Die Hoschköppe / 62. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 62. Kapitel

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Dienstag, 18. Oktober 1988


In der Gewerkschaftsversammlung der Betriebspoliklinik der Neptunwerft wurde eines der zurzeit brisantesten Themen angesprochen. Doktor W. teilte dem aufhorchenden Auditorium mit, dass gestern der erste (offizielle) AIDS-Tote in Rostock seziert wurde. Die Stadt ist also am 17. Oktober 1988 um eine traurige Attraktion reicher geworden. Und das Schlimme an der Sache sei, meinte Doktor W. ganz sachlich, dass dieser Mensch, obwohl er wusste, dass er AIDS-krank ist, nachweislich noch mit über hundert Anderen „Kontakt“ hatte. Das sei unverantwortlich, ja skrupellos gewesen. An diese Information schloss sich eine kurze, aber heftige Diskussion an: Ob denn so etwas nicht verboten sei? - Dem wird es egal gewesen sein, da er wusste, dass er sowieso in absehbarer Zeit sterben müsse! - Meldepflicht - Den Zahlen, die in der Presse veröffentlicht würden, könne man ohnehin nicht trauen. - Man müsse achtgeben auf die eigenen Kinder.
Ich hatte es vorgezogen, mich nicht dazu zu äußern. Warum auch. Die ganze Versammlung war beschissen. Dieser Punkt hatte mich innerlich aber doch sehr stark berührt. Bisher war AIDS etwas gewesen, was weit weg lag, nicht so unmittelbar vor der Tür stand, etwas, womit ich nicht in Berührung kommen würde, etwas, wovor ich keine Angst hatte, worüber ich mir kaum Gedanken machte. Gewiss, es hieß vorher schon, es gebe auch hier AIDS-Kranke. Im Arbeitskreis hatte es zu dieser Thematik schon mehrere Abendveranstaltungen gegeben, die stets sehr regen Zulauf hatten. Das Thema hat also interessiert. Man machte sich Sorgen. In vielerlei Hinsicht. Aber nur allgemein. Wie solle man sich schützen, sich verhalten, wie habe man mit den Betroffenen umzugehen. Gerade diesem Punkt, das Umgehen mit den Betroffenen, hatte Eddi immer ganz besondere Bedeutung beimessen wollen. Aber seinen Fragen danach, wie mit diesen Leuten umzugehen, wie ihnen zu helfen sei, mit sich selbst und der Umwelt fertig zu werden, wurde leider viel zu wenig Beachtung geschenkt. Weil niemand einen Menschen kannte, den das betroffen hätte. Alle dachten vielleicht, wenn es eines fernen Tages soweit kommen sollte, dann werde „man“ schon sehen, was zu tun wäre. Eddi hatte in seiner Ungeduld nie bis dahin warten wollen: Darüber müsse schon jetzt Klarheit bestehen! Ich stehe sowieso außerhalb dieses Problems. Was soll mir schon passieren, ich habe ja Jochen. Und wenn ich hin und wieder, wenig genug, mit einem jungen Burschen etwas zu tun hatte oder bekommen würde, woher sollte der das dann schon haben.
Jetzt überlege ich die ganze Zeit, wer dieser Tote wohl sein könne. Durchgesickert war noch nichts davon. Aber Jochen und ich waren in letzter Zeit auch kaum mit jemand zusammengetroffen, der uns etwas darüber hätte erzählen können. Bei Klaus H. wurde am Sonnabend jedenfalls nichts dazu gesagt. Ob ich ihn mal anrufe? Doktor W. über Näheres zu befragen, halte ich für taktisch unklug. Wer mag das nur sein, vielleicht kannten wir ihn sogar? Wie klein und armselig sind doch vor diesem Hintergrund unsere täglichen Querelen.
Ich saß zu Hause und erwartete Roland, dessen Mutter telefonisch mitgeteilt hatte, dass sie ihn zu um halb fünf schicken würde. Mit einer Viertelstunde Verspätung kam er angeradelt. Wir machten uns sogleich daran, Abzüge von seinem Film anzufertigen, wobei sich tatsächlich herausstellte, dass alle die Fotos gut wurden, auf denen er selber drauf ist. Noch angesichts der fertigen Fotos versicherte er, dass seine Äquatortaufe nicht so schlimm gewesen sei. Die Fotos von dieser Prozedur sagten dagegen etwas ganz anderes aus, wenn wir sie als Beweismittel gelten lassen wollen, denn darauf machte er unter den zu erleidenden Torturen einen sehr bemitleidenswerten Eindruck. Sicher wollte er sich und seinem Kapitän keine Schwierigkeiten bereiten. Bei der Bekehrung uneinsichtiger Heiden durch die gutmütigen Padri oder widerspenstiger Ketzer durch die heilige Inquisition wurde im Mittelalter ähnlich verfahren. Roland hatte es überlebt und um dies jederzeit belegen zu können, kopierten wir auch die Taufurkunde, denn Erzähltes gilt unter den Seeleuten noch immer als sehr unzuverlässig.
Die Hälfte der Arbeit war getan, da erhielten wir Besuch von Raymond, der das Dia anschleppte, von dem er einen Abzug haben wollte, worüber er bereits gestern mit mir gesprochen hatte. Nach Begutachtung des Dias konnte ich ihm leider keine Hoffnung auf Erfolg machen, denn es war viel zu dunkel.
„War Thomas schon hier?“, fragte er.
„Nein, bei mir war er noch nicht“, antwortete ich.
„Aber er hat doch gestern gefragt, wann du zu Hause sein würdest!“
Raymond hatte sich gleich, als er kam ohne Hemmungen die Schuhe und Jacke ausgezogen und war mit mir in die Stube gegangen, während Roland noch im Bad zu tun hatte. Ich machte ihn vorsichtshalber darauf aufmerksam, dass Jochens Bruder im Bad sitze und Fotos entwickle, was Raymond aber nicht in die erwartete Eile versetzte. Da er in der Vergangenheit mehrmals den Wunsch geäußert hatte, einmal beim Entwickeln zusehen zu dürfen, lud ich ihn ein, dies jetzt zu tun. Das mit seinem Dia habe noch Zeit, meinte Raymond. Wir gingen zu Roland in die Dunkelkammer, wo ich die beiden zwangsweise miteinander bekannt machte. Um sechs war ich mit dem Belichten fertig und ging mit Raymond wieder ins Zimmer zurück. Roland musste noch bleiben. Raymond zeigte Interesse an der Kartei, die unübersehbar auf dem Schreibtisch stand. Ich war gerade dabei, sie ihm näher zu erläutern und eine der Drucklisten zu zeigen, als auch Roland das Zimmer betrat. Ich konnte gerade noch rechtzeitig die Frage abbremsen, zu der Raymond schon Luft geholt hatte. Ich flüsterte ihm zu, er möge jetzt nichts sagen. Der Befehl, demgemäß Roland und ich um halb sieben bei Jochen zum Essen zu erscheinen hatten, kam mir jetzt sehr entgegen, denn wir mussten uns auf den Weg machen.
Vor Jochens Haustür verabschiedeten wir uns von Raymond und drinnen begrüßten wir dann Thomas. Tyche war wohl der Meinung, und deren Ruder ließ sich nicht von Menschenhand umlegen, wenn Roland schon den einen kennengelernt hatte, dann konnte er ebenso gut auch noch mit dessen Gegenstück bekannt werden. Die zwei gelben Schuhe unter der Flurgarderobe waren mir sofort beim Eintreten in die Augen gesprungen. Ich hätte zu gern gewusst, was sich sowohl Tyche als auch Roland dabei dachten. Thomas, auch nicht erschreckt über das neue Gesicht, verhandelte sogleich mit Roland über die eine LP, die sein Bruder gerne käuflich erwerben wolle. Nachdem sie sich über den Preis handelseinig waren, es hatte kein langes Feilschen gegeben, war Thomas mit dem Versprechen, diesbezüglich nachher noch einmal wiederzukommen, gegangen. Jochen und Roland überspielten noch einmal die Platte, bevor sie unwiederbringlich verloren sein würde. Als Thomas dann wiederkam, brachte er Raymond und hundertfünfzig Mark mit. Nie im Leben hätte ich für diese Platte, aber auch für keine andere, so viel Geld ausgegeben. Aber wer‘s hat, der kann. Meinetwegen, dachte ich. Und Roland konnte es gut gebrauchen. Ich hatte ihm vorhin aus meinem Bestand einige Hemden und ein Paar Sandalen ausgesucht, die er während seiner nächsten Fahrt irgendwo an Afrikas Küste verhökern wollte. Von seiner ersten Reise dorthin hatte er sich wunderschöne Schnitzarbeiten aus schwarzem und braunem Holz mitgebracht, die ihm seine reedereieigene Arbeitskombi gekostet hatten.
Thomas klemmte sich stolz die Platte unter den Arm und war mit Raymond gleich wieder verschwunden, kaum dass sie fünf Minuten da gewesen waren. Um viertel neun ging auch ich. Ich wollte mich mit Raymonds Dia und den zu trocknenden Fotos beschäftigen. Um elf sah ich dann spaßeshalber aus dem Fenster.
Die Laterne vor dem Haus leuchtete nicht. Weiter war mir nichts aufgefallen.


Montag, 17. Oktober 1988 - Mittwoch, 19. Oktober 1988

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