Die Hoschköppe / 68. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 68. Kapitel

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Mittwoch, 26. Oktober 1988


Weil ich Roland nicht übermäßig lange warten lassen wollte, war ich schon kurz nach siebzehn Uhr bei Jochen. Roland war noch nicht dort, und um es gleich vorneweg zu sagen, er kam auch den ganzen Abend über nicht.
Meinen Jochen traf ich wieder einmal in einem sehr desolaten Zustand an: Seine Nase war verstopft und die Augen standen ihm voller Wasser.
„Hat dich der Schnupfen?“, fragte ich ihn mitfühlend.
„Nein, das nicht.“ Es klang sehr weinerlich.
„Ist was passiert?“ Mein erster Gedanke war: Thomas!
Nein, auch passiert sei nichts. Für einen Moment musste ich es aufgeben, weiter in ihn zu dringen, denn unaufhaltsame Gründe nötigten mich zur Toilette. Als ich nach angemessener Zeit in die Stube zurückkam, hatte sich Jochens seelischer Zustand eher verschlechtert. Er erzählte aber jetzt, dass er bei seinem Parteisekretär gewesen sei und dem mitgeteilt habe, dass er den angebotenen Posten nicht übernehmen werde, wenn alles so weiterginge wie bisher. Der habe sich die Sache angehört und gemeint, dass es in solchen Fällen anfangs immer Schwierigkeiten gebe, die sich aber mit der Zeit legen würden. Unterstützung sei in jedem Falle gewährleistet und woher solle er jetzt so schnell einen Anderen für die Stelle nehmen. Den Hauptabteilungsleiter wolle er sich wenigstens vornehmen, denn so könne es wirklich nicht weitergehen. Jochen erzählte, dass jeder die Umstrukturierung des Kombinates in schamlosester Weise zur Durchsetzung der eigenen Ziele ausnutze, dass sich alle nur die Rosinen herauspicken und die Arbeitsaufgaben, die noch sein Vorgänger verteilt hatte, Jochen amtierte ja bereits als Abteilungsleiter, unerledigt liegen lassen oder sie ihm heimlich auf den Tisch zurückschieben. Er müsse nun sehen, wie er damit fertig werde. Er habe Arbeit für sechs Tage in der Woche am Halse, aber nur vier dafür zur Verfügung. Freitags hat er ja noch immer Konsultation. Er werde das nicht durchstehen. Dem Parteisekretär habe er auch erklärt, dass er lieber jetzt mit diesen Problemen zu ihm komme, wo er noch nicht bestätigt sei, als nachher, wenn alles zu spät sein könne.
Es klingelte. Diesmal ging ich öffnen, denn ich erwartete Roland zu unserem Saunabesuch. Es war aber Thomas, der schon im Korridor ganz aufgekratzt verkündete, dass er uns unbedingt etwas erzählen müsse. „Ich hab meine Mutter vom Sport abgeholt. Sie hat in Berlin angerufen …“ Er war ins Zimmer getreten und sah Jochen mit verweinten Augen ganz klein und verlassen auf der Couch sitzen. „Ich komme wohl ungelegen, da will ich lieber wieder gehen.“
„Das hat nichts mit Friedel zu tun oder mit dir“, sagte Jochen.
„Ist irgendetwas Schlimmes passiert?“, wollte nun auch Thomas wissen.
„Nein, nein, zieh dir die Schuhe aus und komm rein“, meinte ich.
Thomas hielt nun seine Neuigkeit nicht mehr für so wichtig. Er besaß also zumindest etwas Feingefühl. Jochen ging hinaus und überließ sich in der Abgeschiedenheit des Klos seinen Tränen. Ich deckte derweil den Tisch. Als er wieder reinkam, berichtete Thomas dann, dass seine Mutter für ihn in Berlin eine Lehrstelle als Drucker bekommen habe.
„In Berlin?“, fragte Jochen erschrocken. „Da wirst du vollends versumpfen.“ Diese Befürchtung musste ich allerdings mit ihm teilen. Ich dachte aber eher daran, dass Berlin sehr weit weg ist und einem Luftikus wie Thomas unendlich mehr Möglichkeiten bot sich auszutoben, was einem Aus all meiner eigenen Hoffnungen gleichkam. Jochen drückte Thomas dann eines der beiden Brote in die Hände, denn er musste wieder nach Hause.
„Morgen komme ich wieder“, versprach er.
„Das brauchst du nicht“, sagte Jochen (was soll das denn, dachte ich) und fügte erklärend hinzu: „Ich komme morgen erst nach halb acht. Wenn du willst, kannst du dann natürlich noch kommen … Du kannst doch auch nachher noch einmal wiederkommen.“
„Geht nicht. Ich muss noch einen Aufsatz schreiben. Wann soll ich das denn machen? Ich komme dann Sonntagnachmittag oder abends, aber spätestens Montag.“
Nachdem wir gegessen hatten, legte sich Jochen für eine Weile auf die Liege. „Was soll ich machen?“, fragte er wieder.
„Wenn du es nicht durchstehst, dann tu es nicht. Du sollst zu Hause nicht wegen der bescheuerten Arbeit heulen müssen.“
„Um drei in der Nacht bin ich aufgewacht und konnte nicht wieder einschlafen. Immer, wenn Vollmond ist, kann ich nicht richtig schlafen“, beschwerte er sich.
„Kannst du immer dann nicht schlafen, wenn dir auffällt, dass Vollmond ist?“, fragte ich. Darauf antwortete er nicht, verstanden hatte er aber.
Bei Thomas brannte noch kein Licht im Zimmer, als wir zehn vor sieben in die Josef-Schares-Straße gingen. Wo mochte er wohl seinen Aufsatz schreiben? Jochen legte sich auf meine Liege und schlief bis halb neun, während ich den Hagebuttenansatz durchseihte. Es war noch immer Vollmond!
„Es wird wohl nicht am Mond liegen, wenn du nicht schlafen kannst“, sagte ich zu ihm, als Jochen wieder munter wurde, „sondern an deiner beschissenen Arbeit.“
Dann zog sich Jochen an und ließ mich allein, um sein eigenes Bett zu belegen.


Dienstag, 25. Oktober 1988 - Donnerstag, 27. Oktober 1988

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