Die Hoschköppe / 26. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 26. Kapitel

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Montag, 5. September 1988


Was war am gestrigen Sonntag geschehen? Wir hatten beide in der Nacht wider Erwarten gut schlafen können. Jochen bestätigte dann am Morgen mit wenigen Worten meine Vermutungen hinsichtlich des Sonnabendabends. Nach dem Frühstück war ich in meine Wohnung gegangen, um ein wenig Klarschiff zu machen und einige Passagen für diesen Text niederzuschreiben. Schon von Weitem sah ich Charlotte am Fenster stehen. Sie hantierte mit einer kleinen Gießkanne zwischen ihren Blumen herum, die sie zum Teil, genau wie ich selber, auf dem Fensterbrett stehen hat. Nie werde ich ihr verzeihen, dass sie mit ihren Pflanzen mehr Erfolg erzielt. Ich bemühte mich standhaft, nicht zu ihr hinaufzusehen. Als ich dann im Treppenhaus war, hörte ich ihre Tür klappen. Und richtig, sie stand nun vor einem Treppenfenster und goss die Kakteen, die sie schon vor längerer Zeit dort zur Dekoration abgestellt hatte und die scheinbar niemand haben mochte.
„Na, ausgeschlafen?“, fragte sie scheinheilig, nachdem wir uns kurz begrüßt hatten.
Ohne mich aufhalten zu lassen, antwortete ich: „Schon lange!“ Mit langen Schritten eilte ich auf meine Wohnungstür zu und kaum, dass ich sie aufgeschlossen hatte, war ich hinter ihr verschwunden und damit vor weitergehende Fragen vorerst sicher, die womöglich auf den letzten Montagabend hinausgelaufen wären. Ich hatte mich deswegen schon die ganze Woche mit Erfolg bemüht, ihr nicht über den Weg zu laufen.
Mittags, als ich nicht mehr mit irgendwelchen Besuchen rechnen konnte, ging ich zu Jochen zurück, dessen ganze Wohnung, wobei sich „ganze“ wieder unverhältnismäßig groß anhört, nach frischgebackenem Pflaumenkuchen duftete. Mein Aschenbrödel war wieder fleißig gewesen. Am Nachmittag beschenkte uns Thomas mit seinem Besuch. Zuerst versetzten wir uns bei mir mit einem Gläschen Likör in eine gehobene Stimmung, fuhren dann gemeinsam in die Stadt, um uns die Ausstellung im Kloster zum Heiligen Kreuz reinzuziehen. Um ins Klostergelände hinein zu gelangen, und später dann auch wieder hinaus, benutzten wir die kleine Pforte in der Stadtmauer, an die der kirchliche Besitz angrenzt, denn Thomas wollte unbedingt über den Wall gehen. Die Wallanlagen scheinen ihn in letzter Zeit mächtig zu interessieren. Das bezieht sich aber nicht auf die kräftigen Kanonen, die hier in geschichtlicher Zeit zur Verteidigung abgefeuert wurden, sondern mehr auf die neuzeitlichen, denn die moderne Funktion dieser Wallanlagen ist ihm nicht unbekannt. Auch ich war in meinen ersten Jahren in dieser Stadt sehr oft dort tätig gewesen, beinahe regelmäßig. Bis ich endlich ebendort Jochen kennenlernte. Thomas hatte mir erzählt, er sei bereits an zwei Nachmittagen auf dem Wall gewesen und habe sich die Schwulen angesehen, die dort spazieren gingen. Am helllichten Tage, das war mir neu! Die erkenne man gleich, hatte er gemeint. Woran nur? Vor einem aber habe er weglaufen müssen, weil der ihm nachgekommen war. Vor manchen sollte man durchaus die Flucht ergreifen, besonders, wenn man sich nicht sicher ist! Es wird wohl nicht mehr lange dauern und er läuft nicht mehr davon, wenn der andere ihm gefällt. Wie es der Zufall wollte, lief uns dann im Kloster ein schwules Pärchen über den Weg. Die hatte er seltsamerweise nicht sofort als solches identifiziert. Es war wohl doch nicht ganz so einfach. Nachdem wir ihn darauf aufmerksam gemacht hatten, ließ er die beiden aber nicht mehr aus den Augen. Gegen 18 Uhr waren wir wieder zu Hause, wo wir drei noch einmal tüchtig dem Pflaumenkuchen zusprachen. Zwischendurch hatte ich Thomas wissen lassen, Jochen war gerade im Bad, dass ich wohl ab halb neun alleine zu Hause sei und am Montag, also heute, eventuell zwei S-Bahnen früher kommen werde. Als mich Jochen gleich darauf fragte, wann ich am Montag zu Hause sei, antwortete ich ihm: „Normal, wie immer“, und er vorschlug, wir drei könnten uns dann um fünf treffen, um den restlichen Kuchen aufzuessen, da meinte Thomas, er werde dann nicht kommen können, denn um die Zeit habe er Sport. Thomas war dann bald gegangen, wir schlugen darum vier Eier mit Speck in eine Pfanne. Ich esse zu meinem Kartoffelsalat lieber Spiegeleier als diese mysteriösen Bockwürste. Nach dem Abendbrot wusch ich ab! Danach saßen wir vor dem Fernseher, ich das eine Auge auf den Bildschirm, das andere auf die Uhr gerichtet. 15 Minuten vor 8, ich war gerade auf der Toilette, klingelte es. Die Stimme, mit der im Korridor gesprochen wurde, hatte ich nicht erkennen können. Ich war deshalb sehr überrascht und zugleich enttäuscht, als ich Thomas im Zimmer vorfand. Ob er wohl gerade bei mir zu Hause war und mich noch nicht angetroffen hatte, überlegte ich. Oder hoffte Thomas, ich sei schon zu Hause, weil er jetzt mit Jochen alleine sein wollte, während ich bei mir auf ihn wartete? Oder nahm er aus Vorsicht lieber Jochens Gegenwart in Kauf, um in meiner Nähe zu sein? Er wollte ganz sicher keinen weiteren Montagabend riskieren. Dieses und Ähnliches ging mir durch den Kopf, als ich das Zimmer betrat und Thomas sitzen sah. Wie auch immer, ich zog erst einmal eine Schippe. Wie sollte ich mich jetzt wieder aus der Klemme ziehen? Zu Jochen hatte ich gesagt, ich werde nach Hause gehen. Bliebe ich nun da, würde Jochen es mir ankreiden, weil ich es nur Thomas zuliebe täte. Ginge ich aber, würde ich vielleicht Thomas wehtun, wenn der wirklich meinetwegen gekommen war. Wie gern hätte ich mich zu ihm auf die Couch gesetzt, ganz dicht. Ich blieb aber auf dem Stuhl daneben sitzen und spielte mit meinen Gedanken.
Aus gegebenem Anlass malte Thomas folgende Zeilen auf ein Blatt Papier, wobei er sich auch als Poet versuchte.

Eure intimitären Angelegenheiten dürft Ihr ruhig etwas später
fortsetzen, ich habe absolut nichts dagegen.
Solltet Ihr Euch jedoch dafür entscheiden, jenes sofort
zu beendigen, werde ich mit Ihriger Erlaubnis das Weite
suchen, es wird die andere Seite des Kindergartens sein.

Wer heute zu dem Joschi geht
  und morgen um den Kuchen fleht
    wird bald schon ganz ein andrer sein
      Das Leben, das der Joschi lebt
        nach Güte und nach Liebe strebt
          kann lang nicht dauern, sei gewiß
            Ich kenn ´nen Jungen Namens Bert,
               der immer die Kontainer lehrt

Gegen 9 verschwand ich. Jochen gab mir mit auf den Weg, dass er dann noch später nachsehen komme. Das war die noch fehlende Motivation für mich, wirklich zu gehen. Thomas schmollte und wollte mich nicht verabschieden: „Du wirst schon sehen, was du davon hast, wenn du jetzt gehst.“
Wie recht Thomas mit seiner Vorsicht hatte, sah ich sofort ein, als ich gegen 10 eine große Schnake zum Fenster hinauswarf, die unberechtigt in mein Zimmer geflogen war. Jochen kam gerade um die Ecke gebogen, sah mich am Fenster, machte auf den Hacken kehrt und verschwand wieder. Dabei hatte ich lediglich mehrmals mit dem Zeigefinger an meine Stirn getippt.
Heute, wir sind endlich bei Montag angelangt, werde ich also Thomas nicht zu Gesicht bekommen, viele Hausaufgaben habe er auch noch zu erledigen. Und ich habe ihm noch gar nicht sagen können, dass ich auch morgen wieder früher zu Hause sein werde. Ich spüre großes Verlangen nach ihm.
21.25 Uhr. Ich sitze allein in meiner Bude, hoffend, und überdenke den Tag. Am Nachmittag um halb 5 hatte ich mit Jochen Kaffee getrunken und den restlichen Pflaumenkuchen aufgegessen. Der Kuchen war ihm wirklich ausgezeichnet gelungen. Danach fragte Jochen, ob wir in die Buchhandlung und anschließend in die Kaufhalle gehen wollen. In der Delikatabteilung gebe es montags immer (?) Eberswalder.
„Was heißt wir?“, fragte ich unwillig.
„Willst du denn nicht mit?“
„Nein.“
Jochen überlegte sich daraufhin die Sache und blieb auch zu Hause. Teilnahmslos saß ich in der linken Ecke der Couch und lauschte der Musik, die aus den beiden in der Anbauwand befindlichen Lautsprecherboxen kam. Welche Platte aufgelegt war, wusste ich nicht. Irgendwas Klassisches jedenfalls. Auch beim Umdrehen der LP fiel es mir nicht ein, aufs Etikett zu sehen. Die Musik gefiel mir aber. Gefallen an der klassischen Musik zu finden, hatte ich erst durch Jochen gelernt. Der saß in der rechten Ecke und war in eines der beiden Tagebücher vertieft. Hin und wieder lachte er. Auch gut.
„Übrigens, in der linken Fensterecke sitzt eine riesige schwarze Spinne. Sorge dafür, dass sie morgen entweder im Zoologischen Garten abgegeben oder ihrem Richter vorgeführt wird,“ sagte Jochen.
Mit Rücksicht auf die Spinne hatte ich mich ins Bad begeben und war damit beschäftigt, trockene Wäsche abzunehmen: mehrere Hemden und Hosen. Währenddessen wurde Freund Thomas reingelassen. Es kränkte mich, wieder eine ganze Weile übersehen zu werden. Aber was sich liebt, das neckt sich, hoffte ich. Die Begrüßung wurde erst nachgeholt, als ich schon längst beim Bügeln der Hemden war. Und zwar mit einem schnell dahingeworfenen Küsschen. Aber immerhin! Jochen und Thomas hatten schon geraume Zeit am Tisch und über den Hausaufgaben gesessen, die der Kleine mitgebracht hatte. Sie lösten irgendwelche mathematischen Rätsel, wie es mir schien. Mathe war nie meine Stärke gewesen, wie alles Andere auch nicht. Jedenfalls nicht solch einen Kram, von dem ich sie reden hörte. Jochen nahm die Sache dagegen ziemlich leicht.
Thomas bemerkte immerhin, dass ich sehr ruhig war, kaum ein Wort sagte. Zur Lösung seiner Aufgaben hätte ich ohnehin nicht beitragen können, alles andere wäre doch nur störend gewesen, also war ich still geblieben. Er sei mir böse, meinte Thomas, dass ich am Vorabend zehn Minuten vor ihm gegangen sei. Ich habe nicht gewusst, entgegnete ich, wie ich es taktisch richtig hätte anstellen sollen. Thomas riss sich daraufhin von seinen Heften los und setzte sich zur allgemeinen Verwunderung auf meinen Schoß. Mit den Hemden war ich inzwischen fertig geworden. Die Welt war wieder in Ordnung. Er hatte heute mal nicht seine enge Jeans an, sondern eine helle Popelinhose. Darin gefiel er mir auch sehr gut. Da Jochen nicht zu kurz kommen sollte, probierte er auch dessen Schoß aus, wobei er sich vielleicht eine Idee enger anschmiegte, wie mir deuchte.
Als Jochen nicht im Zimmer war, fragte Thomas mich: „Bist du mir noch böse, magst du mich noch?“
Was für eine ganz und gar unnötige Frage! Kurz vor halb 8 war er dann gegangen.
Jochen und ich sahen uns den Film im ZDF an. Jochen war ganz dicht an mich herangerückt. Er suchte Wärme, die ich nicht so abstrahlte, wie sonst. Ich solle immer bei ihm bleiben, bat er mich.
„Was verstehst du unter immer?“, fragte ich. Wir waren schließlich noch nicht verheiratet.
„Du sollst montags bei mir schlafen, dienstags, mittwochs, donnerstags, freitags, sonnabends und sonntags.“
„Ich werde freitags bei dir schlafen und ich werde sonnabends bei dir schlafen, so wie immer.“
Um Viertel nach 9 war ich dann gegangen. Traurig sah Jochen mir durch den Türspalt nach.


Sonntag, 4. September 1988
- Dienstag, 6. September 1988

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