräftig auf den breiten Scheitel, als ich heute kurz nach 16 Uhr nach Hause kam. Wie schon in den letzten Tagen ging ich zuerst in meine eigene Wohnung.
Hatte schon einen ganzen Schwung Karteikärtchen in meine Literaturkartei einsortiert, als mir endlich einfiel, dass ich wohl oder übel ein paar Lebensmittel einkaufen müsse, denn es hatte sich Besuch angekündigt. Kerstin und Bärbel aus der Jenaer Lesbenszene, auf die ich wartete, hätten eigentlich schon da sein müssen. Sie hatten sich in den Kopf gesetzt, ein paar Tage Ostseeluft zu schnuppern. Der Kühlschrank war leider nicht selbst auf die Idee gekommen, sich auf Gäste einzustellen. Schnappte mir also in aller Eile einen Beutel und tobte die Treppe hinunter. Auf halber Höhe kam mir Jochen entgegen, in beiden Händen ein tropfendes Eis. Er musste kehrtmachen und wieder runtergehen, um mich auf dem Weg zur Kaufhalle zu begleiten. Mit der einen Hand dirigierte er seinen störrischen Drahtesel nach Hause, mit der anderen sein immer stärker tropfendes Eis.
Anschließend wanderten wir zum Buchladen. Nichts gekauft. Im Tapetenladen gleich um die Ecke erwarben wir fünf Rollen Tapete zu je 10,50 Mark, eine Tapezierschere, je eine Tüte geleimte Wandfarbe und Tapetenkleister. Das trugen wir alles zu Jochen. In seinem Briefkasten lagen eine Zeitung und ein Brief, dessen Umschlag zugeklebt und unbeschriftet war.
„Geht das schon wieder los!“, stöhnte ich. Solange war ja Ruhe gewesen.
Wir betraten die Wohnung. Ich deckte den Tisch. Jochen öffnete voller böser Vorahnungen den Brief, der weder Anrede, Datum noch Unterschrift hatte: DIN-A-4-Blatt, beidseitig beschrieben. Jochen, einigermaßen gefasst, las ihn zuerst.

Ich glaube Sie falsch beurteilt zu haben,
und dafür möchte ich mich entschuldigen.
Die Show, die Sie damals abgezogen haben,
habe ich auch anders aufgefaßt.
Ich hab mir die ganze Sache überlegt,
und möchte Sie ganz gerne näher kennen-
lernen. Mit diesem Satz dachten Sie garan-
tiert an ein ganz bestimmtes Wort. (schwul)
Verstehen Sie das bitte nicht falsch, aber
ich brauche einen älteren Kumpel oder
sagen Sie besser Freund, was daraus wird, liegt
bei Ihnen. Das wird Ihnen hier ziemlich
absurt vorkommen, aber ich meine es ehrlich.
Ich weiß nur noch nicht, wie ich es anstelle,
mit Ihnen zusammenzutreffen. Das ein-
fachste wäre natürlich zu Ihnen zu kommen.
Nur, wie ist dann Ihre Reaktion darauf hin.
Knallen Sie die Tür zu, scheißen Sie mich
zusammen oder lassen Sie mich sogar
rein. Nur erst mal den Mut zu haben,
rüberzugehen und zu klingeln. Wer sagt
mir denn, daß ich mit heilen Knochen
davon komme. Im Notfalle würde ich
noch das anwenden, was ich vor 4 Jahren
gelernt habe. Ich war 3 Jahre in einem
Karate-Club. Und einmal habe ich den
Bezirks-Meister gemacht. Ich hoffe, wir
werden uns verstehen, auch so.
             Nehmen Sie mich bitte ernst.

Auf den linken Blattrand war mit blauem Kugelschreiber - die erste Seite war, bis auf (schwul), in blasses Schwarz gehalten - noch ein Satz hinzugefügt, der uns den Briefeschreiber, nach der gerade deutlich genug ausgesprochenen Drohung, wieder etwas sympathischer machte:

Was vorher war, vergessen wir, okay!?

Auf der Rückseite hatte er mit Blau weiter geschrieben.

Nach diesem Brief glauben Sie bestimmt, ich
sei bekloppt, sowas auch nur zu denken.
Aber ich glaube mit 17 weiß man langsam
was man will und was man besser sein
lassen sollte. Ich für meinen Teil habe mir
das jedoch ganz genau überlegt.
Im Vergleich dazu können Sie sich ja mal
eine Zeitung vornehmen und die Anonzenseite
aufschlagen.     Zitat habe ich gerade vor mir.
„  Bin 26; 1,76 / intelligent, gutaussehend und
  gefühlsbetohnt / suche jungen Mann von 22-30 /
   gutaussehend, ungebunden mit Interesse für
       Musik, Garten, Reisen und anderen schönen
                            Dingen des Lebens.“
/ ABN - Nr. 317062 / Bei Nachfrage (mit Foto)“ Zitat Ende
             Näher brauche ich das ja wohl nicht
                erläutern, eindeutige Absichten, der Typ.
              Von diesen „Männern“ gibt es Hunderte.
               Wieso soll ich dann also nicht auch einen
               jungen Mann kennenlernen, zugegeben
              unter anderen Umständen.
              Wenn Sie jetzt also näher drüber nach-
              denken, werden Sie merken, daß es so absurt
              gar nicht ist, nur normal.

Obwohl der Brief jegliche Obszönitäten vermissen ließ, hatte es Jochen doch den Appetit verschlagen. Erneut umkreiste der Absender als großes Rätsel unseren Abendbrottisch. Eine Hypothese verjagte die andere. Wir einigten uns aber bald darauf, dass es wohl doch der von drüben sein muss. Wir beobachteten gespannt dessen Fenster, gewahrten aber keine Bewegung. War sicher nicht zu Hause.
Nach der Programmvorschau, es war kurz nach 7 Uhr, gingen wir zu mir, um für die beiden Mädels im Kühlschrank eine Notration zu deponieren. Vorher buddelten wir in meinem aus Latten gezimmerten Kellerloch nach dem Abstreichsieb, welches wir bei der bevorstehenden Renovierung brauchen. Mit einem schnellen Seitenblick nahm ich vor meiner Wohnungstür wahr, dass jemand eine Nachricht hinterlassen hatte. Steckte sie, natürlich nicht unbemerkt, in die Hosentasche. Konnte ja noch nicht wissen, ob sie auch Jochen lesen durfte. Wenn ja, dann würde der sie schon noch früh genug zu sehen bekommen.
Ich öffnete die Wohnungstür, die sich gleich nach meinem Einzug vor elf Jahren dermaßen verzogen hatte, dass der ätzende Katzengestank ungehindert hindurch wabern konnte. Unten im Rohrkeller hatte sich eine ganze Katzenbande häuslich eingerichtet und die Luft des ganzen Hauses verpestet. Die Tür war nicht abgeschlossen, das hatte ich wohl in der Eile vergessen. Das Licht im Korridor brannte auch noch. Dass die Stubentür zu war, machte mich endlich stutzig, denn die steht für gewöhnlich weit offen. Das Schlimmste befürchtend, womöglich eine kahl geräumte Bude, öffnete ich auch die und beide traten wir mutig dem noch unsichtbaren Feind entgegen. Es waren sogar zwei. Der Erste auf der Couch fiel uns sofort ins Auge. Der andere lag um die Ecke auf der Liege. Beide eingemummelt und vor sich hin schnorchelnd. Es waren, wie sich glücklicherweise herausstellte, Bärbel und Kerstin. In ihrer verschlafenen Hilflosigkeit sahen sie gar nicht aus wie Terrorlesben. Wir konnten nicht umhin, sie aufzurütteln und munter zu machen. Nach kurzer Begrüßung und Vorstellung verpasste ich den beiden eine umfassende Einweisung in Sachen Ordnung und Sicherheit sowie Brandschutz. Dann überließen wir sie sich selbst. Aus dem Bad retteten wir sicherheitshalber Trittleiter und Eimer und klingelten bei der drögen Charlotte, der guten Seele des Hauses und meine Nachbarin. Sie war es auch, die die beiden Tramps rein gelassen hatte.
Zurück bei Jochen visitierten wir das Fenster gegenüber. Es rührte sich noch immer nichts. Jochen las noch einmal den Brief. Erneute Spekulation über dessen Absender. Durch mehrmaliges Öffnen und Schließen des Fensters versuchte Jochen, den Gegner auf sich aufmerksam zu machen. Hierbei entdeckte er ihn plötzlich in einer gänzlich unvermuteten, aber bedrohlich nahen Position. Er stand, zusammen mit einem anderen Bengel, an der Tischtennisplatte. Nun ging Jochen zum Angriff über. Er steckte seinen Kopf solange aus dem Fenster, bis sie ihn endlich bemerkten. Dann zog er sich wieder zurück und drehte den Fensterflügel so, dass wir in seinem Spiegelbild die beiden beobachten konnten. Natürlich in der Hoffnung, selber nicht gesehen zu werden. Das taten wir dann ausgiebig. Der Gegenüber, wenn er es also war, und wir hielten ihn dafür, hatte obenherum etwas Rotes an und beobachtete seinerseits unser Fenster. Das war ganz deutlich zu erkennen. Nachdem sein Kumpel im Durchgang verschwunden war, bezog ich sofort vor dem Türspion Posten. Für den Fall, der Rote würde hier das Feld sondieren wollen. Jochen hielt derweil in der Stube die Stellung. Während ich mir an der Wohnungstür die Nase platt drückte, kam der Gegenüber bis direkt unters Fenster und machte sich dort bemerkbar. Jochen zeigte sich wie zufällig. Sie sahen sich das erste Mal bewusst Auge in Auge. Der Andere fragte Jochen, ob er heute schon den Briefkasten geleert habe. Jochen bejahte das, woraufhin sich der Andere erst einmal von der Front zurückzog und bald in seinem eigenen Fenster erschien. Jochen legte sich ein Kissen aufs Fensterbrett und sah raus (rüber). Ich, von meinem Posten abberufen, grub mich nun in einem Sessel ein, um von dort aus durchs Fernglas alle Bewegungen des potenziellen und geil aussehenden Feindes zu verfolgen. Der Anblick des weichen Kissens unter Jochens Ellenbogen erinnerte mich unwillkürlich an Frau Falk, die Mutter eines Schulkameraden. Wir wohnten uns in Fürstenwerder gegenüber, nur durch die Straße und unseren Hof getrennt. Herr Falk, ein alter Kriegsinvalide, saß die meiste Zeit in einem Sessel, der auf einem Podest vor dem Fenster stand. Frau Falk, eine stabile deutsche Frau, hatte ihn nach dem Kriege mit einer ganzen Reihe von Kindern beschenk. Sie liebte es, sich über sein Pochwerk zu legen und, genau wie jetzt Jochen, mit einem Kissen unter den Ellenbogen aus dem Fenster zu sehen, um die Straße zu beobachten. Mein Vater beliebte dann zu sagen: „Door licht se werra up ämm.“  Mitunter meinte er aber auch: „De kricht noch eest Bostkräft dovon.“  
Aus sicherer Deckung heraus kommentierte ich alle Bilder, die ich mit meinem Fernglas einfing: „Jetzt zieht er sich aus … bis auf eine blaue Turnhose … mit drei weißen Streifen an jeder Seite.“ Mehr von ihm zu sehen, wollte er uns nicht vergönnen. „In diesem Kostüm turnt er jetzt auf dem Fensterbrett herum … du großer Gott! … und fingerte an seinem Rollo herum. Jetzt hält er was Weißes hoch. Könnte ein Schreibblock sein. Jetzt sitzt er und scheint zu schreiben.“
Wir hatten den Eindruck, als würde er, auf seinem Bett oder seiner Liege sitzend, einen Brief schreiben. Er hatte deutlich erkennen lassen, dass er alle dafür notwendigen Dinge bereithatte und es sah aus, als würde es ein langer Brief werden. Wir glaubten, das heißt, wir waren uns sicher, dass dieser Brief wieder für Jochen bestimmt war. Jochen brannte darauf, diesen Brief möglichst noch heute Abend in seine Hände zu bekommen, denn für morgen hatten sich seine Mutter und Kathleen angesagt. Ein Zusammentreffen - man stelle sich vor, der Bengel beschreibe gerade seine Absicht, uns ins Haus schneien zu wollen! - musste doch wohl, der Peinlichkeit wegen, vermieden werden. Jochen holte in seiner Verzweiflung seine Jacke ins Zimmer und zog sie demonstrativ vor offenem Fenster an, ging dann zur hinteren Haustür hinaus und drehte eine Runde um den Innenhof. Unter dem besagten Fenster auf der anderen Seite angelangt, fiel er in einen ganz besonders langsamen Schlenderschritt. In der Hoffnung, der Andere käme runter. Kam aber nicht. Der spielte sein Spiel nach eigenen Regeln, hatte Jochen aber von oben herab beobachtet, während ich ihn im Visier hatte. Jochen kehrte enttäuscht zurück und zeigte sich abermals am Fenster. Bevor er losgegangen war, hatten wir einen großen Klaren zur Stärkung unseres Mutes runtergekippt. Unsere Aufregung war daraufhin spürbar abgeflaut. Ich hatte auch keine Mühe, das Fernglas ruhig zu halten. Das runde Bild war zuletzt hin und her gesprungen wie ein zappelnder Plötz am Haken.
„Er zieht sich jetzt wieder an. Gelbes T-Shirt, darunter irgendwas Weißes. Er verlässt sein Zimmer.“
Nun, so dachten wir, würde er den Brief rüberbringen. Jochen behielt vom Fenster aus den Weg im Auge, ich überwachte das Treppenhaus. Aus der Stube kam die Meldung, der Feind habe gerade, von der linken Flanke kommend, den Durchgang passiert und es müsse damit gerechnet werden, dass er jeden Augenblick und möglicherweise vor dem Kuckloch auftauche. Schon signalisierte die Haustür eine Fremdeinwirkung. In bestimmten Situationen konnte die schlampige Wartung und Pflege des Hauses also auch von Nutzen sein. Plötzlich traf ein dünner Lichtstrahl mein Auge. Ganz langsam, Stufe für Stufe in das leere Treppenhaus lauschend, näherte sich das gelbe T-Shirt, blieb auf dem Treppenabsatz stehen und sah zur Tür hoch. Mein Herz hörte auf zu schlagen. Ich überließ Jochen meinen Posten und verzog mich in die Stube. Als der Blonde endlich vor der Tür angelangt war, öffnete Jochen sie kalten Mutes. Aber noch bevor auch nur ein Zipfelchen des gelben T-Shirts zu sehen war, ist der Bengel, einer spontanen Eingebung folgend, weiter nach oben davongestürmt. Jochen ging vor die Tür und wagte es sogar, ihm ein paar Stufen nachzusteigen. Da nichts zu sehen war, kam er wieder rein und klemmte sich abermals hinter den Spion. Es waren unendlich lange Minuten verstrichen, das Flurlicht war inzwischen ausgegangen, als sich ein dunkler Schatten vorsichtig die Treppe hinunter tastete und, sobald er unsere Tür passiert hatte, nach draußen verschwand, so schnell ihn seine Füße tragen konnten.
Jochen war noch bis zum Durchgang hinterhergelaufen. Der Andere hatte ihn zwar bemerkt, konnte sich aber nicht entschließen, stehen zu bleiben. Ein Brief war nicht im Kasten. Ich hatte inzwischen nachgesehen.
Das war dann Aufregung genug für den heutigen Abend. Dachten wir. Ich war schon im Bad, während Jochen die Betten machte. Als auch er sich auszog, bemerkte er den Anderen unter dem noch offenen Fenster stehen. Jochen sprach ihn einfach an und sagte, er könne morgen um 20 Uhr kommen, wenn er wolle und das Bedürfnis zum Reden habe. Der Andere meinte, um die Zeit könne er nicht. Er sagte noch mehr, doch seine Worte drangen nicht alle bis zu Jochen empor, denn der Plattenspieler lief noch und ein wenig schwerhörig ist Jochen auch schon, was sich besonders im Umgang mit mir bemerkbar macht. Als wir dann endlich friedlich im Bett lagen, blinkte drüben dreimal das Stubenlicht verschwörerisch auf. War das eine Frage oder eine Antwort? Jochen hatte von einem fernen, aber scheinbar freundlich gesinnten Planeten ein Zeichen empfangen und sendete nun seine Antwort. Die Lampe über seinem Kopf leuchtete ebenfalls dreimal auf. Ich hatte mitgezählt.



Dienstag, 26. April 1988 - Donnerstag, 21. Juli 1988

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