Die Hoschköppe / 24. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 24. Kapitel

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Freitag, 2. September


In 20 Tagen erst ist Herbstanfang. Ich sehe in Gehlsdorf zum Fenster einer alten Villa hinaus und bemerke die gelben Blätter, die schon vereinzelt in den beiden großen Linden hängen. Ein leichter Nieselregen versucht, von ihnen den letzten Staub abzuwaschen. Hin und wieder fährt der Wind in das weit ausladende und hohe Geäst, dann ist es als stöhnten die Bäume auf in Erwartung kommenden Frostes. Mir, wie auch der Natur, ist schon jetzt nach Herbst zumute.
Gestern war ich mit der gleichen S-Bahn gefahren, die ich üblicherweise benutzte, um nach der Arbeit nach Lichtenhagen zu gelangen. Das Wetter war nicht ganz so trübsinnig wie heute. Ich befand mich auf dem südöstlichen Plattenweg zwischen den Gärten und steuerte auf die Wilhelm-Hörning-Straße zu, auf der Jochen gerade mit dem Fahrrad vorbeifuhr, auch von der Arbeit kommend. Rechts von mir wucherten Brombeerranken aus einem urwaldähnlichen Garten über den Maschendrahtzaun und versuchten, mich am Vorwärtskommen zu hindern. Pfeife ich oder lasse ich ihn fahren, ging es mir durch den Kopf. Aber der Gedanke an sich war schon Quatsch, denn die Fähigkeit zu pfeifen, jedenfalls so laut, dass Jochen es noch hätte hören können, war mir nicht gegeben. Ich näherte mich selenruhig der Straße und sah ihn dann bremsen. Jochen hatte mich also doch gesehen und wartete nun. Er war aber nicht meinetwegen stehen geblieben, wie ich entsetzt feststellen musste. Nein, er war Thomas begegnet, der hier herumstrolchte. Ich wunderte mich, dass er seinetwegen angehalten hatte. Blöd, dass die beiden ausgerechnet hier und jetzt aufeinandertreffen müssen, dachte ich. Ich hatte all die Tage gehofft, Thomas würde mir hier entgegenkommen. Hatte er es gestern vorgehabt? Dann war es gründlich schief gegangen. Was sollte ich jetzt tun? Weitergehen oder umkehren? Noch hatten sie mich nicht bemerkt. Ach, was soll‘s, dachte ich und ging auf die beiden zu. Es kam zu keinem längeren Gespräch. Thomas gab vor, gerade auf einem kleinen Rundgang zu sein, versäumte aber nicht einzuflechten, dass bei mir die Gardine nicht zugezogen sei und mir die blöde Frage zu stellen, wann ich in die Sauna gehe. Ich merkte sofort, dass Jochens Relais spontan zu klickern anfingen, um jedes einzelne Wort zu verarbeiten. Thomas kann doch nicht so dusslig sein und so wenig Gespür für diplomatischen Takt haben, überlegte ich. Es soll ja Menschen geben, die mit keinerlei Begabungen belastet sind und den Horizont einer knienden Ameise haben, aber Thomas gehört doch nicht zu denen! Ich bammelte den Beutel voller Birnen, die ich in Gehlsdorf gekauft hatte, an Jochens Fahrradlenker und ging erbosten Schrittes nach Hause. Wenn der feige Kerl wenigstens mit in die Sauna kommen würde.
Da ich einen gewissen Drang verspürte, mich unbedingt duschen zu müssen, zog ich mich aus. Schon mit einem Bein in der Badewanne, fiel mir endlich ein, dass ich nach dem Abendbrot in die Sauna wolle. Da wäre es Verschwendung gewesen, vorher noch zu duschen, wenn ich es dort ohnehin tun müsse. Ich ließ es also bleiben und beschränkte mich darauf, mir das Gesicht flüchtig nass zu machen. Das dauerte auch nicht so lange wie Duschen, denn ich hoffte auf Thomas. Ich setzte mich, so wie ich war, in den Sessel und begann Post zu erledigen. Nebenbei dudelte der Plattenspieler. Erst kurz nach halb 6 klingelte es. Ich zog mir rasch die Hose über, um die Tür zu öffnen. Oben war aber niemand. Thomas stand unter dem Fenster.
„Ich denke, du bist in die Sauna“, rief er hoch und meinte, er habe erwartet, dass Joschi aus dem Fenster sehe. Ich machte ihm klar, dass ich erst nach dem Essen hinfahren würde und wohl nicht vor neun wieder zurück sei. Vielleicht etwas früher, aber nicht viel. Hochkommen wollte Thomas nicht, er deutete mit dem Kopf auf die beiden Jungs, die auf ihn lauerten. Seine Freunde, wenn es Freunde waren, standen etwas abseits und leckten an ihrem Eis. Die beiden hätten mir auch gefallen können, dachte ich und leckte mir die Lippen. Thomas hatte verstanden und lachte. Ich würde nur das Eis meinen, flunkerte ich. Die Drei trotteten weiter. Ich zog mich vollständig an, verteilte Briefmarken auf die Umschläge und machte mich auch auf den Weg. Die Drei saßen jetzt an der Kaufhalle auf der Einfassungsmauer des mit mickrigen Büschen bepflanzten Grünteiles und schleckten noch immer an dem Eis herum. Ich ging erst an ihnen vorbei, nicht ohne einen Seitenblick, dann an den Netzcontainern für Knüllpapier und Thermoplastabfälle, bis zum Briefkasten. Diese Gestelle mit den eingehängten Netzen sind der neueste Schrei von SERO, aber sicher nur für wind- und kinderlose Gebiete konzipiert worden.
Jochen saß auf der Couch und blätterte in einem Rowohlt-Katalog. Wieder gedämpfte Stimmung, obwohl es in der ganzen Wohnung sehr verführerisch nach frischgebackenem Pflaumenkuchen duftete. Er hockte sich vor den Herd und öffnete probehalber die Backröhre. Derweil bat ich ihn um Entschuldigung für meine Verspätung. Daraufhin zog sich Jochen auf den Stuhl neben der Abwäsche zurück und schmollte weiter. Ich weiß, dass man nicht jedem Menschen gleich viel verzeiht. Ich tue es auch nicht.
„Ich dachte, die Welt ist wieder in Ordnung“, sagte ich, seine Gedanken ahnend.
„Heute Nachmittag, als wir telefonierten, war sie es auch noch.“
„Und nun nicht mehr?“
„Ich weiß schon Bescheid“, meinte er.
„Gar nichts weißt du“, gab ich sauer zurück.
„Thomas war doch wieder bei dir, ich habe ihn doch zurückgehen sehen.“
„Schön, wenn es so gewesen wäre. Ich hatte darauf gewartet, dass er kommt. Er kam aber nicht. Natürlich, ein Fünkchen Wahrheit ist schon dran, was du gesagt hast.“ Ich erzählte, wie es gewesen war, und fügte dann noch hinzu: „Dafür hing von jemand anderem ein Zettel an der Tür.“
„Nimmt das denn gar kein Ende? Von wem?“
„Wenn nicht Thomas, dann eben einen anderen! Von Meik.“
„Welcher Meik?“
„Der Kleine vom Strand, ich hab dir von ihm erzählt, mit dem ich noch nichts hatte.“
„Und, was will er?“
„Er will wissen, was für Schicht ich habe. Wahrscheinlich war er schon öfter da und hat mich nicht angetroffen.“
In die Sauna wolle er nicht mit, meinte Jochen, fragte mich aber, wo ich die Nacht zu schlafen gedenke.
„Bei mir natürlich!“, sagte ich. Ich hoffte, Thomas würde kommen. Dann müsse ich aber mit verstärkten Kontrollen rechnen, denn er könne dann sowieso nicht schlafen, beugte Jochen allen Eventualitäten vor. „Damit rechne ich nicht“, sagte ich. Innerlich stieg schon wieder die Wut in mir auf. Ich hatte gedacht, Jochen werde es nicht riskieren, noch einmal so einen Abend zu erleben.
„Gut, dann komme ich eben mit und schlafe wieder bei dir“, verkündete Jochen schadenfroh.
Dies hatte ich aber nicht so ernst genommen. Mit dem Bus um 18.20 Uhr fuhr ich nach Warnemünde. An der Haltestelle bei der S-Bahnbrücke stieg ein Bekannter dazu, der auch in die Sauna wollte. Bin ich schon wieder unter Aufsicht, dachte ich. Sein Saunatag wäre eigentlich der Mittwoch, erklärte dieser, er habe gerade Urlaub und es hätte sich so ergeben. Den Tag über sei er am Strand gewesen. Er schwärmte noch von der himmlischen Ruhe dort hinten. Um 8 verließ ich die Sauna und fuhr zu Jochen. Interessant war es erst wenige Minuten vorher geworden. Immer war man zum falschen Zeitpunkt da.
Jochen war dabei, die ersten Seiten des Tagebuches zu lesen, dass ich irgendwann im Jahr 1981 begonnen hatte. Ich weiß es nicht so genau, ich müsste nachsehen. Ich hatte mich entschlossen, ihm im Gegenzug zu meiner Tändelei mit Thomas diese beiden Bücher auszuhändigen, die ich solange vor ihm verschlossen gehalten hatte. Sie waren schon lange ein Streitobjekt. Jochen wird darin wohl so manches finden, was mir vorzuwerfen ist. Aber alles ist inzwischen verjährt. Ich spülte im Bad die Saunatücher und hängte sie zum Trocknen auf. Als ich dann dabei war, mir die Schuhe anzuziehen, weil ich nach Hause wollte, rief Jochen mich in die Stube. Er hatte schon die erste Stelle gefunden.
„Wo willst du hin?“, fragte er auch noch.
„Nach Hause natürlich.“
„Dann komme ich mit.“
Es ist zum Kotzen, dachte ich. Dass er das wahr machen würde, schwante mir bereits beim Betreten des Korridors, denn Jochen hatte seine schwarze Kollegmappe auf die Flurgarderobe bereitgestellt, fertig zum Gehen. Im Guten konnte ich ihn nicht daran hindern, mitzukommen. Ich war sauer, sehr sauer sogar. Ich hätte ausrasten können. Aber das würde uns nicht weiterhelfen. Dass ich morgen doch sowieso wieder bei ihm schlafen würde, dass mit Thomas nichts abgesprochen sei, das könne er schon glauben, und noch vieles mehr hatte ich vorgebracht. Es half alles nichts. Passieren würde ja sowieso nichts, auch wenn er mitkäme, das wusste ich, aber der Fakt, dass er so hartnäckig darauf bestand, machte mich fertig.
Soll mein Verlangen, Thomas zu besitzen, wenigstens nur ein einziges Mal, denn nie in Erfüllung gehen, soll meine Gier, mein Heißhunger nie gestillt werden? Soll ich in Ewigkeit mit dieser Sehnsucht weiterleben? Hätte uns Jochen an dem bewussten Abend in Ruhe gelassen, wer weiß, vielleicht wäre alles schon vorbei gewesen. So aber? Ich war gezwungen, immer wieder neue Auswege zu finden, neue Lügen zu erzählen, um mein Ziel zu erreichen. Je weniger Chancen uns Jochen lässt, umso mehr Anstrengungen werde ich unternehmen. Ich würde ihm lieber alles gleich erzählen, schon um mich mitzuteilen, als manches zu verschweigen, aber Jochens hysterische Reaktionen schrecken mich ab. Viele Möglichkeiten würden Thomas und mir jetzt sowieso nicht mehr bleiben. Er geht wieder zur Schule und wird sich nicht mehr bis mitten in der Nacht herumtreiben dürfen. Was wird uns weiter bleiben, als mal hier eine halbe und da vielleicht eine ganze Stunde abzuzwacken. Zu mehr als ein paar stürmischen Küssen zwischen Tür und Angel wird die Zeit nicht reichen.
Auf dem Weg zu mir versuchte ich es dann mit einer zaghaften Drohung: „Deine nächsten Besucher werde ich dann jedenfalls auch rausschmeißen!“
„Du kannst ja dableiben!“
Ein bisschen mehr als diese Antwort hatte ich schon erwartet. Der Schuss war wohl wieder danebengegangen. Ich hätte besser zielen sollen. Ich lud noch einmal und richtete mein schwaches Geschütz auf dieselbe Stelle: „Dableiben werde ich nicht, rausschmeißen werde ich sie.“
Jochen zeigte keinerlei Gefühlsäußerung.
„Du brauchst keine Angst zu haben, das würde ich sowieso nicht fertigbringen“, sagte ich.
Ich begann gleich damit, mein Bett zu bauen. Jochen hatte ich die Abschrift des Briefes an meine Schwester gegeben. Als der mit dem Lesen fertig war, weinte er schon wieder. Auf meine diesbezügliche Frage meinte er, er weine nicht über das, was da über uns beide geschrieben stand, sondern über das, was da noch stehe. Was da noch drinstehe? Das verstand ich nicht.
„Willst du nicht dein Bett machen?“, fragte ich weiter.
„Das kannst du ja tun, wenn du mich noch magst.“
„Was ist, wenn Thomas klingelt?“ Ich wusste, er würde nicht klingeln.
„Brauchst ja nicht zu sagen, dass ich hier bin.“
„Damit er hochkommt! Und dann?“
„Dann ziehe ich mich an und gehe.“
Als er aus dem Bad kam, sagte Jochen mir mit einem Küsschen gute Nacht.
„Möchtest du noch ein bisschen zu mir reinkommen?“, fragte ich ihn. Ich hatte noch das Licht an und las in Bathseba.
„Nein, ich bin müde.“
Thomas hatte zum Glück nicht geklingelt. Vielleicht hat er aber doch unter dem Fenster gestanden und hochgeschaut. Mir blieb nichts weiter übrig, als wieder nur von ihm zu träumen. Heute Abend nun hatte ich mich hingesetzt und folgenden Brief geschrieben.

        Lieber Thomas!                                                                                  2.9.88  20.45
Das ist bereits eine Auszeichnung, die Du wahrscheinlich gar nicht bemerken würdest, wenn ich Dich nicht besonders darauf hinweisen würde. Gewöhnlich beginne ich meine Briefe mit „Hallo ...“.
Dies ist nun der zweite Brief, den ich Dir schreibe, nicht aber auch der Zweite, den Du von mir erhältst. Vielleicht werde ich Dir von diesem Brief erzählen, bekommen sollst Du ihn nicht.
Noch als Jochen am Nachmittag mit mir telefonierte, um mir mitzuteilen, daß er bereits zu Hause sei, denn es wären zwei Stunden ausgefallen, und ich deswegen nicht mehr in die Kaufhalle brauche, da überlegte ich schon, wie ich es anstellen könne, etwas eher von der Arbeit zu verschwinden. Dies gelang mir auch. Das Ergebnis war aber nur eine halbe Stunde, mehr war leider nicht drin. Im Tiefflug stürmte ich nach Hause, immer in der Hoffnung, Du würdest vorbeigehen und sehen, daß ich schon zu Hause bin. Ich hob die schimmlige Erde aus dem Palmentopf, weil es sein mußte, weil ich Jochen Arbeit vortäuschen wollte, für den Fall, daß er käme, weil ich die Tischdecke ausstauben und auf dem Fensterbrett liegen lassen wollte. Ich schrubbte den Tontopf unter fließendem heißen Wasser, befreite ihn von dem schimmligen Belag, weil es sein mußte, weil ich heißes Wasser wollte, um mir das Gesicht zu waschen, um mir die Zähne zu putzen. Für Dich. Du kamst aber nicht. Notgedrungen wartete ich auch noch auf Meik. Der hätte vielleicht kommen wollen, wenn er meine Nachricht an der Tür gelesen hatte. Auch der kam nicht. Das war aber nicht so schlimm.
Der Minutenzeiger des Weckers war schon weit nach halb fünf, als es endlich klingelte und Du vor der Tür standest. Da war wieder alles gut, das Warten war vergessen. Ich warte gern auf Dich, immer. Warten ist immer mit Hoffen gepaart. Hört das Warten auf, hört auch das Hoffen auf. Dann folgt Erfüllung oder Trauer.
Dich zu spüren, erwärmte mich.
Doch ich muß gestehen, daß Du mir anfangs dann mit Deinem Wissen um mein Warten auf Dich und Meik erschreckt hast. Woher sonst als von Jochen konntest Du es haben. Nachher gabst Du es ja zu.
Erzählt hast Du nicht viel, die meiste Zeit hast Du aus dem Fenster gesehen. Wäre es doch mit Brettern vernagelt! Um uns herum sollte das ganze Land mit Brettern vernagelt sein. Das Wenige, das Du erzählt hast, handelte davon, daß Du bei Jochen warst, Ihr Kuchen gegessen und Euch unterhalten habt. Gut habt Ihr Euch unterhalten, ohne Euch wieder zu zanken, denn danach fragte ich ja extra. Mir ist es sehr recht, wenn Ihr Euch beide vertragt, je länger haben Du und ich einander, so dachte ich. Ihr habt Euch über Montagabend unterhalten. Das heißt, Jochen hatte Dich gefragt, was wir an dem Abend gemacht haben. Du hättest ihm erzählen können, das Wasser sei flüssig, er hätte Dir nicht geglaubt. Die zerwühlte Liege, die er noch aus seinen ersten Jahren mit mir kennt, Du noch dabei, Dir das T-Shirt in die Hose steckend, das deutete er heute noch einmal als Beweis genug dafür, daß mehr passiert sei, als nur Fernsehkucken.
Du warst heute so abweisend zu mir, das hat mich wieder unsicher und traurig gemacht. Abweisend ist vielleicht nicht das richtige Wort. Vielleicht distanziert, ja, distanziert paßt eher. Deswegen stellte ich die ängstliche Frage danach, ob Ihr beide zu einer Einigung gekommen wäret. Zu einer Einigung gegen mich.
Jochen hat Dir gesagt, daß ich Dich sehr liebe. Das brauchte er nun wirklich nicht, Du weißt es doch. Und Dich hatte er gefragt, ob Du mich liebst. Du weißt es nicht, hast Du ihm geantwortet. Aus Vorsicht oder weißt Du es wirklich nicht? Zu mir sagst Du, daß Du mich liebst. Ich glaube Dir. Laß mich nicht diesen Glauben verlieren. Du wolltest wissen, ob sich bei mir was geändert hat. Ich werde Dich nicht aufgeben, dabei bleibt es.
Du saßest im Sessel und blättertest im Rowohlt-Katalog, ich stand hinter der Rückenlehne und legte meine Wange an deine, meine Lippen suchten vorsichtig deinen Hals, da spürte ich wohl, daß dein Atem schneller ging und dein Herz aufgeregter schlug, aber sonst zeigtest Du keine Reaktion. Du hast Dich auch nicht direkt entzogen. Du hast abgewartet. Das ich gehe und wiederkomme, und abermals gehe und wiederkomme, bis Du mir den ersten Kuß gabst, auf den ich so sehr gewartet hatte.
Was ich an Dir denn so interessant finde, wolltest Du wissen, ob ich Dich nur lieben würde, weil ich schwul sei und kleine Jungs möge. Du kannst Hiebe austeilen, zuschlagen, ohne auszuholen!
Warum hatte man angefangen, die Liebe, das Begehren einzuteilen in solche und in solche Liebe und in noch viele andere? Sollen sich doch die lieben, die sich lieben wollen, egal wer, was oder wie alt sie sind. Vielleicht wird einmal die Zeit kommen, wo das als normal gilt. Zu Dir war ich immer ehrlich, habe meine Gefühle für Dich offen bekannt. Der Montagabend mit Dir war sehr schön, das habe ich Dir gesagt, die Erinnerung daran kann mir, uns beiden, keiner nehmen. Auch das war ehrlich. Das Du mir auf eine Wiederholung wenig Hoffnungen gemacht hast, stimmt mich wehmütig, damit muß ich mich abfinden. Aber ich warte auch mit wenig Hoffnung.
Jochen erzählte mir natürlich, daß Du bei ihm warst und worüber Ihr Euch unterhalten habt. Auch, daß Du Dich bei ihm rasiert hast. Das Du Dich für mich rasiert hattest, hast Du mir zu verstehen gegeben, nicht aber, daß Du es bei Jochen getan hattest. Auch, daß Du ihm erzählt hast, Du hättest andere Schwule getroffen, hat er mir erzählt. Jetzt würdest Du wohl bald kein Interesse mehr an uns (an mich) haben, meinte er. Das könne er sich ja dann als Erfolg verbuchen, warf ich ihm vor. Ich hatte Angst, daß es schon so weit ist. Ich wurde ruhiger und ruhiger, während Jochen obenauf zu schwimmen kam und redete wie ein Wasserfall. Ich sprach kaum ein Wort mit ihm. Wir saßen beide am Tisch, vor uns der Haufen Birnen, der zum Einwecken fertiggemacht werden sollte. Es war keine Einmachstimmung.
Ich habe mich gefreut, Dich heute Abend noch einmal gesehen zu haben, als Du zehn vor neun klingeltest. Ich freue mich immer, wenn ich Dich sehe. Auch wenn ich dich nicht in die Arme nehme, zärtlich zu Dir sein kann. Auch wenn ich Dich nur am Fenster sehe, weit weg, unerreichbar.
Bis morgen, Thomas.
                                  Friedemann


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