Die Hoschköppe / 96. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 96. Kapitel

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Dienstag, 20. Dezember 1988


Es war am gestrigen Abend, so gegen halb sechs, als es bei mir zu Hause klingelte. Ich saß mit Schere und Kleister bewaffnet über den Collagen. Es war komisch, aber ich wusste sofort, wer vor der Tür steht. Nicht, dass ich es am Klang herausgehört oder mir ein heimlicher Luftzug seine Witterung zugefächelt hätte: Ich wusste es ganz einfach. Und dieses Wissen, das nichts mit meinem für den Alltag tauglichen Verstand zu tun hatte, sorgte dafür, dass mein Herz ganz spontan Purzelbäume schlug. Dieser Verstand hatte sich ja inzwischen halbwegs mit dem Scheitern unserer Liebe abgefunden, aber andere Teile meines Körpers wollten ihn einfach nicht aufgeben und vergessen. Ich arbeitete mich durch eine Unmenge bunter Schnipsel aus westlichen Zeitschriften bis zur Tür vor und ließ ihn ein. Dieses Durcheinander, welches den Besucher erwartete, schien dem etwas ganz Bekanntes zu sein und nicht weiter zu stören. Auch das Bett war wieder nicht gemacht. Er hockte sich neben den Campingtisch, den ich vor dem Fernseher aufgebaut und mit ausreichender Beleuchtung versehen hatte und auf dem sich ein vielfarbiges, aus einer Unzahl von Einzelteilen bestehendes Bild zusammenzusetzen begann. Ich setzte mich auf den Stuhl davor und tat so, als wolle und könne ich daran weiterarbeiten. Mir fehlte aber nun die nötige Ruhe und Konzentration dazu.
„Möchtest du was trinken?“, fragte ich ihn.
„Nicht unbedingt.“
„Ich habe aber Durst und für mich allein möchte ich nichts holen.“ Während ich zum Kühlschrank ging, fragte ich ihn: „Ist dir aufgefallen, dass das Treppenhaus neu tapeziert ist? Nach elf Jahren das erste Mal!“
Wir tranken dann einen kräftigen Zug.
„Was ist das? Das schmeckt gut!“
„Das hast du nun schon hundertmal getrunken!“, wunderte ich mich.
„Ich komme von Joschi, habe ihn aber nicht angetroffen. Ich wollte ihm nämlich die Maschine, die ihr ja so nötig braucht, zurückbringen.“
„Das stimmt, er kommt später. Er hat noch Versammlung“, bestätigte ich Jochens Abwesenheit.
„Verdammt, das hätte er mir doch gestern schon sagen können!“
Sicher hätte Jochen das tun können. Dann fachsimpelten wir über die Collagen und zogen uns um achtzehn Uhr fünfzehn an. Nachdem ich vorher noch rasch den Mülleimer runter gebracht hatte, gingen wir los.
Unterwegs sagte ich zu ihm: „Ich freue mich sehr, dass du den Weg zu mir noch nicht vergessen hast. Wirklich! Ich laufe zwar immer vor dir davon, aber freue mich jedes Mal, wenn ich dich sehe.“
„Das verstehe ich nicht. Darin liegt doch ein Widerspruch.“
„Na sicher liegt da ein Widerspruch drin. Andererseits auch wieder nicht! Lass dir das mal durch den Kopf gehen, vielleicht kommst du drauf, was ich meine.“
Bis zur kleinen Kaufhalle, in die ich wegen eines halben Brotes rein ging, quälte Thomas mich mit der Forderung, ich solle ihm schon endlich sagen, was ich damit gemeint hätte. Ich denke, er weiß ganz genau, was ich gemeint habe. Vielleicht wollte er es nur aus meinem Munde hören. Thomas ging allein weiter zu Jochen. In der Kaufhalle stieß ich mit einem Straßenbahnfahrer zusammen, der mit seinem Freund einkaufte. Ich fragte ihn, ob sie sich verlaufen hätten, denn sie wohnen in einem anderen Stadtteil.
Jochen hatte schon den Tisch gedeckt. Für drei! Wie lange war es her, dass wir drei das letzte Mal gemeinsam Abendbrot gegessen hatten? Jochen stand noch in der Küche, da flüsterte ich Thomas ins Ohr: „Hast du ihm gesagt, dass du bei mir warst?“ Ich wollte lediglich in Erfahrung bringen, wie ich mich zu verhalten habe. Daraufhin krakeelte Thomas so laut los, dass man es hätte draußen auf der Straße hören können, was alles er Jochen erzählt hatte. Mir war es eigentlich scheißegal, ob er es erzählt hatte oder nicht, ich wollte es nur wissen und das hätte Thomas mir durch ein einfaches Kopfnicken andeuten können. Machte er das absichtlich oder ist er tatsächlich so blöd? Dann kam er auch noch vollkommen überflüssigerweise auf das Thema von unterwegs zu sprechen und begehrte erneut zu wissen, was ich vorhin gemeint hätte. Jochen fühlte sich natürlich gleich wieder veranlasst, misstrauisch zu werden. Wäre ich auch geworden. Das drückte auf die Stimmung, den ganzen Abend über.
Thomas ging um acht, ich um viertel zehn.
Mir fällt gerade ein, dass wir Thomas am Sonntag Babsis Theaterkarte für die Aufführung von Cabaret am 26. Januar angeboten hatten. Er werde mitkommen, versprach uns Thomas.
Heute war mein letzter Arbeitstag in diesem Jahr. Bis Jahresende werde ich Urlaub haben. Ob ich ihn verdientermaßen werde genießen können, sei dahingestellt. Aber allein schon die Nähe meiner tonnenschweren Chefin auf Arbeit ertragen zu müssen, berechtigt mich halbwegs, kein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Die Jahresabschlussfeier meiner Gewerkschaftsgruppe war heute die letzte Aktion. Große Lust hatte ich nicht und die Stimmung war auch nicht besonders. Nur weil ich fürchtete, Thomas werde mich und Jochen mit seiner holden Anwesenheit beglücken, war ich überhaupt zur Feier da geblieben. Und dann, als ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen in ungemütlicher Atmosphäre vor meinem Wein saß, hatte ich keine Ruhe bei dem Gedanken, dass Thomas vielleicht tatsächlich gekommen und jetzt mit Jochen allein war. Ich hielt es nicht mehr aus und verließ die Feier früher als alle anderen. Als ich dann endlich gegen acht nach Hause kam, saßen wirklich beide vor dem Fernseher. Im Bad arbeitete die Waschmaschine.
Thomas blieb ziemlich lange, es war schon zehn vor zehn, als er ging.


Montag, 19. Dezember 1988 - Mittwoch, 21. Dezember 1988

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