Die Hoschköppe / 23. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 23. Kapitel

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Donnerstag, 1. September 1988


Alles wird wieder gut werden, ich fühle es. Als ich am Morgen zur Arbeit ging, sah ich mich vom Treppenabsatz aus wie üblich um. Jochen schaute mir durch die handbreit geöffnete Tür mit einem Lächeln nach und winkte. Es war wohl für ihn seit Langem die erste Nacht, in der er wieder ruhig geschlafen hatte. Das tat uns beiden gut. Wovon Jochen träumte, weiß ich nicht. Er behauptet immer, niemals zu träumen, aber das ist natürlich Quatsch. An ein paar Bilder meines eigenen Traumes kann ich mich noch ganz genau erinnern. Es ist immer wieder erstaunlich, was man sich im Schlaf alles zusammen spinnt. Ich sehe noch ziemlich deutlich, wie mehrere Mädchen damit beschäftigt sind, von einer offenen Lkw-Ladefläche haufenweise Cremetorten abzuladen. Sie warfen sich dabei die einzelnen Torten genauso zu, wie man es beispielsweise mit Mauersteinen tun würde, hat man nichts weiter zur Hilfe als die eigenen Hände. Das Mädchen, das die dahersegelnden Torten auffangen sollte, stand in einem süßen Krater aus pampiger Schokoladencreme und trat von einem Bein aufs andere. Sie selber natürlich von oben bis unten bekleckert. Von Weitem sah die Sache recht lustig aus. Das Ungewöhnliche an diesem Traum ist nicht etwa das absurde Tun der Mädchen, das kann man ja vielerorts und immer wieder beobachten, sondern das es Mädchen waren. Diese Spezies treibt höchst selten in meinen Träumen ihr Unwesen. Meist sind es knackige Jünglinge, mit denen ich es zu tun habe und von denen mich erst der Wecker losreißt. Daraus kann man schließen, dass mein gesamtes Nervenkostüm stark zerrüttet ist. Sollten noch einmal Mädchen in meinem Traum vorkommt, muss ich dringend zum Arzt.
Natürlich spielt auch Thomas eine bedeutende Rolle in meinen nächtlichen Fantastereien. Auch in dieser Nacht. Zum Glück!
Thomas und immer wieder Thomas. Ich weiß wirklich nicht, was ich von ihm halten soll. Ich kann nicht glauben, dass er Jochen verderben, dass er vielleicht auch mich nur in eine tiefe Kuhle stoßen will. Kann einer mit so viel Leidenschaft und Feuer küssen, so liebevoll und zärtlich sein, aus reiner Berechnung, sich im Stillen weidend an den zugefügten Qualen? Ich kann und will das einfach nicht glauben!
Das Abendessen verlief gestern zwar ohne Tränen aber doch ziemlich trostlos. Ein nebeliger Herbstabend, an dem die Tropfen von den gelben Blättern fallen, kann kaum trostloser sein. Jochen sprach kaum ein Wort mit mir und wenn doch, dann nur ja oder nein. Sein Appetit war auch noch nicht wieder vollständig zurückgekehrt. Er starrte auf die Scheibe Brot vor sich, die er mit Rahmbutter flüchtig bestrichen und mit einer Scheibe Leberkäse belegt hatte, biss hin und wieder lustlos hinein und war den Tränen doch schon wieder reichlich nahe.
„Hast du mir was zu sagen, Schieter?“, fragte ich. Vor der Antwort war mir aber bange.
Als ich zu ihm nach Hause kam, lag Jochen zusammengekauert und mit der Schlafdecke zugedeckt auf der Liege. Er schlief aber nicht. Er sagte auch nichts. Ich war aus der Kaufhalle gekommen und stellte nun den Einkaufsbeutel in der „Küche“ auf den Stuhl. Bei meinem Gang durch die Wohnung fielen mir dann sofort einige Dinge ins Auge, die dies wohl auch tun sollten. Die beiden letzten Briefe vom Theater mit den Karten und Programmen für die beiden nächsten Aufführungen lagen aussortiert und abseits. Statt Jochen schrien sie mich förmlich an. Das Buch, welches er sich nach dem Federballspiel von mir mitgenommen hatte, lag noch immer in der Plastetüte auf der Flurgarderobe. Obenauf hatte er dann später, als ich den Tisch deckte, noch wortlos mein T-Shirt gelegt, das zum Trocknen im Bad gehangen hatte. Dort lehnten sich jetzt zwei prall gefüllte Plastetüten an die Waschmaschine, die wohl alle die Dinge enthielten, die bei einer eventuellen Haushaltsauflösung in seiner Wohnung nicht vorgefunden werden sollten. Ich sah nur flüchtig hinein, hatte aber sofort diesen Eindruck. Sogar die Poster mit den nackten Kerlen lagen zusammengerollt zum Mitnehmen bereit. Wahrscheinlich sollte ich diesen ganzen Kram mit zu mir nach Hause nehmen. Wie ernst ich diese Sache nehmen sollte, war mir durchaus nicht klar. War das jetzt sein Hilferuf, eine Warnung oder eine Drohung? Oder spielte er jetzt mir etwas vor? Ich hatte ihm am nächsten Tag, nachdem das mit der Badewanne war, gesagt, dass ich Thomas nur etwas vorgespielt habe, ich hätte dessentwegen keine einzige Träne vergossen. Heute bin ich mir allerdings nicht mehr so sicher, ob das von mir wirklich nur gespielt war, denn ich hatte tatsächlich kaum einen Schmerz empfunden, als ich mir am Badewannenrand die Birne einrennen wollte.
Wie sollte ich mich nun verhalten? Was erwartete Jochen von mir? Sollte ich mich wieder tröstend an seine Seite setzen, alles Gewesene herunterspielen zu einem verzeihlichen Ausrutscher und versprechen, es werde nie wieder vorkommen, oder die Sachen nehmen und damit nach Hause gehen? Ich wusste es nicht. Wie würde Jochen reagieren? Nachdem er Thomas bei mir rausgeschmissen hatte, wusste er in seiner Wut und in seinem Kummer nichts Eiligeres zu tun, als sogleich ein Testament zu schreiben. Das hatte er mir am Morgen darauf gesagt, als ich ihn danach fragte, was er geschrieben habe, denn der Schreibblock lag noch auf dem Tisch.
Jetzt antwortete er auf meine Frage nichts weiter als: „Nein.“
Ich hatte mehr erwartet. Aber auch gut. Nach einer Weile rückte er damit heraus, dass Thomas um fünf unter dem Fenster gestanden habe.
„Und, was wollte er?“, fragte ich.
Warum, zum Teufel, lässt Thomas ihn nicht in Ruhe, dachte ich. Ich hatte ihn doch gebeten, ihm ans Herz gelegt, aufzuhören mit solchen Aktionen, die Jochen so zu schaffen machen. Ob er uns beide auseinander bringen wolle, hatte ich ihn besorgt gefragt, denn darauf laufe es doch am Ende hinaus, wenn er diese Späße nicht unterlässt. Ich meinte dabei Thomas und mich. Nun befürchtete ich, Thomas könne tatsächlich das wahr machen, was er am Dienstagabend prophezeit hatte: Er wolle Jochen fertigmachen! Ich war der Meinung gewesen, dass diese Ankündigung eher der noch nicht verwundenen Demütigung, die er bei seinem Rausschmiss erfahren hatte, zuzuschreiben sei und nicht seine wirkliche Absicht sein könne.
„Er wollte mich nur mal sehen“, sagte Jochen. „Ich war aber nicht in der Stimmung, ihn sehen zu wollen. Habe die Gardine zugezogen und ihn stehen lassen. War gerade dabei, einen Brief zu schreiben.“
Pause. An wen mag der Brief gerichtet sein, überlegte ich. Ein Abschiedsbrief vielleicht? An seine Mutter, an mich, möglicherweise sogar an Thomas? Jochen rückte nichts Genaueres heraus.
Nach einer Weile sagte er dann: „Anschließend wird er wohl gleich zu dir gegangen sein.“
„Nein, das ist er nicht“, konnte ich wahrheitsgemäß antworten.
Daher rührte also seine Bitternis, denn ich war später gekommen als versprochen. Ich hütete mich natürlich ihm zu beichten, dass Thomas schon davor bei mir gewesen war, dass der mich auf den Stufen vor der Haustür sitzend schon erwartet hatte, als ich von der Arbeit kam. Thomas wusste auch diesmal, dass ich wieder früher daheim sein werde. 15 Minuten nach 4 war er gegangen.
„Immer, wenn es am schönsten ist, müssen wir uns trennen“, hatte ich zu Thomas gesagt.
Nun sah ich mich veranlasst, mir mit einer Halbwahrheit ein einigermaßen glaubhaftes Alibi für mein längeres Wegbleiben zurechtzuzimmern. Ich sagte: „Ich habe einen längeren Brief an meine Schwester geschrieben.“
Nach einer Weile fragte Jochen: „Wollen wir nach dem Abendbrot noch ein bisschen rausgehen? Hier drinnen fällt uns nur wieder die Decke auf den Kopf.“
Draußen ist es der Himmel, dachte ich. Aber vielleicht würde sich so einiges in Luft auflösen, würde so manches in der angenehmen Abendbrise in einem anderen, einem besseren Licht erscheinen. Sogleich nach dem Essen wollte Jochen aber nicht, da wären noch zu viele Leute unterwegs.
„Gut, dann gehen wir, wenn es dunkel ist.“ Mir sollte es recht sein. Ich nutzte die Zeit, um Harald eine kurze Antwort zu schreiben.

Hallo Harald!    1.9.88
Vielen Dank für Deinen Brief. Ich glaube auch, daß es Dir mal gut tut. Uns allen!
Kommt beide ruhig vorbei, wenn Du in der Stadt bist. Da die Sache aber noch ungewiß ist, kann ich Dir nicht sagen, wo Ihr uns antreffen werdet oder ob wir überhaupt zu Hause sein werden.
Herzliche Grüße von Friedemann

Da Harald Jochens Adresse nicht kennt, war dieser Brief eigentlich mehr als nur eine kleine Gemeinheit.
Es war dann doch noch hell, als wir unseren alten Weg in Richtung Strand einschlugen. So viele Leute waren nicht zu sehen, wie Jochen befürchtet hatte. Hin und wieder überholte uns ein Läufer oder kam uns entgegen. Die rangen aber alle mit ihrer Kondition und der knappen Puste und hatten nicht auch noch die nötige Muße, sich um uns zu scheren. Unterwegs erzählte ich ihm, dass ich meiner Schwester nun endlich alles das geschrieben habe, was ich ihr schon immer hatte sagen wollen.
„Was alles? Auch über mich?“, fragte Jochen.
„Ja, auch über uns. Das gehört doch dazu. Ist dir das nicht recht?“
„Doch.“
Ich war mir sicher, jetzt den größten Stein von Jochens Herzen geschubst zu haben. Man hätte ihn eigentlich plumpsen hören müssen. Konnte es einen besseren Beweis meiner unverminderten Liebe zu ihm geben, als mich meiner Schwester anzuvertrauen? Ich schmeichelte mir selbst. Oder konnte er etwa einen noch Besseren erwarten? Der Brief liege aber noch bei mir zu Hause. Ich werde ihn abschicken. Heute noch.
In unseren ersten Jahren waren wir oft an lauen Sommerabenden diesen Weg gegangen, Vöglein sangen Lieder … Die Dämmerung hatte all unsere Heimlichkeiten verschluckt. Nur wenn wir anderen Spaziergängern begegnet oder ins Scheinwerferlicht eines Autos geraten waren, dann hatten wir wie zwei harmlose Fußgänger getan, nicht wie Verliebte. Es war schön damals und ist lange her. Gestern Abend wurde es wieder wie einst. Wir umarmten einander und jeder spürte beim zärtlichen Küssen wieder des Anderen Steifen.
„Bleibst du die Nacht wieder bei mir?“, fragte Jochen.
„Ja.“
Alles wird wieder gut.
Ich konnte mir nicht verkneifen, einen Augenblick später zu fragen: „Wie lange ist eigentlich Frank geblieben?“
„Bis halb 10.“
„Und was hast du mit ihm gemacht?“
Noch zu Hause hatte ich zu Jochen gemeint, er solle in Thomas um Gottes willen nicht mehr sehen, als ich in Frank. Jochen hatte aber entgegnet, Frank sei da ganz anders, der würde keinen Unterschied machen, der käme zu uns beiden, den könne man nicht mit Thomas vergleichen.
Daran ist allerdings viel Wahres. Wenn sich Franks Ding wie eine Kobra aufgestellt hat, dann kann sich ein Thomas bequem dahinter verstecken.


Mittwoch, 31. August 1988 - Freitag, 2. September 1988

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