Die Hoschköppe / 27. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 27. Kapitel

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Dienstag, 6. September 1988


Ich glaube, das Feuer ist aus! Dieser Gedanke wandert wie ein Tausendfüßler durch mein Gehirn. Jeder einzelne Schritt dieses Lindwurms bereitet mir apokalyptische Schmerzen. In den wenigen Momenten, in denen er zum Stillstand kommt, um zu verpusten und dann erneut und gestärkt weiter zu trampeln, tröste ich mich mit der vagen Hoffnung, dass vielleicht doch noch ein wenig Glut unter der Asche verborgen liegt.
Heute war ich früh zu Hause, die Anleitung der Energiebeauftragten war schnell zu Ende gegangen, hatte geduscht und, lesend am Fenster stehend, auf Thomas gewartet. Ein paar Minuten nach 3 kam er angeschlendert. Ich ging sofort die Tür öffnen, denn ich wollte vermeiden, dass er klingelt. Vorfreude ist noch immer die beste Freude. So auch heute. Thomas hielt seine Gefühle wieder hinter einem riesigen Eisberg zurück. Diesmal war es nicht das Fenster, dem er seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte, sondern die drei dicken Stern-Illustrierten, die er besonders langsam durchblätterte. Dabei kannte er sie schon. Beim Blättern erzählte Thomas von der Schule, den Matheaufgaben, die der Lehrer hatte gar nicht sehen wollen, von den Stunden, die er morgen haben werde und davon, dass er nachher die beiden Räder von der Reparatur abholen wolle. Er zeigte mir die Benachrichtigungskarte: 14,80 Mark.
So verplätscherte die schöne Zeit. Um 16.30 Uhr ging er dann. Kurz vorher hatte er um den Brief gebeten, den ich Freitagabend geschrieben und an ihn gerichtet hatte. Als Thomas Freitagabend noch überraschend gekommen war, hatte er ihn liegen gesehen. Er musste mir versprechen, dass er ihn nicht mitnehmen werde. Er versprach es.
„Und wenn ich es nun doch tue, was dann?“, fragte er.
„Du hast es aber versprochen.“
„Und wenn doch? Wie willst du es verhindern?“ Er steckte sich den Brief unters T-Shirt.
Ich versuchte vergebens, ihn dort wieder herauszuholen. Gewalt wollte ich nicht anwenden. „Dann weiß ich, was ich von dir zu halten habe.“
„Nämlich?“
„Gar nichts!“, sagte ich probehalber.
„Gar nichts?“, wiederholte Thomas und schluckte.
Ich sah ihn zwar nicht an, fühlte aber deutlich, dass er wie abwesend irgendwohin sah, wie es so seine Art ist. Diesen Zustand behielt er eine ganze Weile bei. Ich ging zu ihm und meinte einlenkend: „Das stimmt nicht, ich halte sehr viel von dir, das weißt du doch.“ Ich umfasste dabei sein Handgelenk. Jetzt sah Thomas mich an, auch dies hatte er so schon öfter getan, mit einem Ausdruck im Gesicht, der vielleicht sagen sollte: Lass mich los, du schwules Schwein. Ja, genauso hat er mich angesehen. Entsetzt ließ ich ihn los und in Ruhe. In solchen Momenten wird mir immer angst und bange. Wie meinte er das? Bei jeder passenden Gelegenheit hatte er zwar versichert, er sei nicht schwul, habe aber jetzt nichts mehr gegen Schwule. Okay! Warum und wofür dann aber das viele Geküsse bisher, das Gerede davon, er liebe mich, von Pofüllungen sogar, der Montagabend? Das ist alles zu viel für mich. Waren wir zu dritt, machte Thomas mir versteckt Hoffnungen und sind wir beide schon mal allein, dann hält er Abstand, hat Angst vor der eigenen Courage.
Nach einer Weile bat er, ich möge ihm dann wenigstens den Brief vorlesen. Ich tat es mit immer trockener werdendem Mund.
„Ich kann jetzt zu dem Brief nichts sagen“, meinte Thomas, als ich zum Ende gekommen war. Ich hatte ihn gar nicht darum gebeten. „Wie kann man nur solche Briefe schreiben“, sagte er auch noch. War dieser Satz nun mit einem Frage- oder mit einem Ausrufezeichen abgeschlossen? Er zog sich die Weste und die Schuhe an und gab mir zum Abschied einen Kuss. Einen richtigen. Der Bengel macht mich verrückt!
„Immer nur zum Abschied!“, beklagte ich mich.
„Das andere heben wir uns für später auf“, versprach er.
„Da bin ich aber gespannt.“
Und weg war er.
Kurze Zeit darauf erschien Jochen: „Na, fertig geworden?“ Er spürte, dass Thomas hier gewesen war. So etwas habe er im Urin, sagte er. Auf seinem Gesicht mischten sich Zorn und Schmerz. Ich beeilte mich, ihm zu versichern, dass nichts gewesen sei, und zu erzählen, wie sich die Sache verhielt und das ich sehr enttäuscht sei. Unterwegs zur großen Kaufhalle und zur Buchhandlung sagte Jochen, er habe sich inzwischen damit abgefunden, dass Thomas von ihm nichts wolle. Die Kaufhalle konnte unsere Wünsche nicht erfüllen, aber in der Buchhandlung kaufte Jochen eine LP mit Strauß-Melodien und eine mit einem Violinenkonzert von Mozart. Vor dem Hochhaus mussten wir natürlich wieder den beiden blöden Bengels begegnen, von denen der eine sich wieder sein freches Grinsen nicht verkneifen konnte. Als Jochen vor Tagen von der Arbeit kommend mit dem Rad an ihnen vorbeifuhr, sie hatten noch einen Dritten dabei, hatte sich einer von denen stark genug gefühlt, ihm irgendwelche schmutzigen Kommentare hinterher zu rufen.
Kurz vor 7 kam Thomas zu Jochen, wieder mit ein paar Mathematikaufgaben. Er hatte es mir schon angekündigt.
„Das nächste Mal macht ihr die Tür schneller auf! Markus kam gerade die Treppe rauf. Ich glaube, er hat mich gesehen.“ Das war seine ganze Begrüßung.
„Wenn ihr euch wiederseht, sagst du ihm, du hättest Schwierigkeiten. Schwierigkeiten in Mathe“, schlug Jochen vor.
„Wenn ich das sage, dann lacht der mich glatt aus. In Mathe! Von dem ist auch der Lack runter, verschwendet sich an Alkohol und Weiber“, meinte Thomas.
In der Folge war wieder die Rede von irgendwelchen Bogenwinkeln, einem gewissen Alpha mit Vornamen Arcus und von Pi. Wenigstens Pi hatte ich noch ganz schwach in Erinnerung.
Die Situation war auf eine Art doch ganz lustig. Jochen wusste, dass Thomas vorher schon bei mir war, aber der wusste nicht, dass es Jochen wusste. So mussten ich und Jochen bei jeder unbeabsichtigten Äußerung von Thomas - nehmen wir mal an, sie sei unbeabsichtigt gewesen -, die einem aufmerksamen Zuhörer das heimliche Zusammensein von uns beiden verraten hätte, innerlich lachen. Jochen und ich sahen uns an und glucksten vergnüglich in uns hinein. Thomas war zwar mit Mathe beschäftigt, hörte dennoch mit beiden Ohren auf jedes Wort von uns. Dafür, dass er ihm die Hausaufgaben gemacht hatte, legte Thomas anschließend seinen blonden Kopf in Jochens Schoß, während ich neidisch im Sessel sitzend ins Fernsehbild starrte. Ein flüchtiges Küsschen zum Abschied war wieder alles, was für mich dabei abgefallen war. Jochen, der Thomas zur Tür brachte, bekam wohl mehr. Sogar durchs geöffnete Fenster, an dem Thomas dann vorbeiging, flogen die Küsse nur so hin und her. Das war kurz vor acht.
Da ich an diesem Tag keinen von beiden mehr sehen wollte, begab ich mich eine viertel Stunde später nach Hause. 15 Minuten nach 9 kam Jochen, seinen angekündigten Kontrollbesuch machen. Ich überlegte mir, dass die Anschaffung einer Stechuhr ernsthaft in Erwägung zu ziehen sei. Jochen war schon wieder im Gehen, er stand schon im Treppenhaus, als er fragte, ob wir morgen mit dem Fahrrad fahren wollen. Ich ganz sicher nicht, denn ich wolle doch morgen in die Sauna, meinte ich. Er müsse mich schon ganz lieb darum bitten, wenn ich mich dazu entschließen solle.



Montag, 5. September 1988 - Mittwoch, 7. September 1988

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