Die Hoschköppe / 61. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 61. Kapitel

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Montag, 17. Oktober 1988


Weil es an der Tür klingelte, musste ich vom Schreibtisch aufstehen, an den ich mich gerade erst gesetzt hatte.
„Na, ihr drei, kommt rein“, sagte ich zu Thomas und Raymond, der sich verwundert umsah, aber niemand weiter entdecken konnte.
„Ist Joschi hier?“, fragte Thomas. Der andere stand im Hintergrund und grinste.
„Nein. Kommt rein.“
„Wirklich nicht?“
Thomas schien dem Frieden nicht zu trauen, kam dann zögernd in den Korridor, während Raymond hinterdrein humpelte. Ihm sei im Bus das vermaledeite Bein eingeschlafen, erklärte er. Von der nächsten Bushaltestelle bis hierher in die zweite Etage ist es eigentlich weit genug, dachte ich, da hätte ein halbwegs normales Bein Zeit genug gehabt, aufzuwachen und sich zu erholen. Da musste also etwas anderes dahinter stecken. Raymond hatte sich bereits, ohne weitere Umstände zu machen, die Schuhe ausgezogen und war in die Stube gegangen. Ja, gegangen! Entweder war ich Zeuge einer Wunderheilung geworden oder er hatte sein Bein ganz einfach vergessen. Thomas verharrte noch immer bei mir im Korridor, als habe er etwas auf dem Herzen. Er sagte aber nichts. Und tat auch nichts.
Ich sagte zu ihm, als müsste ich dafür um Entschuldigung bitten: „Ich hab gar nicht das Bett gemacht.“
Thomas winkte großzügig ab.
„Was macht ihr da so lange?“, rief Raymond argwöhnisch oder nur ungeduldig aus dem Zimmer.
Wir gingen hinein. Thomas setzte sich zu Raymond aufs Sofa und ich wieder an den Schreibtisch.
„Hast du gearbeitet?“, wollte Raymond wissen und blickte zum Fenster hinaus, wo gerade eine Möwe in unmittelbarer Nähe vorbeisegelte.
„Ja, ich arbeite immer, wenn ich hier bin.“
Raymond stöhnte auf und verdrehte ungläubig die Augen. Er war das erste Mal in dieser Wohnung und sah sich gründlich um. Thomas fragte, was eigentlich mit Joschi los gewesen sei, warum der sich so gehabt hätte. Ich hätte auch schon zu Jochen gesagt, dass ich sein Verhalten albern fände, meinte ich. Im weiteren Verlauf des sparsamen Gesprächs stellte sich nach und nach heraus, dass Raymond schon allerhand über mich und meine Wohnung wusste.
„Thomas hat hoffentlich nur Gutes über mich erzählt!“, sah ich mich veranlasst zu betonen, wobei ich Thomas intensiv in die Augen schaute.
„Natürlich“, rechtfertigte sich dieser, „nur Gutes. Ich weiß gar nichts Schlechtes von dir. … und von Joschi auch nicht.“
„Das fehlte auch noch! Ich habe gar nichts hier, was ich euch anbieten könnte“, bedauerte ich und gab den beiden so Gelegenheit, sich für meinen guten Willen zu bedanken. Ich wartete aber vergeblich auf ein Zeichen. Da sie mir ganz offensichtlich ihre Bedürfnislosigkeit nicht eingestehen wollten, fragte ich: „Möchtet ihr ein Glas Johannisbeermost haben?“, womit ich promptes, wenn auch bescheidenes Kopfnicken erntete. „Einen Moment, ich gehe rasch in den Keller“, sagte ich und verschwand, mit ungutem Gefühl die beiden allein lassend.
Als ich mit zwei Weinflaschen in der Küche stand, um die Gläser zu füllen, rief Thomas: „Kann Raymond mal auf Toilette?“
„Aber doch nicht hier!“, antwortete ich und brachte ihnen die Gläser. Thomas sah mich entgeistert an. „Was für eine Antwort hast du auf so eine blöde Frage erwartet?“
„Na, man muss doch wenigstens fragen vorher.“
Wollte Thomas jetzt auf Anstand machen oder hatte Raymond ihn gebeten, zu fragen. Als wir allein waren, fragte Thomas mich, was ich habe. Wieso, was solle ich denn haben, fragte ich verwundert. Ich hatte mir einen Sessel freigeräumt und saß jetzt Thomas gegenüber.
„Als du vorhin da auf dem Stuhl gesessen hast, da hast du sooo gemacht!“ Zur Demonstration bewegte Thomas auf kuriose Weise seine Kaumuskulatur. „… und immer, wenn man so macht, dann hat man irgendwas.“
„Woher hast du denn diese Weisheit? Hast du das studiert?“
Das hätten schlaue Leute rausbekommen und kürzlich im Fernsehen darüber berichtet, meinte Thomas.
„Nein, ich habe nichts“, wiederholte ich. Mir war gar nicht bewusst, eine solche Kaubewegung vollführt zu haben, „und es hat sich auch nichts geändert.“
„Das hat mir Jochen auch schon gesagt.“
„Wann hat er dir das gesagt?“, wunderte ich mich. „Ich habe mich nur damit abgefunden.“
„Du hast dich damit abgefunden? Das heißt aber nicht, dass es dich nicht stört?“ forschte Thomas.
„Kommt darauf an, worauf du das jetzt beziehst!“
„Abends um elf! … da hat sich bei mir auch nichts geändert.“
„Na, da bin ich aber gespannt“, sagte ich. „Ich habe schon lange aufgehört zu warten. Allerdings, nicht zu hoffen.“
„Du wartest nicht mehr?“
„Nein. Ich arbeite zwar immer bis kurz vor elf, aber warten tue ich nicht mehr.“
Raymond kam aus dem Bad zurück, sodass wir unser tiefsinniges Gespräch leider nicht fortsetzen konnten. In der Folge unterhielten wir uns über so unverfängliche Themen wie Raymonds und meinen Arbeitsplatz und über dies und das. Nur das Wetter ließen wir aus. Im Gegensatz zu anderen Leuten fand ich Raymond relativ höflich. Was schon allein daran zu erkennen war, dass er zu verstehen gab, dass ihm meine Wohnung von der Einrichtung her gefalle, und fragte, ob ich alle die Bücher schon gelesen hätte. Thomas meinte daraufhin ungezogen, die seien alle nur Dekoration.
„Immer, wenn mir ein Buchrücken besonders gut gefällt, dann kaufe ich das Buch“, bestätigte ich seinen Verdacht.
Wenige Minuten nach sechs gingen wir: Thomas in die Kaufhalle, ich zu Jochen und Raymond nach Hause. Thomas und Raymond hatten sich für nachher verabredet. Er solle aber erst nach dem Abendbrot kommen, bat sich Raymond aus. Als er mit mir alleine weiterging, meinte er: „Der frisst sich immer durch bei mir.“ Dann erzählte er vom Mittwochabend der vergangenen Woche; nicht viel, nur, dass Jochen wegen meines Besuchs rumgetottert hätte und das auch Thomas anschließend nur rumgezickt habe. Um acht seien sie schon gegangen, denn es sei nicht mehr auszuhalten gewesen.
Jochen war schon seit einer halben Stunde zu Hause, hatte den Tisch gedeckt und war nun dabei, unsere Oberhemden zu bügeln. Er hatte sein Kommen für frühestens um sechs Uhr angekündigt, seine Parteiversammlung dauerte aber nicht solange. Zu seiner Unterhaltung lief der Fernseher. Ich bemühte mich, lieb zu sein. Vielleicht war ich aber auch nur des Weines wegen etwas zu redselig, wofür ich einen ordentlichen Dämpfer verdiente.
„War es schön gestern Abend?“, fragte Jochen keuleschwingend.
„Ja!“, antwortete ich, woraufhin Jochen im ersten Moment etwas verdutzt zurückschreckte. „Was soll diese blöde Fragerei immer? Das kotzt mich an! … du brauchst aber keine Angst zu haben, er war nicht bei mir.“
Jochen stellte mir häufig solche Fangfragen und tat nun ein bisschen komisch. Ich war im Zweifel, ob ich ihm erzählen sollte, dass die beiden vorhin bei mir waren oder nicht? Heraus bekäme er es ohnehin.
Während ich noch überlegte, sagte Jochen: „Das Licht brannte zwar, aber zu Hause war er jedenfalls nicht.“
„Und du meinst, immer, wenn bei ihm das Licht brennt und er trotzdem nicht zu Hause ist, dann kann er nur bei mir sein.“
„Als ich euch beide erwischt habe, war es jedenfalls genauso. Und vorhin hat bei ihm auch wieder das Licht gebrannt und er war nicht zu Hause.“
„Da war er ja auch bei mir“, gab ich jetzt zu wie in einem Verhör.
„Ich weiß!“
„Woher willst du das wissen, warst du da?“
„Meinst du, ich bin zu blöd, das zu bemerken?“, regte sich Jochen auf.
Ich erzählte sicherheitshalber, dass Thomas nicht alleine bei mir war, dass die beiden nur gekommen waren, weil sie wissen wollten, was los sei mit ihm. Was ich ihnen denn so alles erzählt hätte, wollte Jochen wissen, und das mich das gar nichts anginge, erboste er sich. Worüber wir uns sonst noch unterhalten hätten, begehrte er auch noch zu wissen, und überhaupt: Thomas, der brauche zu uns beiden nicht mehr zu kommen.
Jochen hatte als Glut und Eisen schnaufende Dampflok bereits mehrere Runden durchs Zimmer gedreht, als es plötzlich klingelte. Wie aufs Stichwort war Thomas gekommen und, oh Wunder, eingelassen worden. Jochen und er betraten schnurstracks die Arena, setzten sich gegenüber in Positur und funkelten sich wie zwei gespornte Kampfhähne mit den Augen an, wobei sie mit den Krallen den lockeren Sand aus der Mitte der Arena zu kratzten schienen. Thomas glaubte sich in der besseren Ausgangsposition und griff als Erster an: „Was is‘n los, warum hast du so‘n Zappen?“
Als er und Raymond noch bei mir zu Hause waren, hatte er gemeint, dass Joschis Zappen wohl gut bis Warnemünde reichen würde. Jochen hatte sich schnell und heftig in Zorn geredet. Er warf Thomas dessen Zusammensein mit Raymond vor, während er, Jochen, hier sitze und auf ihn lauere. Dafür hätte er, Thomas, die ganze Sache nicht einrühren brauchen. Wer sei es denn schließlich gewesen, der hier Dreckklumpen ans Fenster geworfen habe? Das sei doch er, Thomas, gewesen. Wer habe denn die dreckigen Briefe geschrieben und darin seinen Schwulenhass ausgetobt, das sei doch auch er gewesen! Und dieser Brief gestern, der gehe doch in die gleiche Richtung.
Thomas war zwar auch nicht ruhig geblieben, erregte sich aber nicht so sehr, wie man es hätte erwarten können, obwohl seine Verteidigung nur auf schwachen Füßen stand. Beide Seiten scheuten sich nicht, sogar die Polizei ins Spiel zu bringen und mit ihr zu drohen.
Ich saß am überdachten Rande, außerhalb der kleinen Arena, in der man nur zu zweit Platz fand, mit eingezogenem Kopf und halbgeschlossenen Augen, aus Angst, etwas von dem Sand abzubekommen, der bis über die Barriere hinausspritzte. Zaghaft wagte ich es, mein weißes Fähnchen zu entrollen, indem ich meinte, sie sollten doch sachlich und ruhig bleiben und aufhören, zu drohen. Sie möchten doch bitte zu einer Einigung kommen und Frieden schließen, oder ob sie es wünschten, dass ich einen neuen Eimer reinhole, denn der, aus dem sie sich bisher so erfolgreich mit Kot beworfen hätten, sei nun leer.
Aber so schnell war Jochen nicht zu beruhigen: Mit Thomas könne man sowieso nicht reden, denn der würde ja nicht einmal zuhören.
„Wozu bin ich denn hergekommen, wenn nicht zum Reden? Zum Nachrichten kucken vielleicht?“, widersprach dieser.
Nach und nach erlahmten ihnen Brust und Keulen, die Flügel schleppten am Boden und die Sporen waren bis auf winzige Stummel abgewetzt. Jochen räumte den Tisch ab und machte sich mit erleichterter Seele wieder ans Plätten. Die eingetretene Stille wurde jäh durch einen Klingelstoß in Fetzen gerissen. Raymond erstürmte das Zimmer und beschwerte sich bei Thomas darüber, dass er ihn habe suchen müssen, denn der hatte Raymonds Wohnungsschlüssel in der Tasche. Heute käme er zwar auch noch so rein, meinte er, aber morgen brauche er ihn schon, den Schlüssel.
Mit ihren Schlüsseln schienen es beide nicht leicht zu haben. Thomas hatte die Angewohnheit, als Erstes, wenn er kam, sein Schlüsselbund irgendwohin zu legen. Waren wir zu dritt unterwegs, dann musste ihn entweder Jochen oder ich einstecken. Der Schlüsselbund war ein Teil von Thomas, wenn auch nur ein sehr kleiner, und beide hatten wir ihn als solches gerne weggesteckt.
Jochen schwang noch immer das heiße Eisen. Thomas hatte sich leichtfüßig in die Küche geflüchtet und zwei Schwarzbrotscheiben abgesäbelt, die er jetzt trocken in sich hineinkaute. Er hoffte, damit für die nächste Runde wieder zu Kräften zu kommen. Raymond und ich saßen friedlich auf der Couch. Zuvor hatte ich eine von Rolands Platten aufgelegt, deren heißer Sound Raymond veranlasste, seinen Pullover auszuziehen. Daraufhin zitierte ich, ansonsten wenig bibelfest: „… und führe mich nicht in Versuchung.“ Obwohl alle in keinster Weise kirchlich angehaucht sind, war in uns gleichermaßen das wissenschaftliche Interesse erwacht, der Frage nachzugehen, worin die Aussagen der sogenannten christlichen Zehn Gebote der Moral und Ethik bestünden. Eifrig begannen wir in der einschlägigen Fachliteratur, die durch irgendeine Oma Jochens auf uns gekommen war, zu graben, wo wir erst nach einigem Aufwand fündig wurden. Bibelforschung hatten wir uns einfacher vorgestellt. Ich war von dem Ergebnis enttäuscht, denn ich hatte die Texte irgendwie anders in Erinnerung.
Unsere beiden Gäste besahen sich noch zwei Bilderbücher über die fernen USA, worüber unmerklich die Zeit verging. Um halb neun hatte Thomas das erste Mal gehen wollen, jetzt war es eine Stunde später. Nun sei es aber wirklich Zeit für ihn, sagte er. Als sich Thomas angezogen hatte, kam er noch einmal zu mir ins Zimmer, Raymond stand bei Jochen im Korridor. Er verabschiedete sich mit den Worten: „Man sieht sich noch.“ Hätte er nicht anschließend mit den Lippen eine tonlose Elf geformt, so kam es mir jedenfalls vor, hätte ich auf diese Redewendung gar nichts gegeben, so aber nickte ich zum Zeichen meines Einverständnisses freudig mit dem Kopf.
Ich hielt mich noch eine ganze Weile bei Jochen auf, ich wollte erst gehen, wenn er im Bett liegen würde. Thomas machte sich draußen unter dem Fenster bemerkbar, wo er Jochen nichts Besseres zu fragen hatte als: „Ist Friedel noch da?“ Jochen winkte mich ans Fenster und ging, sein Bett zu bauen. Als Thomas dann weg war, gerieten wir beide noch einmal aneinander, weil Jochen mich dauernd bedrängte, ich solle endlich sagen, was Thomas noch von mir gewollt habe.
„Er hat doch laut genug gesprochen! Und wenn du nicht hören kannst, dann geh endlich zum Ohrenarzt.“
„Da bin ich schon hundertmal gewesen“, fuhr er mich an.
„Dann geh zu einem anderen.“
Jochen war wieder ganz Misstrauen. Ob nur wegen Thomas‘ Frage eben am Fenster oder weil er vorhin etwas mitbekommen hatte? Diesbezüglich machte er eine Anspielung. Wie weit er gehen müsse, fragte er. Er machte mir Angst.
„Du schläfst die Nacht nicht hier?“, fragte er weiter.
Ich sah schon voraus, dass er mitkommen oder zumindest nachkommen werde. „Nein, warum sollte ich!“, antwortete ich mit unschuldiger Miene.
„Na dann, viel Spaß noch“, wünschte Jochen mir, als ich ging.
Auf der Uhr am Zeitungskiosk war es zehn vor halb elf.
Noch zu lesen verspürte ich keine Lust, ich hätte mich ohnehin nur schlecht konzentrieren können. Stattdessen zählte ich die Minuten. Sooft ich aufstand und zum Fenster ging, war es vergebens. Draußen war keine Menschenseele, nur die Nacht, die alles dicht umhüllte. Elf nach elf drehte ich mich enttäuscht auf die Seite und versuchte, einzuschlafen. Hatte ich mir alles nur eingebildet, war ich meinem Wunschtraum aufgesessen?


Sonntag, 16. Oktober 1988 - Dienstag, 18. Oktober 1988

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