Die Hoschköppe / 94. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 94. Kapitel

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Donnerstag, 15. Dezember 1988


Die kleine Sonne scheint durch die glatzköpfigen Bäume hindurch bis auf meinen Schreibtisch im Büro. Am Himmel, der die Farbe einer verwaschenen Jeans angenommen hat, flattert hin und wieder eine Krähe oder eine Möwe. Die Luft vor dem Haus ist glasklar und rein. Von der gegenüberliegenden Neptunwerft dröhnt ein gewisses Rumoren herüber, ganz leise nur, nicht störend. Noch immer ziehen aufgeblähte bunte Vorsegel mit jungen Sportlern besetzte Boote den Strom hinauf. Trotz der Kälte! Die Jungs sollten lieber zu mir kommen, sich aufwärmen. Es ist inzwischen Donnerstag geworden.
Gestern hatte mich Jochens Mutter angerufen, um zu fragen, ob ich schon Apfelsinen für sie bekommen habe. Hatte ich natürlich noch nicht. Nüsse würde sie auch nehmen, wenn es welche gebe. Gut, hatte ich gemeint. Zufällig brauchte eine Kollegin nach diesem Gespräch die frohe Kunde mit, dass es im Konsum Apfelsinen gebe. Schon Eingetütete. Da die gewaltige Chefin im Hause war, musste ich sie anstandshalber um Erlaubnis bitten, die sie mir großzügig und unter der Bedingung gab, dass ich ihr ein Pfund Haselnüsse mitbringe. Wenn irgendwo welche rum lägen, wollte ich das gerne tun, versprach ich. Ich ging frohen Mutes los. Alle anderen Frauen der Abteilung mir nach. Im Konsum gelang es mir gerade noch, die letzte Tüte Apfelsinen zu ergattern. Mein nächster Weg führte mich in den Obst- und Gemüseladen. Von dort her kam gerade unser Hausmeister mit einem Tannenbaum und berichtete mir von Apfelsinen, die es dort im Laden gebe. Das sei ja sehr schön, sagte ich und beschleunigte meine Schritte, denn die gierigen Frauen folgten mir auf dem Fuße. Im Obst- und Gemüseladen gaben sie zwei Kilo pro Person ab. Pro anstehende Person! Walnüsse gab es auch, wovon ich eine mittelgroße Tüte nahm. Von Haselnüssen war nirgends etwas zu sehen. Anschließend rief ich Jochens Mutter an und teilte ihr das freudige Ereignis mit und das ich gleich von der Arbeit aus zu ihr käme, um abzuladen. Jochen bat ich dagegen um Entschuldigung, dass ich etwas später kommen würde.
Jochens Mutter hatte schon den Kaffeetisch gedeckt und holte sofort den fertigen Kaffee in die Stube. Eine Stunde lang klönten wir über Roland, der laut Zeitung in Pemba (Mozambique) sein soll, und Kati, die Freitag kommen wolle und übers Einkaufen. Mit dem Stadtbus fuhr ich dann bis zur zweiten Haltestelle in Lichtenhagen und ging erst in den Fischladen, aber nicht wegen Apfelsinen, sondern weil der auf dem Weg zum Buchladen lag. Käuflich erwarb ich zwei geräucherte Makrelen, die was ganz Gutes sein sollten, wie mir die Fischfrau versicherte. Sie würden sich wie Schinken essen lassen, weil sie kalt geräuchert seien und sich demzufolge auch sehr viel länger hielten. Ich war für gutes Zureden immer ein fruchtbares Feld und nahm ihr auch noch etwas Gepfeffertes fürs Abendbrot ab. Dafür verzichtete ich darauf, in der Buchhandlung Geld zu lassen. Das sich darin Umsehen hatte mir gereicht.
Hektisch wickelte Jochen das Päckchen Zeitungspapier auseinander, das ich neben der Abwäsche abgelegt hatte, denn er kann keine eingewickelten Sachen liegen sehen. „Hast du mir was Schönes mitgebracht?“, fragte er dabei. Der freiwerdende Geruch ließ ihn erst stutzig werden und dann zurückschrecken. Enttäuscht brachte er den Fisch zum Vorschein, mit dem ich ihm, wie ich wusste, keine Freude machen konnte, denn jegliches Getier, das aus dem Wasser kommt, gehört zu den vielen Weltwundern, die Jochen aus tiefsten Herzen verabscheut. Aber auch mir sollte keine Freude daran vergönnt sein. Laut und mit Befriedigung las Jochen mir, nachdem ich ihn von all den Vorzügen kalt geräucherter Makrelen zu überzeugen versucht hatte, das auf der durchsichtigen Verpackungsfolie klebende Etikett vor, auf dem klein gedruckt stand: zu verbrauchen bis 12.12.88!
Im Verlauf des gestrigen Abends fand sich Jochen wieder und wieder vor dem Fenster ein und sah hinaus. Unvermittelt fragte er dann, ob er wohl Thomas einen Brief schreiben solle, denn langsam wolle er die Maschine wiederhaben. Ich riet ihm davon ab. Früher oder später würde Thomas sie sicher zurückbringen und ein weiteres Mal brauche er sie ihm ja nicht zu geben, meinte ich. Ich trat immer dann ans Fenster, wenn Jochen nicht im Zimmer war, sah zu Thomas‘ Fenster hinüber, auch ohne irgendeine Maschine als Vorwand zu benutzen.
Ich sitze noch immer reglos an meinem Gehlsdorfer Schreibtisch und bin damit beschäftigt, den auf der Warnow vorbei gleitenden Booten zuzusehen und auf den Feierabend zu warten. Dann werde ich die zweihundert Mark zur Sparkasse tragen und auf das Konto 444 (Kaukasus) einzahlen, die wir in der Gewerkschaftsgruppe für die Erdbebenopfer gesammelt haben. Eine Kollegin sagte, das Beileidstelegramm, das Staatserich geschickt habe, sei sehr blamabel gewesen.


Sonntag, 11. Dezember 1988, 3. Advent - Montag, 19. Dezember 1988

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