Die Hoschköppe / 67. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 67. Kapitel

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Dienstag, 25. Oktober 1988


Heute erschien er. Endlich! Und allein.
Es war circa zehn vor sieben, wir hatten erst spät zu essen begonnen und saßen deswegen noch am Abendbrottisch, als er klingelte. Jochen war dem Rufzeichen nur widerwillig gefolgt und hatte wie immer hinter sich die Stubentür geschlossen, denn es hätte ebenso gut jemand anderes sein können. Dass es aber nur Thomas sein konnte, hatte ich der Klingel und meinem Herzschlag, der dem Herzschlag der Klingel sehr ähnelte, sofort angehört. Endlos erscheinende Minuten verstrichen, in denen ich erwartungsvoll zur Tür blickte, ohne dass sich etwas tat. Im Korridor war es beängstigend still und die Stubentür geschlossen geblieben. Ich befürchtete, Thomas werde wieder gehen, ohne vorher auch nur den kleinsten Blick zu mir ins Zimmer geworfen zu haben.
Es ist schon merkwürdig, dachte ich, vorhin hatte ich ihn draußen gesehen und nun ist er hier. Das heißt, ich hatte nur im ersten Moment geglaubt, ihn zu sehen. Was mir aber da drüben am Zeitungskiosk schreiend und mit einem großen Satz in die Augen gesprungen war, als ich aus der Kaufhalle kam, war lediglich eine auffällig karierte Hose, ähnlich der, die Thomas mit so viel Vorliebe trägt. Allein der winzige Bruchteil einer Sekunde, in der ich geglaubt hatte, meinen Thomas zu erblicken, hatte genügt, mit einem Schlage meinen Puls in schwindelerregende Höhen steigen zu lassen. Der frische Luftzug, der kühlend über meine Wangen strich, tat mir sichtlich wohl, als ich erkannte, dass in der karierten Hose lediglich ein unbekanntes Mädchen steckte, das ahnungslos seiner Wege ging.
Aufgeregt und völlig konfus begann ich den Tisch abzudecken, obwohl Jochen noch gar nicht seine Schnitten für die Arbeit fertig hatte. Plötzlich klopfte es heftig an die Tür. Da ich das Gepolter für einen Gag hielt, reagierte ich nicht sogleich, öffnete dann doch die Tür mit dem Ellenbogen, weil ich die Hände voller Schaum hatte. Thomas trat auf mich zu, begrüßte mich gut gelaunt und pflanzte sich anschließend in die linke Couchecke, von wo er rief: „Sagt mal, ihr Hoschköppe, auf meine Lichtzeichen hört ihr wohl nicht mehr! Ich hatte vorhin Lichtzeichen gegeben.“
„Wann? Also ich habe tatsächlich nichts gehört“, bat ich für uns um Entschuldigung.
„Der nu wieder! Das war wohl nix. Aber im Ernst, ich habe vorhin Lichtzeichen gegeben“, wiederholte Thomas.
„Ich habe geplättet, ich habe nichts gesehen“, beteuerte Jochen, als sei es selbstverständlich, dass man dabei Scheuklappen trägt.
„Das habe ich gesehen. Du standst am Fenster und hast gebügelt“, bestätigte Thomas.
„Da war ich noch gar nicht hier“, sagte ich. Thomas sollte wissen, dass ich solange zu Hause war.
Thomas begann, von einer neuerlichen Klassenfahrt zu erzählen, die am Wochenende und diesmal nach Neukloster führen soll. Am Freitag solle es bereits losgehen. Dann fragte er, wie es seiner Kassette gehe. Ich musste bekennen, dass sie noch immer bei mir zu Hause in der gewaltigen Musikmaschine stecke. Dass ich sie mir jeden Tag angehört hatte, wollte ich Jochen zuliebe nicht auch noch gestehen.
Thomas hatte sich für seinen Besuch mit einem Pullover geschmückt, dessen ganzer Knalleffekt in den relativ breiten roten, weißen und blauen Streifen steckte, die sich horizontal um seinen Torso ringelten und seinen Gastgebern reichlich Anlass gaben, in ungeschönter Weise darüber herzuziehen. Und nur um von diesen aufregenden Streifen abzulenken, gab er zu, jetzt einen Vogel zu haben. Wer hätte denn keinen, meinten Jochen und ich übereinstimmend. So gesehen, er deutete ein verschmitztes Lächeln an, habe er eben zwei, verbesserte sich Thomas und erzählte, dass sich sein Bruder voller Begeisterung einen zwar sehr zutraulichen aber in überaus hässlichen Farben gefiederten Kanarienvogel angeschafft hätte und es nun ihm überlassen habe, für die weitere Versorgung dieses gefräßigen Tieres Sorge zu tragen.
Es war erst kurz nach acht, als Thomas mehr sich selbst fragte: „Was hält mich hier eigentlich?“ Er saß nun schon über eine Stunde lang in voller Montur bei uns, er hatte sich lediglich die gelben Schuhe im Korridor ausgezogen, und so den unzweifelhaften Eindruck entstehen lassen, als müsse er sofort wieder los.
„Die Brause!“, antwortete Jochen wie selbstverständlich und als habe er ihm bereits eine angeboten. Seine Gastfreundschaft war immer herzlich, aber nicht von materieller Art. Jochen stand auf und holte ihm ein Glas Limo. Immer wieder wurde zwischen den zur Verfügung stehenden Fernsehsendern hin und her geschaltet, ohne etwas Gescheites zu finden. Auf unserem dunklen Weg durch die Kanäle gerieten wir plötzlich in Dingsda hinein, einer Sendung, die bekanntermaßen unter ihren Zuschauern viel Spaß verbreitete, zumal die Kinder gerade eine Glatze zu beschreiben hatten, was bei Thomas und Jochen natürlich auf großes Interesse stieß und einen für meine Begriffe übertriebenen Jubel auslöste. Warum die beiden dabei immer wieder meine hohe Stirn betrachteten, bleibt mir ein Rätsel. Die Sendung endete mit der nicht zu widerlegenden Erkenntnis: Das Besondere an einer Glatze ist eigentlich, dass man keine Haare mehr hat! Eben.
„Jetzt ist es genau eine Minute nach neun“, sagte Thomas, als er sich seine Schuhe anzog. Jochen hatte ihn in den Korridor begleitet. Dann kam Thomas zurück, um mir zum Abschied die Hand zu geben.
„Soll ich dir morgen wieder ein Brot mitbringen?“, fragte ich und behielt Thomas‘ Hand solange, wie möglich in der meinen.
Thomas nickte mit dem Kopf und meinte: „Ich lege hier gleich das Geld hin.“ Er hatte sich von mir losgemacht und einige Schritte Abstand zwischen uns gebracht.
„Das brauchst du nicht“, sagte ich.
Doch Thomas legte etwas Kleingeld auf die Anbauwand und gab mir noch einmal die Hand, wobei er mit seinen kleinen Fingern sehr kräftig zudrückte, so wie er es gerne tat. Ich, der mir sonst von ihm alles hätte gefallen lassen, musste des unerwarteten Schmerzes wegen unwillkürlich aufschreien und ihn auf diese Weise auf die gefährliche Verletzung hinweisen, die ich mir am Sonntag beim Umtopfen der Washingtonia am rechten Mittelfinger zugezogen hatte.
Beim Durchbrechen einer Tonscherbe hatte ich mir ein gutes Stück der Fingerkuppe abgesäbelt. Der rasiermesserscharfe Schnitt selber war zuerst unbemerkt geblieben, doch die Verwundung machte bald durch eine rasch größer werdende dunkelrot gefärbte Blase auf sich aufmerksam, die mich zügig ins Bad trieb, wollte ich nicht meinen schönen Teppich besudeln. Mein Rufen nach einem Sani war in den Weiten des Kampfplatzes ungehört verhallt. Krampfhaft starrte ich, vor dem Waschbecken stehend, auf meine Wunde und überlegte, was noch alles zu erledigen sei, bevor ganz sicher der Tod eintrete. Das kreidebleiche Gesicht im Spiegel, welches über und über mit erbsengroßen kalten Schweißperlen bedeckt war, schien mir fremd und schon tot zu sein. Den Blick nicht länger ertragend, als habe ich eine der lieblichen Gorgonen vor mir, setzte ich mich auf den heruntergeklappten Klodeckel und holte das allerletzte Mal in meinem auch so kurzen Leben mit der mir noch verbliebenen Kraft tief Luft. Nichts ist so schwer wie das Leben, dachte ich. Und darum wollte es mich auch noch nicht so schnell verlassen.
Es schmerzte zwar noch bei Thomas‘ hartem Griff, aber es war leider kaum noch etwas von dem Verlust, der sich rasch wie ein Eidechsenschwanz regeneriert hatte, zu sehen, welches als Beweis für den Vorfall dienlich gewesen wäre. Sonst bin ich eigentlich nicht so wehleidig, schon gar nicht, wenn es sich um den Schmerz anderer handelt.
Thomas zuckte bei dem unverhofften Aufschrei erschreckt zusammen und strich mir liebevoll mit der Hand über die stets fettige Platte, sozusagen als Wiedergutmachung für erlittenes Ungemach. Ich fühlte mich geheilt und gestärkt durch dieses lange vermisste Handauflegen.
„Na, hat er dich wieder getätschelt“, war Jochens boshafter Kommentar dazu, als wir wieder allein waren. „Mir hat der Schuft nicht mal die Hand gegeben, als er kam.“
„Hatte er mir auch nicht. Das eben war nur eine Anspielung auf die Sendung.“ Was durchaus im Bereich des Möglichen lag.
Auf der Anbauwand fanden wir zwei Groschen: Nicht der Vorschuss für das Brot sondern die Bezahlung der nicht getrunkenen Brause.


Montag, 24. Oktober 1988 - Mittwoch, 26. Oktober 1988

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