Die Hoschköppe / 95. Kapitel - Abstrakte Irrwege

Direkt zum Seiteninhalt

Die Hoschköppe / 95. Kapitel

Texte > Die Hoschköppe

Montag, 19. Dezember 1988


Es gibt Tage in unserem Leben, die nur sachte dahinplätschern, an denen einfach nichts passierte. Jedenfalls nichts, was sich später zu erwähnen lohnen würde. Alles an diesen Tagen war schon einmal da gewesen, irgendwie jedenfalls.
Am Freitag bemühten wir uns wieder in die Sauna nach Warnemünde, wo wir uns im Kassenvorraum neben dem Gummibaum an die kalte Klinkerwand lehnten und warteten. Ich staunte nicht schlecht, dass der Oberschüler seinen Sitzplatz aufgab und sich zu uns an die Wand stellte. Nach der Sauna fuhren wir wieder zusammen und im selben Bus nach Hause. Er versprach, sich am nächsten Freitag drei Wartemarken geben zu lassen. Seine ganze Art machte ihn mir immer sympathischer. Vielleicht kann der mich ein wenig von Thomas ablenken. Wie er heißt, haben wir noch nicht herausbekommen. Er spricht uns, zumindest mich, immer noch mit „Sie“ an.
Der kleine Onkel, den wir in letzter Zeit wieder häufiger in der Sauna gesehen haben, war auch da und sorgte für allerhand Aufregung. Ich weiß nicht, ob ich ihn schon einmal erwähnt habe. Wir bewundern ihn jedenfalls schon seit mehreren Jahren. Nicht weil er so attraktiv ist, nein, sondern weil er immer knackige Jungs im Schlepptau mit sich führt und so tut, als seien die alle seine Neffen. Wenn wir eine Hochsprunglatte bei einem Meter sechzig anlegen, dann kann er selbst in Stöckelschuhen bequem darunter durchlaufen, ohne sich zu bücken: darum „kleiner Onkel“! Anfangs kam er immer nur in Begleitung eines „Neffen“, den er dann gegen zwei Neue austauschte und diesmal hatte er sogar drei Jungs dabei. Zwei davon waren in seiner Größe. Das heißt, ihre Körperhöhe entsprach genau der seinen, im Bauchumfang konnten sie natürlich noch nicht mit ihm mithalten. Der Dritte überragte ihn zweimal um Haupteslänge. Als ich mich in der Schwimmhalle mit dem einen der beiden kleineren unterhielt, wir hatten uns schon vor Wochen angefreundet, gesellte sich ein blonder Hübschling zu uns. Er mochte schon ein paar Jahre älter als der Kleine sein, war auch in der Sauna und hatte auffallend um die Gunst der drei Anhängsel des kleinen Onkels gebalzt. Schon in der Sauna war er der gesamten gläubigen Gemeinde seiner tadellosen Figur und des famosen Schwanzes wegen aufgefallen, was er sichtlich und mit großer Genugtuung genoss. Zuerst hatte er mit den Dreien im Wasser Ball gespielt, was ich unter den immer wachsamen Augen des misstrauischen Personals nicht hätte tun wollen. Nun mischte er sich hemmungslos in unsere Unterhaltung ein, was mir etwas ungelegen kam, da ich gerade das Geheimnis um das Verhältnis der Jungs zum kleinen Onkel lüften wollte. Ich fühlte mich durch ihn an den Rand gedrängt. Schon in der Sauna, wenn ich mit dem Kleinen, der recht redselig ist, auf einer der drei Stufen nebeneinandersaß, war er ungebeten hinzugekommen. Was mir andererseits durchaus entgegenkam, brauchte ich mich so nicht extra nach dessen langem Prügel umzusehen. Der Zufall wollte es, dass ich und der Blonde zum Schluss gleichzeitig duschten. Der balzende Jüngling, der all seine bunten Schwanzfedern gespreizt hatte, von denen das Wasser golden abperlte, nutzte die Gelegenheit, mich gründlich nach den anderen drei Jungs auszufragen. Wenn er was erleben will, das kann er haben, dachte ich und fragte ihn, wo er wohne und ob er jetzt was vorhabe. Er wohne beim Hauptbahnhof, antwortete er bereitwillig, und jetzt hätte er nichts weiter vor. Ich wagte zu fragen, ob er nicht Lust habe, mit zu mir zu kommen. Warum nicht, meinte er daraufhin und ging sich abtrocknen. Ich konnte mein Glück gar nicht fassen und berichtete es sofort Jochen, der schon beim Anziehen war. Kurz bevor wir raus gingen, kam der Blonde zu mir und meinte, er könne doch nicht mitkommen, denn ihm sei gerade eingefallen, dass er zur Beerdigung seines Opas müsse. Beerdigung! … Und um diese Zeit noch?, dachte ich. Da muss einer erst mal drauf kommen! Ich war inzwischen schon so heiß geworden wie die Feldsteine auf dem Saunaofen und hatte nun einen Guss Eiswasser ins Genick bekommen, dass es zischte wie in einer Drachenhöhle. Ich bot ihm vorsichtshalber meine Adresse mit dem Hinweis an, er könne sich ja mal sehen lassen, wenn er wolle. Der Gockel nahm das Kärtchen zwar entgegen, wollte aber keine Zusage machen. Wir würden uns auf alle Fälle hier wieder sehen, versicherte er zumindest. Damit war für mich dieses Abenteuer beendet, bevor es begonnen hatte. Glaubte ich!
Entgegen der mit dem Theater getroffenen Vereinbarung mussten wir im Weihnachtsmonat eine Sonnabendaufführung ansehen. Und nicht genug damit. Der angekündigte Ballettabend fiel wegen der Erkrankung einer Solistin aus. Kellermann, der eigentlich im Schauspiel zu Hause ist, empfahl uns statt der choreografierten Grashüpfer eine Wiener Operette. Und er selber werde auch mitmachen, warnte er die wenigen Anwesenden. Besonders an diesem Abend wurde es allen Besuchern deutlich sichtbar, nur mir war es schon seit Längerem bewusst gewesen, dass am ganzen Theater auch nicht ein einziger Sänger von herausragender Größe engagiert ist, denn Kellermann überragte sie alle. Jedenfalls an diesem Abend. Und das ganz ohne Spezialschuhe, die in diesem Hause sehr beliebt sind und zu den gefragtesten Fundusstücken zählen. Als die Lüders auf der Bühne erschien, lebte Babsi, die sich links neben mich gesetzt hatte, weil es ihr in ihrer Reihe alleine gegruselt hatte, richtig auf und flüsterte mir ins Ohr: „Das ist mein Liebling!“
Soso, dachte ich.
„Die wäre so der Typ, in die ich mich verlieben könnte. … Wenn ich ein Mann wäre!“, flüsterte sie.
„Dazu brauchst du doch nicht unbedingt ein Mann zu sein. Ich dachte immer, du hättest keine Vorurteile“, flüsterte ich.
„Vorurteile habe ich auch nicht, aber so wüsste ich nicht, was ich mit ihr anfangen sollte.“
Und ich hatte schon gedacht …
Kellermann war zwar der Größte an diesem Abend, voll drauf war er aber keineswegs.
Ich hatte Thomas an seinem Fenster gesehen. Es war kurz vor dem Sonntagmittag und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er noch rüberkommen würde. Ich beeilte mich, um gleich nach dem Essen wegkommen zu können. Aber kurz nach halb eins klingelte es schon. Es war Kati. Obwohl es nun reichlich blöd aussah, ging ich trotzdem nach Hause und begann dort mit den drei Collagen, für die ich von Dieter N. das Material erhalten hatte. Als ich dann zum Tee zurückging, hatte sich inzwischen tatsächlich Thomas eingestellt. Kati war aber auch noch da. Es fiel mir schwer, mir nichts anmerken zu lassen, aber ich freute sich riesig, ihn zu sehen. Kati ging dann um halb sechs.
Eifersüchtig ärgerte ich mich über Jochens gute Laune und fragte ihn: „Hat Thomas die Maschine zurückgebracht?“
„Nein, das hat er nicht“, antwortete Jochen gelassen.
„Hast du ihm wenigstens deswegen die Hölle heißgemacht?“
„Nein, habe ich nicht.“
„Dann verstehe ich nicht, warum du die ganzen drei Wochen rumgemeckert hast.“ Und als ich sah, dass sich Thomas Platten mitnehmen wollte, konnte ich mir nicht verkneifen, noch einen draufzusetzen: „Ich dachte, du willst ihm nie wieder was mitgeben!“
Nun hielten es die beiden für angebracht, sich zu verteidigen. Thomas meinte: „Du hast wohl kein Vertrauen mehr zu mir?“, und Jochen verkündete stolz: „Thomas war zwei Wochen bettlägerig!“
„So, bettlägerig war er also die letzten zwei Wochen?“, sagte ich mit so viel Ironie und Zweifel in der Stimme wie möglich und sah Thomas dabei in die Augen, die wie ertappt um sich schauten und vor lauter Verlegenheit zu rollen begannen. Mir war ein Fehler unterlaufen, denn ich fürchtete nun, Recht mit meinem Zweifel zu haben.
Als Thomas fort war, fragte Jochen, ob ich ihn denn in den zwei Wochen gesehen hätte. Das hatte ich natürlich nicht.
Jochen ist inkonsequent. Finde ich. Lässt sich Thomas eine Weile nicht sehen, dann nörgelt er die ganze Zeit an ihm herum. Mehrmals hatte ich zu ihm gesagt, dass es sinnlos sei zu schimpfen, solange wir nicht die Gründe kennen. Ich soll kein Vertrauen haben? War das Thomas‘ Anspielung auf meinen Brief?


Donnerstag, 15. Dezember 1988 - Dienstag, 20. Dezember 1988

zurück zur Kapitelübersicht

Zurück zum Seiteninhalt