Die Hoschköppe / 63. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 63. Kapitel

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Mittwoch, 19. Oktober 1988


Ich hatte mir gerade den ersten Schuh wieder angezogen, als Thomas und Raymond kamen, um das frische Vollkornbrot abzuholen, das ich Thomas aus Gehlsdorf mitzubringen gestern versprochen hatte.
„Warum kuckst du so komisch?“, fragte Thomas.
„Ich kuck doch nicht komisch!“
Ich kucke immer so, besonders auf Passbildern. Vielleicht hatte ich ihn alleine erwartet und das mochte meinen sonst sonnigen Blick regnerisch gemacht haben. Wegen des Brotes hatte ich die Fähre über die Warnow verpasst und war etwas spät dran. Es war kaum Zeit genug, die versoffenen Palmen zu befriedigen. Unterwegs zu Jochen steckte mir Thomas eine Mark in die Jackentasche, denn ich hatte keine Hand frei um sie entgegenzunehmen, und Thomas war es erst nach geraumer Weile aufgefallen, dass ich sein schweres Brot schleppte.
„Ist Joschi allein?“, fragte Thomas.
„Das weiß ich doch nicht! Aber wer soll schon bei ihm rumhängen? Sicher wird er allein sein. Nur ich werde nachher mit meiner Gegenwart die Luft versüßen.“
„Wenn er allein ist, dann soll Joschi ein Lichtzeichen geben, dann komme ich rüber.“
„Gut“, sagte ich etwas gereizt, „wenn ich dann wieder weg bin, kann er ja ein Zeichen geben.“
„Was soll denn das nun wieder?“, wunderte sich Raymond.
„So war das nicht gemeint“, sagte Thomas rasch, „ich dachte nur, sein Bruder ist vielleicht wieder da.“
„Wann muss der denn wieder aufsteigen?“, erkundigte sich Raymond anteilnehmend.
„Montag.“ Wir waren vor der Nummer Fünf angelangt. „Fallt auch nicht!“, rief ich den beiden zum Abschied hinterher.
Irgendwelcher Kummer hatte Jochen ganz tief in seine Couchecke gedrückt. Dennoch besaß er die Kraft, vor sich ein Buch zu halten und nebenbei Schubert zu hören. „Die machen mich fertig auf der Arbeit“, hauchte er mir entgegen, sodass ich ihn neben der Musik kaum verstehen konnte. „Ich weiß nicht“, sprach er weiter, „ob ich die Stelle als Abteilungsleiter wirklich annehmen soll. Ich kriege absolut keine Unterstützung. Von keiner Seite! Alle haben vorher groß rumgetönt und mir jede Hilfe zugesagt, aber dann bleibt man mit den Problemen doch allein. Montag gehe ich zu meinem Parteisekretär und bitte ihn, seine Zustimmung nicht zu geben. Ich schaffe es einfach nicht“, sagte Jochen verzweifelt. „Vielleicht läuft sich ja alles ein, so nach und nach. Gesagt haben sie jedenfalls zu mir, wenn ich es jetzt nicht mache, dann brauche ich später auch nicht anzukommen. Und außerdem habe ich das Fernstudium am Hals, wo jetzt am laufenden Meter die schwierigen Prüfungen kommen. Da sehe ich auch gar nicht mehr so richtig durch.“
Komisch, dachte ich, ich habe ihn schon lange nicht mehr etwas dafür tun sehen. In dieser Sache könne ich ihm auch nicht raten, meinte ich, das müsse er selbst entscheiden, ob er es schaffe oder nicht. Ich richtete ihm die Bestellung von Thomas aus und erinnerte ihn gleichzeitig daran, dass ich mit dem Trocknen von Rolands Fotos noch nicht fertig sei. „Hat Roland irgendwas gesagt wegen Thomas und Raymond?“, fragte ich.
„Nein“, antwortete Jochen.
Auf dem Weg hierher hatte Raymond mich gefragt, warum er in Rolands Gegenwart habe nicht weitersprechen dürfen, was es sei, das er nicht habe aussprechen sollen. Ich hatte ihm zu erklären versucht, dass bei Jochens Mutter zu Hause das Thema Homosexualität bisher unausgesprochen geblieben war. „Wir sind uns nicht im Klaren darüber, inwieweit Roland und Kati Bescheid wissen. Wir haben nie mit den beiden darüber gesprochen. Wir vermuten aber, dass sich alle drei ihren Teil dazu denken und mehr oder weniger Bescheid wissen.“
„So blöd oder naiv können die doch wohl nicht sein“, hatte Raymond daraufhin gesagt, „wenn Joschi seit Jahren immer ein und denselben Kerl mit nach Hause bringt.“
„Das stimmt, so blöd können sie eigentlich nicht sein, aber wir wissen es eben nicht“, beharrte ich.
„Soll ich jetzt schon das Zeichen geben?“, fragte Jochen plötzlich.
„Wir essen erst Abendbrot, danach dann.“
Gleich nach dem Essen verschwand ich wieder, um das Gröbste aufgeräumt zu haben, bevor sie nachkommen würden. Vor allem sollte das Bettzeug weggelegt sein. Da ich sowieso die meiste Zeit bei Jochen bin, war ich bequem geworden.
Draußen war es längst dunkel, denn die Dämmerung setzt jetzt schon sehr zeitig ein. Zum Abend hin war die Luft noch feuchter geworden. Am Tage hatte sie mitunter eine schmutzig graue Farbe angenommen und mir kam es oft so vor, als hätte sie dann die Schwere von Kanonenkugeln. Als ich durch die Siedlung ging, drang von hoch oben durch die Nebelschleier das ferne aber deutliche Geschnatter der ersten ziehenden Wildgänse, die tief unter sich die Lichter der Menschen als verschwommene Punkte in einem Wolkenmeer flimmern sahen. Das Geschnatter hielt sie da oben beieinander, aber wie fanden sie ihren Weg durch die Finsternis?
Als sie dann endlich kamen, Raymond war auch dabei, war ich längst bereit, sie zu empfangen. Ich musste nur noch im Bad die Fotoschalen auswaschen. Thomas kam zu mir und setzte zu einer Rede an. Er zog es aber vor, gleich wieder zu gehen und sie hinunterzuschlucken, weil Jochen ihm auf den Fersen war. Als ich zu den Dreien in die Stube kam, lag Thomas auf der Liege und blätterte in einem Stern, die beiden anderen saßen friedlich am Tisch. Ich war vorsorglich in den Keller gestiegen und hatte wieder zwei Flaschen Wein hochgeholt, wovon ich jedem ein Glas vor die Nase setzte. Der Wein in den Gläsern war mit einem Schuss Gin aufgewertet worden.
„Ich möchte nichts zu trinken“, sagte Thomas.
„Für den Fall, du überlegst es dir noch“, sagte ich und stellte ein Glas in seine Reichweite.
„Das habe ich mir schon überlegt.“
Ich setzte mich in den freien Sessel mit dem Rücken zu Thomas. Das Radio dudelte. Dann legte Raymond eine Kassette ein. Wir unterhielten uns freundschaftlich. Ohne Thomas. Der tat auf seiner Liege so, als gehörte er nicht zu uns. Gegen halb neun erhob er sich plötzlich und stellte sein noch immer volles Glas auf den Tisch, um in den Korridor zu gehen und sich anzuziehen, kam dann höflich zurück um sich mit den Worten: „Ich habe noch was zu tun“, zu verabschieden und ohne größere Umstände zu verduften. Die Zurückgebliebenen sahen sich fragend an.
„Habt ihr ihn wieder geärgert?“, forschte ich.
Nein, ihm habe niemand etwas getan. Beide erzählten, dass Thomas es gewesen war, der Raymond dazu überredet hatte, mit hierher zu kommen, denn Raymond hätte viel lieber Denver in Farbe gesehen. Als dann Raymond nachgegeben und zugestimmt hatte, da habe Thomas schlagartig und unerwartet nicht mehr gewollt. Den verstehe einer!
Es scheint mächtig zu arbeiten in Thomas‘ heißem Busen. Mindestens zwei Welten ringen miteinander um die Vorherrschaft. Ob er mehr leidet als ich?
„Jetzt bekomme ich Hunger“, meldete sich Raymond zu Wort, der schon die ganze Zeit mit aufgeknöpfter Hose da gesessen hatte, weil er angeblich fünfzehn Schnitten zum Abendbrot vertilgt hatte.
„Da hast du bei mir kein Glück“, musste ich ihn enttäuschen.
Raymond zeigte sich über die einseitige Verwendung meines Kühlschranks ausgezeichnet informiert, auch über dessen akute Leere. „Wenn du ihn wieder aufgefüllt hast, dann sagst du mir Bescheid und wir machen heimlich einen drauf“, sagte er recht zutraulich, sodass Jochen die Ohren spitzte und die Stirn kräuselte.
„Da kann ich aber leicht hemmungslos werden“, warnte ich ihn. Raymond schmunzelte.
Kurz, nachdem im Fernseher das schwarz-weiße Denver zu intrigieren begonnen hatte, verzog sich Jochen. Ohne Angst. Als dann in Denver die letzten Hiebe dieser Folge ausgeteilt waren, ging auch Raymond, der mir immer besser gefällt.


Dienstag, 18. Oktober 1988 - Donnerstag, 20. Oktober 1988

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