Die Hoschköppe / 25. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 25. Kapitel

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Sonntag, 4. September 1988


Durch wenige Wolkenlöcher und das weit geöffnete Fenster scheint die helle Morgensonne in mein Zimmer. Genauso wie sich bei den meisten Schrebergärten ihre Größe allein durch ihre Höhe definiert, bekommt meine Wohnung ihre wahre Weite erst durch das Öffnen der Fensterflügel und der Türen. Obwohl ihr der Architekt ein separates Klo beschert hatte, wird sie doch als Ganzes sehr gern als Wohnklo bezeichnet, denn in dem Wort liegt so viel Gemütlichkeit und Anheimelndes. Vorhin habe ich den Staub, der sich wochenlang angesammelt hatte, von Epikurs Schultern gewedelt und die Insekten aufgesaugt, die mit Vorliebe in Fensternähe verstorben waren und als kleine Mumien auf der roten Auslegeware verstreut lagen. Laut Kalender beginnt heute in Leipzig die Herbstmesse. Aber was geht das mich an? Ich habe nichts davon.
Der gestrige Morgen begann mit einer kleineren Unstimmigkeit. Der Brief an Thomas, der nur für mein Tagebuch geschrieben war, lag noch auf dem Tisch. Jochen beabsichtigte allen Ernstes ihn zu lesen, so, wie er alles Material, das ich bis dato gesammelt hatte, lesen durfte. Fast alles. Dieser Brief aber sollte nicht durch seine Zensur gehen. Darum schmollte er. Auch alles künftige Material sollte er nicht mehr einsehen dürfen: Es würde den Handlungsablauf unzulässig beeinflussen, wenn ich beim Schreiben Rücksichten nehmen müsse. Das sagte ich ihm. Eingesehen hat er es nicht. Hätte ich an seiner Stelle wahrscheinlich auch nicht. Dann werde bei der ganzen Geschichte nichts weiter herauskommen als das, was auch schon in den beiden anderen Tagebüchern zu lesen steht, nämlich nur seine Schlechtigkeiten, nur, was er alles verkehrt gemacht habe, kein gutes Wort über ihn oder die schönen Stunden, die wir miteinander erlebt hätten, erboste sich Jochen zu Recht. Das mag wohl stimmen, denn ich hatte damals immer nur dann ein paar Seiten vollgeschrieben, wenn ich mich über Jochen geärgert hatte. Berechtigt oder unberechtigt, das sei dahingestellt. Statt mit ihm darüber zu reden, hatte ich mich zwischen die leeren Seiten geflüchtet. Entgegenhalten musste ich ihm aber, dass ich im Urteil eines Dritten bestimmt nicht besser abschneiden würde als er, denn meine eigenen Schandtaten seien auch alle (?) darin vermerkt. Und, selbst in Tagebüchern ist der Mensch nicht immer objektiv. Er schreibt doch stets aus seiner eigenen Sicht. Jochen bezeichnete sich einmal mehr als Aschenbrödel, das die Arbeit mache, während ich mich ganz meinen Vergnügungen hingebe. Wenn da auch vieles dran ist, ganz so schlimm wird es bestimmt nicht sein. Oder? Wenn ich mich auch nicht an der Wäsche beteilige, außer dem Heranschleppen dreckiger, selbst das Aufhängen im Bad kam höchst selten vor, so lasse ich ihn mit dem übrigen Haushalt doch nicht ganz allein. Es gibt da schon zwei, drei Sachen, die ich aufzählen könnte. Sicher, ich müsste noch mehr machen. Meine Mutter sagte früher so manches Mal zu mir, ich habe es noch im Ohr: „Faulheit, Faulheit lass mich los, du ruinierst mich bloß!“ Der praktische Grund aber dafür, dass ich ihm nicht mehr zeigen wollte, was ich schreibe, war, dass Jochen nicht sofort über meine Machenschaften, wenn ich sie mal so nennen will, unterrichtet werden soll.
Jochen war bereits aus dem Bett gestiegen und stand in der Küche. Ich lag noch und hatte mich an dem, was mir gerade durch den Kopf gegangen war, wieder so richtig aufgeheizt. Ich knallte ihm mein Zudeck vor die Füße (nur im übertragenem Sinne gemeint), sprang auch aus dem Bett und wollte mich anziehen. Jochen kam hinter dem Vorhang hervor und stellte sich mir in den Weg.
„Wo willst du hin?“, fragte er.
„Ich gehe!“, antwortete ich wie ein Politiker an der Frage vorbei.
„Du gehst nicht!“
Mein so schnell aufgebrauster Zorn war inzwischen längst wieder verflogen. Ich musste auf den Fußboden sehen, um nicht zu lachen. Dann ging ich ins Bad, um mich zu waschen. Ob Jochen derweil den Brief gelesen hatte, weiß ich nicht, Jochen hatte bis jetzt noch nicht wieder davon gesprochen. Nach einer gewissen Zeit war er jedenfalls ins Bad nachgekommen, zeigte sich sehr lieb und trug mich sogar, unter Ächzen und Stöhnen versteht sich, ins Zimmer zurück bis auf die Liege.
Zum Frühstück gab es dann für jeden ein weich gekochtes Ei, wie immer in solchen Fällen. Das hätten wir uns verdient, hieß es dann. Nach dem Mittagessen warteten wir auf Thomas, der rüberkommen wollte. Wir hatten vor, irgendwas gemeinsam zu unternehmen. Aber was, wussten wir noch nicht. Jochen und ich hatten uns aber schon halbwegs dahin gehend geeinigt, mit den Rädern rauszufahren und bei der Gelegenheit Erde einzutüten. Thomas sollte sich ein Fahrrad besorgen und mitkommen. Er aber kam und kam nicht. Wir zogen uns an und gingen. Auf der Treppe kam er uns dann entgegen und kuckte ganz entgeistert. Wir gingen noch einmal rein und versuchten, ihn für die „Aktion zur Rettung der Palme aus Prag“ zu begeistern. Zuerst hatte er uns sein verspätetes Kommen damit begründet, dass er nicht gewusst habe, was er anziehen solle! Er habe sich mehrmals umgezogen und zu nichts entschließen können. „Nichts“ wäre auch gut gewesen, dachte ich. Er hatte aber wieder das an, was er in letzter Zeit immer anhatte: Seine pralle Jeans und die mit Anstecker und Abzeichen überladene Jeansweste. Von unserem Vorschlag hielt er überhaupt nichts. Es half auch alles Zureden nicht.
„Dann wird es eben nichts damit, was ich mit euch machen wollte“, sagte er und benahm sich wie ein bockiges kleines Kind, das nicht seinen Willen bekommt.
Ich hätte gern seinem Willen nachgegeben, aber vor Jochen wollte ich stark aussehen. Indes verwünschte ich die blöde Palme. Um die paar hundert Mark wäre es aber doch schade gewesen. Wir trennten uns nicht im Guten. Ist Thomas der Typ, der sich für einen Fackelzug in Berlin begeistern ließe? Was er mit uns vorhatte, ließ er im Unklaren. Das Letzte, was wir dann von ihm hörten, war das Scheppern der zu Boden fallenden Plastverkleidung eines Lichtschalters im Hausflur. Ich ging hin, um sie wieder anzustecken. Als ich dann das Fahrrad aus meinem Keller holte, entdeckte ich dort einen großen Beutel mit Blumenerde. Wir radelten los und holten je eine kleine Tüte mit Ostseesand, kleinen Kieseln und Kies. Nachdem mit heißem Wasser das Salz aus dem feinen Ostseesand und von den kleinen Steinchen gewaschen war, stellte ich eine Erdmischung her und topfte die stachlige Palme um. Der Seesand kam obenauf. Inzwischen war Jochen mit dem Nachmittagskuchen zu mir gekommen, den er von sich geholt hatte. Lieber hätte ich den bei ihm zu Hause gegessen. Thomas würde dann sehen, dass wir wieder da sind.
„Thomas scheint nicht zu Hause zu sein, ich hätte ihn sonst mitgebracht“, sagte Jochen, als könne er Gedanken lesen.
An der Eisdiele gegenüber kauften wir uns ein Eis und gingen auf einem Umweg zu Jochen, wo Thomas eben aus der Haustür kam.
„Ich war nicht bei euch!“, war das Erste, was er sagte.
Wer sollte das glauben? Er geht zwar mit Markus von nebenan in eine Klasse, aber bei dem war er, solange wir miteinander bekannt sind, unseres Wissens noch nicht gewesen und das er von Goldbrille kam, der ganz oben im anderen Aufgang wohnt, war auch unwahrscheinlich. Dann begann er, noch an der Haustür stehend, von zwei Schwulen zu berichten, die er und sein Kumpel am Nachmittag beobachtet hatten. In Lichtenhagen war Wohngebietsfest und dort erregten die beiden allerhand Aufsehen, so sagte er jedenfalls.
„Wie die so gingen, wie die so dastanden, und geschminkt waren die, um die Augen herum, blau und grün, und dann noch aufgesetzte Wimpern, das sah man gleich, dass die schwul sind.“ Er konnte sich gar nicht wieder beruhigen.
„Die waren bestimmt als besondere Attraktion engagiert und haben dafür gut bezahlt bekommen“, scherzte ich, denn ich ärgerte mich sehr über sein Getue. Das mit der besonderen Attraktion nahm Thomas mir natürlich nicht ab. In der Stube legte er noch einen drauf: Die Leute hätten gesagt, so was müsste verboten sein, das gehöre eingesperrt usw. Ob‘s stimmt, dass er das gehört hatte? Nebenbei aß er ohne Bedenken das Stück Kuchen auf, das wir, auch zwei Schwule, für ihn aufgehoben hatten.
Da es längst überfällig war, begaben sich Jochen und ich, mit allem Nötigen ausgerüstet, ins Bad und begannen, uns nacheinander die Haare zu schneiden. Zuerst kam ich unters Messer bzw. Schere, dann Jochen. Thomas sah uns sehr interessiert zu, was dann dazu führte, dass sich das Haareschneiden ziemlich lustig gestaltete. Zum Abendbrot ging er dann nach Hause.
Später klingelte es. Da Thomas an seinem Fenster zu sehen war, konnte er es also nicht sein.
„Willst du nicht aufmachen, Schieter, das ist bestimmt Frank?“, sagte ich zu Jochen, der neben mir auf der Couch saß und keinerlei Anstalten dazu traf. Beim ersten Anschlagen der Klingel hatte der kleine Abakus in meinem Kopf automatisch angefangen, alle sich jetzt bietenden Möglichkeiten durchzurechnen: Wenn Jochen diesen Abend mit Frank verbringt, dann muss für mich ein Abend mit Thomas dabei herausspringen. Es war tatsächlich Frank, der gekommen war. Thomas war noch immer in seinem Zimmer zu sehen. Ich würde noch eine Anstandsminute abwarten und mich dann verdünnisieren, nach hinten rausgehen und mich irgendwie Thomas bemerkbar machen, wie, wusste ich noch nicht. Zu Hause wollte ich ihn dann erwarten. Jochen holte die letzte Flasche von seinem Selbstgemachten aus dem Keller und schenkte davon drei Gläser ein. Ich trank meines so schnell wie möglich aus und schickte mich an, zu gehen. Jochen kam mir aber wieder in die Quere und meinte, er möchte nicht, dass ich gehe. Das verstand ich nun gar nicht. Gut, eine Weile wollte ich noch bleiben. Unterdessen hatte im Fernseher das Abendprogramm begonnen und Thomas war aus seinem Zimmer verschwunden. Es gab „Wetten, dass“. Ich trank mein zweites Glas Wein aus und schenkte auch den beiden anderen nach. Frank war gekommen, um etwas zu erleben, aber nicht zu dritt. Er dachte bestimmt, wann haut der alte Sack endlich ab. Der zweite Versuch, mich von den beiden abzuseilen, endete mit meinem Versprechen, gleich wiederzukommen, wenn ich die beiden Geburtstagskarten in den Briefkasten eingesteckt habe. Eine sollte Manfred und die andere Olaf bekommen, dessen Jubeltag bereits gewesen war.
Als ich wiederkam, saßen die zwei Hübschen noch genauso da, wie ich sie verlassen hatte. Ich hatte Jochens Verhalten schon durchschaut, als er mich das erste Mal zurückhielt. Er wollte mir nicht die Chance eines Abends mit Thomas geben, nicht einmal ein Argument, das dafür gesprochen hätte. Dafür verzichtete er auf Frank.
Kurz nach 10 hatte ich dann die Schnauze voll, mich doch verabschiedet und ging nach Hause. Bei Thomas brauchte ich natürlich nicht mehr vorbeizugehen. Ich war auch nur aus Trotz gegangen. Und warum sollten denn nicht wenigstens die beiden noch ihren Spaß haben? Wenn ich auch keinem etwas vergaß, nachtragend bin ich nicht allzu lange. Damit hatte ich dann aber doch nicht gerechnet, dass es klingelte, kurz, nachdem ich bei mir das Licht angemacht hatte. Es war Jochen.
„Ich will nur dich und keinen weiter“, sagte Jochen als Entschuldigung.
„Hör auf zu flennen.“ Ich war schon wieder geladen, ging mit ihm zurück und ins Bett.



Freitag, 2. September - Montag, 5. September 1988

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