Die Hoschköppe / 22. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 22. Kapitel

Texte > Die Hoschköppe

Mittwoch, 31. August 1988


Für das Weltgeschehen hat ein Einzelschicksal keinerlei Bedeutung, ganz gleich, ob es sich dabei um mich oder um eine andere Ameise handelt. Und trotzdem nehme ich mir die Freiheit heraus, Dir meine Story aufzudrängen, obwohl sie, wie gesagt, keinerlei Bedeutung für den Fortgang der menschlichen Geschichte haben kann. Für mich und Jochen hingegen, und wohl auch für Thomas, ist das Geschehen, das Du bis hierher miterleben musstest, doch von erheblichem Belang. Besonders die letzten Tage waren für alle Beteiligten voller Aufregung und Spannung, sodass ich nicht in der Lage war, meine Aufzeichnungen kontinuierlich fortzuführen, was Du am Sprung vom neunzehnten auf den 31. August bemerkt haben wirst. Im Folgenden will ich mich bemühen, und ich hoffe, es gelingt mir einigermaßen, den wesentlichen Inhalt der vergangenen Tage wiederzugeben.

Sonnabend, 20. August
Schwester Renate, eine Kollegin, hatte mir Pflaumen zur privaten Herstellung von alkoholhaltigem Wein angeboten. Deswegen fuhren wir, Jochen und Thomas wollten unbedingt mit, nachmittags mit dem Stadtbus nach Brinkmannsdorf. Jochen war ihr schon von einem Kollektivausflug nach Hiddensee bekannt, nach Thomas hatte sie zum Glück auch am darauf folgenden Montag nicht gefragt, denn ich wäre wohl in arge Verlegenheit geraten, hätte ich ihr diesen blonden Papagei erklären sollen. Zu dritt waren die Pflaumen rasch aufgesammelt. Wahrscheinlich gaben wir drei mit Pflaumen überhäuften Jungs ein zu trauriges Bild ab, denn sie bestand darauf, uns nach Hause zurückzufahren. Bei mir im Bad steht eine gelbe Kinderbadewanne, dort hinein schütteten wir erst einmal unsere Last. Die Arbeit, die ich mir damit aufgeladen hatte, würde wohl nicht weglaufen. Die Obstfliegen ließen sich allerdings keine Zeit, sie begannen sofort. Wir ließen sie in Ruhe werkeln, denn wir mussten zu Jochen, um Zitronenkuchen zu essen. Anschließend bummelten wir zu Fuß nach Warnemünde, dort durchs Gewühl auf dem Flohmarkt hinterm Kurhaus, dann auf der Mole bis zum neuen Leuchtturm und zurück bis nach Lichtenhagen. Jochen mochte nicht, dass ich in der Mitte ging. Er zog mehrmals eine Flappe deswegen. Warum, weiß ich nicht. Irgendwann zwischen 21 und 22 Uhr war Thomas nach Hause gegangen, kam aber dann um 23.30 Uhr wieder. Bei ihm zu Hause schliefe schon alles, meinte er und blieb bis 2.30 Uhr. Fragt nicht danach, was wir die ganze Zeit gesprochen oder getrieben haben! Ich weiß es nicht mehr. Es ging auf keinen Fall immer lustig zu. Ich stritt mich jedenfalls mit Jochen um einen Apfel, den niemand von uns beiden zu teilen bereit war. Der Apfel ist natürlich Thomas.

Sonntag, 21. August
Jochen und ich waren bei seiner Mutter zum Mittag eingeladen. Seine ältere Schwester, ihr Mann und der Sohn waren zu Besuch. Abends kam wieder Thomas zu uns, es war 21.45 Uhr. Er brachte mir folgenden Brief mit.


                    Hallo Friedel!
Als unsre Freundschaft (zu dritt) noch im Entwicklungsstadium
war, dachte ich nicht, daß Du mir so gefallen könntest.
Sagen wir das Blatt hat sich gewendet, aber zu wessen Gunsten.
Profitieren wird Joschi sicher nicht daraus, wenn ich mich
mehr und mehr zu Dir hingezogen fühle. Er hat es gemerkt,
und das macht uns die Sache nicht leichter. Leichter ist dann
aber auch bestimmt nicht das Zusammenleben mit Joschi –
Deinerseits. Du sagst, ich hätte wieder „Leben in die Bude“
gebracht, ja das hab ich wohl - aber jetzt lebt Ihr gefährlich,
im Gegensatz zu früher. Einerseits möchte ich Euch und jetzt
vor allem nicht Dich verlieren und andererseits will ich auch
Joschi nicht verletzen und vor den Kopf stoßen. Diese Nacht
werde ich wohl nie vergessen, auch wenn ich einmal nicht
mehr mit Euch zusammen sein sollte. Und den Tag, ob Du
es willst oder nicht, wird es einmal geben. Vielleicht hatte
ich mit den Karten wirklich schon die Zukunft bestimmt.
War es wirklich nur Zufall? Ich überlege schon seit Stunden,
ob wir nicht wirklich einen Schlußpunkt setzen sollten.
Es wäre auf jeden Fall eine Lösung, Joschi nicht weiter betrügen
und quälen zu müssen. Ob es für Dich auch die Lösung wäre,
mußt Du mit Dir selbst ausmachen. Ich will dir ehrlich sagen,
daß Du mir damit sehr weh tuhen würdest. Du hast mir
ins Ohr geflüstert, Du würdest mich lieben, wem hast Du
das denn nicht schon alles erzählt. Ich hatte auch Angst,
Dir zu antworten - mit den gleichen Worten. Aber es reicht ja
wohl, daß ich es gedacht habe. Zu rückkommend auf den
Punkt, dem dieser Brief zu Grunde liegt.
Wollen wir uns nicht noch mehr reinreiten, als wir es ohnehin
schon taten. Es würde mich doch auch quälen, dem einen zu
sagen, daß ich Ihn mag und den anderen liebe ich wirklich.
Daß es nicht leicht für Euch ist, verstehe ich wohl - sogar gut, aber
wer fragt mich, wie ich mich fühle. Ich muß es Euch jetzt sagen,
ich hatte an diesem Abend einen Nervenzusammenbruch,
ganz einfach, weil mich das alles total mitgenommen hat.
Dabei muß man nicht rumtoben oder ausflippen, es reicht
oftmals schon, das Gleichgewicht zu verlieren und schwarz zu
sehen. Und dann kommt auch noch die unheimliche
Körperhitze (Temperatur) dazu. Deswegen gestern die kleine Dusche
unterm Wasserhahn mit freien Oberkörper. Aber darauf wollte
ich jetzt nicht so zu sprechen kommen. Wichtiger ist jetzt, was
Du und Joschi unternehmen wollt, um weitere Ausbrüche
bei Ihm und auch bei Dir zu vermeiden.
Friedel - ich habe vielleicht nicht
das Recht, es Dir zu sagen, aber ich
tue es jetzt doch - ich brauche
Dich und das nicht allein,
dazu kommt auch noch, daß
ich Dich liebe.
                      Thomas
Montag, 22. August
Als ich von der Arbeit nach Hause kam, fand ich ein kleines Faltkärtchen vor, das hinter meinem Namensschild an der Wohnungstür steckte. Es maß 68 x 68 Millimeter, war in der linken oberen Ecke mit einem Loch versehen, durch das wohl ursprünglich ein Bändchen ging, und trug auf der Vorderseite auf weißem Grund ein rotes stilisiertes N, in dessen weiße und rote Balken mit Bleistift lieben heißt sterben geschrieben stand. Die Rückseite zierte ein ebensolches N, allerdings in Miniaturgröße, darunter Nürnberg. Links daneben, auch mit Bleistift geschrieben: Liebe ist Tod. Rechts: der Tod. Über allem prangte, in Tinte gemalt: 16.45 UHR Zeitungskiosk Thomas. Wobei Thomas vom Schreiber genau über der Tod platziert worden war. Ich klappte das Kärtchen auf und las folgendes:

„Die Geschichte des Nürnberger Trichters
Ein legendäres Instrument, mit dem Wissen und Weisheit 'eingetrichtert' werden können. Der Nürnberger Erfindergeist, 'Nürnberger Witz' genannt, war seinerzeit so weitbekannt, daß man ihm auch die Erfindung dieses Wunderinstrumentes zu traute. Indes mußten später die Nürnberger mit ihrem Trichter auch Spott einstecken. So von dem Münchner Witzblatt 'Flie-gende Blätter' (1844): 'Auch die beriemten Nürnberger Trichter sind hier von einem Schuhmacher und Zeitungsredakteur namens Hans Sachse erfunden, doch kommen diese gar nicht ins Ausland, weil nicht einmal für den Stadtbedarf genug kennen verfertigt werden, woran man aber im allgemeinen eigentlich immer nur wenig bemerkt.'
Die Kulturhistoriker allerdings wissen es anders: Der Nürnberger Gerichts- und Ratsherr Georg Philipp von Harnsdörffer (1607 - 1658), der Begründer des Sprach- und Literaturvereins 'Pegnesischer Blumenorden' ist der Verfasser des berühmten Lehrbuches 'Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht- und Reimkunst ohne Behuf der lateinischen Sprache in VI Stunden einzugießen'. Das Buch erschien 1648 in Nürnberg, jedoch ohne den Namen des Autors. Daraus machte der Volksmund den 'Nürnberger Trichter'.“


Am Türdrücker hing eine Plastetüte, auf der WOOLWORTH zum Schulanfang '85 diverses Schreibzeug und Hefte zum alsbaldigen Kauf anbot. Drinnen lagen bunte Aufkleber, die ich wohl in meinen Collagen verarbeiten sollte. Ich hatte Thomas um dafür geeignetes Material gebeten. In der Stube schüttete ich alles auf den Tisch. Zwei Aufkleber warben für TANGO ARGENTINA, einer für TURKEY, für BENIDORM AUS TAUSEND GRUNDEN, auf einem weiteren bietet Niedersachsen seine Badeküste an, zwei Schleswig-Holsteiner Fische beteuern HERZ IST TRUMPF, dann wird behauptet, dass DAS RUHRGEBIET. Ein starkes Stück Deutschland. und Berlin - Kulturstadt Europas 1988 sei. Auch von der Hamburg-Münchener Ersatzkasse war ein runder Sticker dabei, der die Karikatur eines Mannes mit übertrieben großer Nase darstellt und als Aufschrift DROGEN ? ICH GLAUB ICH SPINNE ! trägt. Des Weiteren einer vom 3-Sterne-Hotel NILO Paguera - Mallorca und einer von CHARITOS TRAVEL, das Top Service For Travellers in Aussicht stellt. Und zu alledem hatte Thomas noch drei Banknoten der Deutschen Bundesbank (10, 50 und 100 DM) gelegt. Noch nie hatte ich Westgeld in meinen Fingern gehabt und nun gleich so viel. Nein, das stimmt nicht. Als ich noch in Prenzlau wohnte, einer furchtbaren Stadt in der Uckermark, hatte mir eine Kollegin, eine ledige Pastorentochter mit zwei Kindern, 15 DM mit der Bitte gegeben, ich solle ihr aus einem Leipziger Intershop ein ganz bestimmtes Riechzeug mitbringen. Leider sind diese Scheine, die mir Thomas so großzügig hinterlassen hatte, viel zu klein, als dass sie jemand in Zahlung genommen hätte.

Ich war auf dem Weg zum Zeitungskiosk, als mir Thomas schon an der Kaufhalle entgegenkam. Augenscheinlich wollte er mich besuchen. Leider musste ich ihm eine Abfuhr erteilen, denn um fünf, und bis dahin waren es nur noch wenige Minuten, wollte Jochens Mutter kommen und Pflaumen holen. Erst war Thomas erstaunt darüber, dass ich ihn so einfach abblitzen ließ, was mir natürlich sehr leidtat, dann aber hochgradig eingeschnappt. Er verriet mir nicht, ob er ein bestimmtes Anliegen habe. Wieder zu Hause begann ich mit dem Entsteinen der winzigen Pflaumen. Ich dachte, es sei bestimmt besser, sie ohne Stein zum Gären zu bringen, merkte aber bald, wie mühselig das werden würde. Schon nach kurzer Zeit bekamen meine Fingerkuppen eine bräunliche Verfärbung, wie wir es bei den Rauchern kennen. Mit nur 20 Minuten Verspätung klingelte dann endlich Jochens Mutter. Ihren Besuch, also Jochens Schwester inklusive Mann, hatte sie auch gleich mitgebracht. Zwecks Vorführung. Meiner!
Abends begann Jochen, einen Brief an Thomas zu schreiben:

Ich muß gestehen, daß ich für dich anfangs sehr
viel Sympathie empfunden habe. Vielleicht war
es zwischenzeitlich sogar mehr als nur das.
Was sich allerdings in den letzten 72 Stunden er-
eignet hat, läßt mich an einer echten Freund-
schaft zwischen uns zweifeln. Ich habe immer
mit dem (meinem) Gefühl zu kämpfen gehabt,
Dir nicht wehzutun, Dich zu verstehen und in
Deinen Augen nicht mißverstanden zu werden.
Ich wußte, daß Dich Aufdringlichkeit anekelt. Ich
war mich meiner mißlichen Lage immer be-
wußt.
Jetzt allerdings haben sich in mir nur Haßge-
fühle aufgebaut. Ich kann kaum noch klare Ge-
danken fassen, habe Mühe sie auszusprechen und
bin den Tränen näher als Du es glauben wirst.
Für mich kann es in dieser Situation nur eine
Alternative geben. Ich werde es nicht zulassen,
daß innerhalb weniger Tage 8 Jahre !! meines
Lebens durch Dich zerstört werden. Ich werde
nicht um unsere Freundschaft, aber um Friedel
kämpfen. Er hat einiges an Vertrauen, was ich ihm
schenkte und was wir uns in langen Jahren des
Miteinanderlebens erworben haben, innerhalb
weniger Stunden aufs Spiel gesetzt. Er hat mich
Deinetwegen belogen, und Ihr habt ein grausames
Spiel mit mir getrieben. Ich wünsche es keinem!
Der Keil, den Ihr beide angesetzt habt, hat
mein Herz verletzt. Beide habt Ihr es zu zer-
stören versucht. Doch die Wunde wird langsam
zuheilen.
Irgendwann in den letzten Tagen hatte Thomas damit angefangen, Jochen und mir zuerst nur zum Abschied, dann aber auch zwischendurch einen flüchtigen Kuss zu geben. Von da an fühlte ich mich stärker denn je zu ihm hingezogen. Thomas tat dann so unschuldig und naiv. Schon allein, wenn er mir in die Augen sah oder mich berührte, in Momenten, wo es Jochen nicht mitbekam, hob ich vom Boden ab und war im Steigflug schon über den Wolken, wo es so wunderbar ist.

Dienstag, 23. August
Während der Arbeit hatte Jochen am Brief weiter geschrieben:

                12 Stunden später               23.8.88  7.45 Uhr
Den Brief, den ich vor mehr als 12 Stunden ange-
fangen habe zu schreiben, werde ich fortsetzen.
Dabei hat sich gestern Abend in unserem Gespräch,
oder besser gesagt im „Streit“, gezeigt, daß ich viel zu
gefühlsbetont reagiere und Dir und Fr. Vorwürfe
mache, die nicht immer den Tatsachen entsprechen.
Ich hoffe aber, daß Du mich verstehen kannst,
wenn ich so impulsiv reagiere und mir verzeihst.
Eigentlich bereue ich Minuten später, was ich Dir
zuvor an den Kopf geknallt habe. Hier geht es aber
um mich und meine Existenz.
Du hast mir gestern Abend gesagt, daß ich in
meinen Ansichten nur an mich und meine Freund-
schaft zu Fr. denke. Das ist zwar richtig und vorder-
gründig liegt mir an dem Zusammensein mit Fr.
sehr viel. Aber dennoch bist Du in den letzten Wochen
ein Teil von mir geworden. Ich müßte lügen, wenn
ich behaupte, daß Du mir völlig gleichgültig bist.
Ich mag Dich sogar sehr gern.
Heute Morgen habe ich vergeblich am Fenster gestanden
und gewartet. Ist das ein Zeichen dafür, daß Du mich
nicht mehr magst! Nachdem, was ich Dir alles vorge-
worfen habe, wäre es jedenfalls kein Wunder. Ich habe
es mir selbst zuzuschreiben.
              8.10 Schluß, es ist einfach zu viel Hektik hier.
11.35Uhr
Scheiß Arbeit, nichts kann man vernünftig
zu Ende (den Brief! nicht das, „Buch“ !) bringen. Der
Dichter läuft andauernd in seinem Zimmer auf und ab.
Ich wünsche mir, daß Du heute Abend wieder vor meiner
Tür stehst. Ob es eintrifft, werde ich sehen. Ich glaube
jedenfalls daran. Und ich glaube auch, daß wir uns
mehr zu sagen haben. Auch ich muß lernen, meine
Eifersucht in Grenzen zu halten. Es ist nicht einfach.
Du kannst mir dabei helfen!
Im Grunde genommen hast Du es schon. Als Du
mir gestern Abend sagtest, Du müßtest um 21.00 Uhr
zu Hause sein, glaubte ich Dir wirklich nicht.
Ich habe ein Stück Vertrauen zu Dir zurückgewonnen,
als kurz nach 21.00 Uhr das kleine „Lichtlein“
flackerte. Galt es mir oder uns oder wem?
Wenn unsere Freundschaft auf Dauer existieren soll,
müßt Ihr beide mir helfen, muß ich zu Euch mehr
Vertrauen gewinnen, darf ich von Euch immer die
Wahrheit erwarten. Oftmals ist es bitter, die Wahr-
heit zu erfahren, doch leben läßt es sich besser
damit als mit einer Lüge. Und Offenheit auch
in dieser Frage zahlt sich für alle Partner aus.
Fr. wird Dir bestätigen, daß ich ihm eher verziehen
habe, wenn mir von Anfang an die Wahrheit
über Kontakte, die er zu anderen hatte, erzählt
wurde. Wenn ich hinterher durch andere oder
durch Gespräche erfahren habe, daß er Kontakt zu anderen
„Männern“ hatte, kam es schnell zu Eifersuchts-
szenen, wie Du sie miterleben konntest.
Schluß:
Um dieses gegenseitige Mißtrauen abzubauen,
bitte ich Dich um Geduld und Rücksicht.
             Laß uns eine echte Freundschaft herstellen.
                                                        Gruß Jochen
                    P.S.  Ich warte !!!

Thomas spricht sehr gern in Bildern. Er hatte sich selbst schon öfter mit einem Buch verglichen, das Jochen und ich in eine Ecke schmeißen würden, sobald wir genug darin gelesen hätten.
Von Sonntag bis Donnerstag schlafe ich normalerweise nicht bei Jochen, dann gehe ich meist gegen 21 Uhr nach Hause. Wenn Thomas bei uns war, kam es mitunter vor, dass er gleichzeitig mit mir das Haus verließ. Auch er wollte dann nach Hause, oder gab jedenfalls vor, nach Hause zu gehen. Jochen hegte immer den Verdacht, Thomas werde zu mir gehen. Wenn die Vorstellung, Thomas sitzt bei mir, übermächtig wurde, kreuzte Jochen unverhofft bei mir auf, um dann erleichtert festzustellen, dass ich wider alle Erwartungen doch allein bin. Ich, sonst durch und durch ungläubig, betete in solchen Augenblicken darum, Thomas möge nicht von selbst auf diese Idee kommen. Obwohl ich in Wirklichkeit nichts sehnlicher erwartete. Ich hatte ihm bisher nie ein solches Angebot gemacht und Thomas hatte auch nie darum gebeten, mitgehen oder zumindest nachkommen zu dürfen.
Es war nachmittags, ich war kaum zu Hause, als Thomas klingelte. Er brachte ein kunstvoll zusammengefaltetes Blatt karierten Schreibpapiers mit, dass er mir anfangs gar nicht hatte dalassen wollen. Er hatte aus verschiedenen Aufklebern etwas zusammengeschnipselt und handschriftlich ergänzt. Zu lesen war:

PARADIS IN DER Hölle
Das Erlebnis für Dich und mich!
AUS TAUSEND GRUNDEN könnt ich Dich lieben!
TANGO zu dritt
Bei dreien stört einer
Vielen Dank für Ihren Besuch - es war der letzte!
mein Urlaub in der Hölle!
LUXUS, den ich mir nicht leisten kann und auch
nicht darf.
DORN BEIM lieben.

Wir ließen diese Thesen kommentarlos auf dem Schreibtisch liegen und begaben uns ins Bad, um gemeinsam weitere Steine aus dem nicht kleiner werdenden Pflaumenberg zu pulen. Auf dem Weg dorthin kam es vor dem Spiegel im Korridor zu einem unvorhergesehenen Zwischenfall. Wir haben uns das erste Mal geküsst. Richtig geküsst!! Es ergab sich einfach. Thomas war vorausgegangen, hatte sich spontan umgedreht und mich verschmitzt angelächelt. Und wie von einer unsichtbaren Kraft getrieben, umschlangen wir uns mit den Armen, die unsere Körper aneinander pressten, meinen alten und Thomas‘ jungen. Die offenen Münder lagen fest aufeinander wie zwei miteinander verschraubte Flansche, durch die sich unsere Spucke vermischte. Im Ring der Zähne fochten die Zungen einen wilden Kampf aus, bis sich Thomas um Hilfe ringend als unterlegen ergab, denn ich hatte seine Zunge bis weit in meinen Rachen hinein gesogen. Ich ließ meine Hände auf Thomas‘ Hosenpo rutschen, griff kräftig zu und drückte dessen erwachte Lende an meinen Steifen. Wir sahen einander einen Augenblick in die Augen und küssten uns erneut. Dabei dämmerte uns ganz langsam die Tragweite dieses Unfalls. Ich dachte sofort an Jochen. Und zwar, wie ich ihm das am besten verheimlichen konnte. An wen Thomas dachte, weiß ich nicht. Vielleicht an seinen Busenfreund Raymond? Wir rissen uns mit schwacher Gewalt voneinander los und gingen nach einer angemessenen Erholungspause doch noch ins Bad, wo wir uns auf den Badewannenrand setzten und mit der Arbeit begannen, die ich jetzt gern tun wollte. In gewissen Abständen, sagen wir mal nach fünf bis sechs entsteinten Pflaumen, erhob ich mich, beugte mein Gesicht über das von Thomas und gab ihm erneut einen gern empfangenen Kuss. Während Thomas dabei die Augen schloss, behielt ich meine offen, um den Reißverschluss an seiner engen Jeans beobachten zu können, der sich jedes Mal anhob.
Gegen halb sechs machten wir Schluss mit unserer sogenannten Arbeit. Ich musste zu Jochen, Abendbrot essen, und Thomas nach Hause, denn Jochen hätte mit einem Blick auf Thomas‘ Fingern sofort gewusst, dass er schon längere Zeit bei mir gewesen war. Zu Hause wollte Thomas versuchen, seine Finger wieder klar zu bekommen, was sich aber vorläufig als hoffnungslos herausstellte. Und außerdem hatte uns die neugierige Charlotte weggehen gesehen.
Nach dem Abendessen ging ich zurück, die Pflaumen drängten zur Eile. Ein ganzer Schwarm dieser kleinen widerlichen Obstfliegen hatte sich inzwischen auf ihnen niedergelassen und trampelte im Gleichschritt darauf herum. Irgendwann nach 9 kamen Jochen und Thomas und halfen. Mein erster Gedanke beschäftigte sich mit der Frage, ob die beiden nun auch einen Unfall hatten. Wie Jochen später erzählte, hatte er am offenen Fenster den Brief an Thomas noch einmal abgeschrieben und ihn dann mit dem Brief herüber gewunken. Wie lange wir drei uns an dem Abend mit den Pfläumchen herumgeschlagen haben, kann heute nicht mehr gesagt werden, auf alle Fälle wurden wir nicht fertig damit. Das Ende war kaum näher gerückt.
In der Nacht schlief ich bei Jochen. Er hatte darauf bestanden. Misstrauisch hatte er mich und Thomas in den letzten Tagen beobachtet und wollte nun damit ausschließen, dass ich mich heimlich mit Thomas treffe. Ich war sauer auf ihn, weil er mir die Chance nahm, ihn zu hintergehen, denn darauf hatte ich es doch eigentlich abgesehen. Doch noch sah ich meine Chance gar nicht gekommen, noch meinte ich, Thomas werde auch Jochen so stürmisch und heiß umarmen, sobald sich die Gelegenheit dazu bieten würde. Und ich befürchtete, diese Gelegenheit werde kommen. Jochen bestand auch an den anderen Abenden darauf, dass ich bei ihm übernachte. Ich sann auf Auswege.

Mittwoch, 24. August
Es war mir ein Leichtes, es so einzurichten, dass ich früher als gewöhnlich nach der Arbeit zu Hause sein konnte. Ich wartete mit Ungeduld auf Thomas, dem ich angedeutet hatte, dass ich wahrscheinlich zeitiger zu Hause sein werde. Thomas kam auch, nur ziemlich spät. Woher hätte er auch wissen sollen, wann genau ich da sein werde. Ich aber hatte gehofft, dass Thomas mich schon erwarten würde, draußen auf der Bank sitzend. Er habe nicht früher können, hatte Thomas entschuldigend gemeint. Ich, der mir das Alleinsein mit ihm in den schönsten Farben ausgemalt hatte, war enttäuscht darüber, dass Thomas nun so kurz angebunden war und wir von Dingen sprechen mussten, die mich in dem Moment am allerwenigsten interessierten. Ich hätte ihn viel lieber in die Arme genommen, wie beim ersten Mal. Thomas machte leider keinerlei Anstalten, mir auf diesem Weg entgegen zu kommen. Und ich hütete mich, durch leichtfertigen Übereifer etwas kaputt zu machen, woran ich noch zu bauen hatte. Erst kurz bevor Thomas ging, war es endlich soweit.
Es wäre mir unangenehm gewesen, wäre Jochen auf die Idee gekommen, mich beim Essen zu fragen, ob Thomas da gewesen sei, ich hätte wieder lügen müssen. Gewiss, ich hätte gelogen ohne rot zu werden, nur, das Lügen hatte mir in den vielen Jahren unseres Zusammenseins nie besonders viel geholfen, Jochen war doch immer dahinter gekommen. Trotzdem hatte ich es mitunter vorgezogen, manche Dinge lieber jahrelang zu verschweigen, die Jochen mir sicher verziehen hätte, hätte ich sie ihm gleich gebeichtet. Schweigen war aber bequemer. Was er wohl gedacht hat, als er Thomas‘ braune Fingerspitzen bemerkt hat, ging es mir durch den Kopf. Bemerkt hatte er sie bestimmt.
Wieder zu Hause klingelte ich bei Charlotte, um ihr eine Schale voll Pflaumen für eine Suppe zu geben. Sie durfte sich selber welche aussammeln, wobei sie mir wieder das Neueste erzählte. Soviel Zeit hätte sie nicht opfern müssen, denn ich rechnete jeden Augenblick mit Jochens Erscheinen. Nach Thomas hatte sie noch nicht gefragt. Ob sie es vergessen hatte? Als Jochen kam, war sie Gott sei Dank mit den Pflaumen bereits verschwunden. Das war auch gut so, denn er hatte Thomas mitgebracht. Bevor wir uns wieder der Weinherstellung hingaben, saßen wir in der guten Stube. Thomas entdeckte Jochens Schreibmaschine unter dem Schreibtisch und begann, nachdem er sie hervorgezogen und in einen Sessel gestellt hatte, wie ein kleines Kind alle Tasten und Hebel auszuprobieren. Anfangs sah es aus, als würde er wahllos auf die Buchstabentasten einhämmern. Bei seiner Farbbandeinstellung bekamen alle Buchstaben rot Füße. Was die Maschine unter lautem Gestöhne zu Papier bringen musste, liest sich wie …
Ich war mir nicht sicher, sollte das ein Angebot, ein Vorwurf, eine Bitte, wieder ein Hilferuf oder ein Verwirrspiel sein?
            HHHHHHHHHHHHHALL OIHR BEIDENÖ

ICH WERDE MICH HEUTE DEINER PLATTEN ANNEHMEN.
GESTATTEST DU MIR DAS.
ODER GIBT ES IRGENDWELCHE EINWENDE?
WENN ICH KÖNNTE,WÜRDE ICH MIT EUCH---ABER LASSEN WIR DAS.
DA HIER ABER KEIN BEDARF BESTEHT,WECHSELN WIR DAS THEMA.
IHR SEID BLÖD UND BÖSE.
HOSCHKÖPPE BLEIBEN HOSCHKÖPPE.
ICH GLAUBE AUS DER GRUBE KOMM ICH ALLEIN RAUS.
DAS SEIL,DAS IHR MIR GERREICHT HÄTTET,WÄRE HÖCHSTWARSCHEINLICH
GERISSEN.
OBWOHL JA NOCH GARNICHT RAUS IST,OB IHR MIR ÄBERHAUPT EIN SEIL
HERRUNTERGESCHMISSEN HÄTTET.

Donnerstag, 25. August
Um dreizehn Uhr fünfundvierzig hatte ich Jochens Fenster geöffnet. Die Hoffnung, Thomas sei in seinem Zimmer und würde mich sehen, erfüllte sich aber nicht, denn er war offensichtlich nicht da. Schade. Nur seinetwegen war ich schon so früh gekommen. Wir hätten eine gute Stunde für uns gehabt. Um drei wollte ich mit meinem Rad zum Fahrradladen, um mich anzustellen, denn donnerstags ist Reparaturannahme. Als ich dann um 3 zum Fahrradladen kam, ein nicht allzu entfernter Nachbar hatte sich in seinem Garten selbstständig gemacht, war ich bei Weitem nicht der Erste, durfte aber hoffen, noch dranzukommen, wenn um 4 geöffnet wurde. Und von da an bewegte sich der beräderte Lindwurm durch die enge Gartenpforte auf einen Tisch zu, auf dem ein Stapel Formulare lag. Im Vorbeischieben griff sich jeder Antragsteller davon eine Karte, auf der er seine Adresse eintragen musste. Anschließend beschrieb er dem Ladenbesitzer seine bescheidenen Wünsche, die dann auf ihre Dringlichkeit und Berechtigung überprüft wurden. Wenn man Glück hatte, konnte das reparierte Rad frühestens in einer Woche abgeholt werden. Nachdem ich meinen Drahtesel, in dessen rückwärtigem Rad an die neun Speichen gerissen waren, glücklich losgeworden war, bemerkte ich im Weggehen weit hinten in der Schlange Thomas und Raymond stehen. Mit dem hatte er also wieder zusammengegluckt, dachte ich verärgert. Hatten die beiden mich schon die ganze Zeit beobachtet? Was mochten sie über mich gesprochen haben? Oder schlimmer noch, was hatten die beiden wieder ausgeheckt?
Zu Hause verbarg ich mich hinter den Kakteen, die das Fensterbrett füllen. Ich wollte die beiden beobachten, sollten sie den Weg hier vorbei nehmen. Nach kurzer Zeit gesellte sich Jochen zu mir. Schließlich sahen wir durchs Fenster Thomas und Raymond unten vorbei gehen. Auf dem Weg zwischen den Gärten trafen sie auf irgendwelche Freunde, mit denen sie ausgiebig schnackten. Eine Weile hielten wir uns noch verborgen, gaben es dann aber auf, weil es langsam unbequem wurde. Plötzlich klingelte es. Thomas beehrte uns.
Vormittags, auf der Arbeit, hatte ich ihm einen Brief geschrieben.


Hallo Thomas!                                                                 25.8.88   9.39
Diesen Brief bitte vor oder nach dem Lesen vernichten!
Ich hatte Dir einen Brief angekündigt, jetzt will ich ihn schreiben, wenn ich auch eigentlich gar keine Zeit dazu habe, denn ich fürchte, er wird einen großen Teil meiner Arbeitszeit in Anspruch nehmen. Vieles von dem, was ich mir vorgenommen hatte, Dir zu schreiben, habe ich Dir inzwischen schon gesagt. Verzeih mir also bitte die Wiederholungen. Es wird aber vielleicht doch einiges darunter sein, was ich, Dir gegenübersitzend, nicht so ohne Weiteres herausbrächte. Viele Worte, die mir im Halse stecken, schaffen es nicht bis über die Schwelle des Mundes. Mein Gesicht verzieht sich dann zu einem Grinsen, das womöglich auch noch blöd (und böse) aussieht, aber nicht böse gemeint ist. Schweigen, heißt es, sei auch immer eine Antwort. Bei mir ist es immer Schwäche. Ich bin dann einer Antwort nicht fähig. Ich bin schwach, das hatte ich Dir schon gesagt. Wenn nicht zugleich für „edel und gut“, so hielt ich mich bisher doch zumindest für gut. Aber wahrscheinlich bin ich nicht einmal das, denn zwei Seelen wohnen in meiner Brust.
Ohne mit einer stürmischen Liebe zu beginnen, sind Jochen und ich in die über acht Jahre hineingewachsen, die wir jetzt bereits zusammen sind. Auch dies hatte ich Dir schon gesagt. Daß es so war bzw. so ist, wird Dir Jochen sicher bestätigen, wenn Du ihn danach fragst. Wenn ich das so sage, tue ich ihm sicher nicht weh damit. Es ist so. Ich suchte einen festen Freund und hatte ihn in Jochen gefunden, ohne es anfangs zu ahnen. Immer hatte ich mir kleine Fluchtmöglichkeiten offengelassen, um vielleicht eines Tages ausbrechen zu können. Ich hatte mich öfter mal heimlich vom Grundstück weggestohlen, bin aber nie sehr weit über die Gartenmauer hinausgekommen. Jochen hatte schon mehrmals den Versuch gemacht, mit mir in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen. Immer habe ich mich dagegen gesträubt, aus Angst, meine Freiheit, die ich ja eigentlich gar nicht mehr hatte, zu verlieren und um mich nicht zu sehr an ihn zu binden. Jetzt, da vielleicht die Chance gewesen wäre, das Grundstück zu verlassen, nicht nur runter bis zum See, sondern bis hin zum Meer und für immer, da bringe ich es nicht einmal fertig, von der Mauer zu springen, auf der ich schon gestanden habe. Hinter mir würde das Haus in Schutt und Asche fallen, in dem ich solange gut behütet gelebt habe. Und was hätte mich draußen am Meer, zu dessen stürmischen Ufern es mich noch immer hinzieht, erwartet? Ein festes Haus, in das ich einkehre und geborgen wäre oder ein flüchtiges Schilfdach, unter welches der Sturm den Regen treibt?
Ich bin eitel genug einzugestehen, daß mich Deine Liebe zu mir, wenn es wirklich wahr ist, was Du mir in Deinem Brief geschrieben hast, glücklich macht und es entspräche nicht der Wahrheit meiner Gefühle, wollte ich nicht meinerseits Liebe zu Dir eingestehen. Jochen weiß es ganz genau, was ich für Dich empfinde. Gerade das macht ja die Sache zum Problem. Ruhiger würde ich leben, wir drei, wenn ich nichts als einfache freundschaftliche Gefühle für Dich empfinden würde. Hätte sich Deine Liebe Jochen zum Gegenstand auserkoren, wie es anfangs ja durchaus den Anschein hatte, dann wäre ich es, der davon innerlich bis ins Mark getroffen und zerfurcht und dem dann aus allen Poren statt Schweiß Blut tropfen würde. Ich hätte Euch dann wieder allein gelassen und wäre wohl eines Tages irgendwo weit draußen darüber hinweggekommen.
Daß es eines Tages krachen wird, daß es krachen muß, habe ich von Anfang an erwartet. Nicht aber, daß mich die Splitter so tief treffen würden. Du hast Dir sicher auch nicht träumen lassen, daß alles einmal ausgerechnet so kommen würde.
Der Abend, an dem uns beinahe das Dach überm Kopf zusammengebrochen wäre, hat mir viele Schmerzen bereitet, hat uns wohl allen viele Schmerzen zugefügt. Das Messer war bereits angesetzt, unsere Schicksalsfäden zu durchtrennen. Die Nacht war grausam. Mein Herz wollte Dich haben, aber es wußte, daß es Dich nie ganz wird bekommen können. Ich habe am Fenster gestanden und wie Leander auf das flackernde Licht am anderen Ufer des Hellesponts gesehen. Leander war in so mancher Nacht hinübergeschwommen zu seiner Hero, das Licht als Wegweiser in der Dunkelheit, bevor er inmitten der Fluten versank, als das Licht verlosch. Als bei Dir das Licht ausging, war auch mir, als müsse ich in eine nasse dunkle Tiefe versinken. Ich hatte gerade erst das erste Mal meinen Fuß ins Wasser gesetzt. Jochen lag im Bett und zerriß mit seinem Schluchzen die Stille. Auch ich legte mich hin, zog mir die Decke über den Kopf, damit er mich nicht hört.
Den Weg zur Arbeit am nächsten Morgen wäre ich am liebsten mit geschlossenen Augen gegangen aus Angst, Tränen zu verlieren. Ich wünschte, die Fähre würde mit mir untergehen. Ich hätte mich nicht dagegen gewehrt. Den ganzen Tag konnte ich keinen einzigen klaren Gedanken fassen. Habe mich in mein Büro zurückgezogen und jeden Herzschlag doppelt gefühlt, wenn ich an Dich dachte. Dann wieder bei Jochen, hatte ich ihm den einen Abend abgerungen, wenigstens einen Abend, an dem ich mit Dir allein sein wollte. Es war Jochen sehr schwergefallen, mir diesen zu gewähren. Und Du? Wozu der Abend mit mir allein, damit ich Dich betatschen könne? Mit diesem Wort „betatschen“ hast Du mir einen Schlag versetzt, von dem ich mich wohl sobald nicht werde erholen können. Das Wort allein hat mehr verwundet, als der Abend zuvor. Als wolltest Du mir damit das Herz aus der Brust reißen.
Ich habe die Tränen trocknen lassen. Vielleicht hast Du die Spuren noch gesehen, als Du dann doch noch nachkamst. Du standest noch vor der Tür, als ich Dich danach fragte, wer Du bist. Du hast nicht geantwortet. Ich wollte wissen, ob Du der Thomas aus Deinem Brief oder der andere bist, vor dem ich gerade weggelaufen war. Ich hatte diesen Abend gewollt, selbst auf die Gefahr hin, daß der Schmerz danach noch größer geworden wäre. Spielst Du mit mir, machst Du mir was vor? Meine Gefühle sind ehrlich, darum habe ich auch so viele Schmerzen. Sind Gefühle nur dazu da, um Schmerzen zu bereiten? Machen mich meine Gefühle noch dazu blind?
Jochen sagte mal, Du hättest Angst vor mir. Das habe ich nie gewollt. Es ist eher umgekehrt. Wenn ich sage, da sind meine Grenzen, dann ist das in diesem Sinne zu verstehen. Du verstehst mich doch, oder? Schließlich bist Du es doch, der immer dann abrückt von mir, wenn zu befürchten steht, daß ich meine Grenzen verlassen könnte.


Gedacht war der Brief als ein Bekenntnis. Ja, aber zu was eigentlich? Ich wollte Thomas damit sagen, wie weh er mir getan hatte. Und das ich zu Jochen halte, komme, was da wolle. Dass sich der Brief unbewusst zu einer einzigen Liebeserklärung an Thomas verselbstständigt hatte, war mir aber nicht unrecht. Aber was würde Jochen dazu sagen? Der bestand darauf, dass der Brief nicht in Thomas‘ Hände gelangen dürfe. Der Brief wurde deshalb einkassiert, als – TOP SECRET – deklariert und unter Verschluss genommen.

Freitag, 26. August
Punkt 18 Uhr waren wir verabredet, aber Eddi kam wie üblich viel zu früh. Wir wollten zusammen Fotos entwickeln. Da er seine alten Wichsvorlagen aufgebraucht hatte, benötigte er dringend neue. Die dafür vorgesehenen Negative hatte ich schon früher durch das Abfotografieren diverser Pornomagazine gewonnen, die aus dem westlichen Ausland zu uns durchgesickert waren. Ich hatte alles Nötige vorbereitet, wir konnten also gleich in die Vollen gehen. Ohne, dass er Platzangst bekam, saß Eddi im Bad auf einem Hocker vor dem Waschbecken, um sich herum die einzelnen Schalen mit den Lösungen, in denen er die Fotopapiere solange badete, bis sie entweder gerade richtig oder zu dunkel waren. Ich stand wie üblich, wir hatten bereits mehrere solcher Gewaltaktionen hinter uns, im Korridor vor dem Kühlschrank, auf dem der Vergrößerungsapparat aufgebaut war, und belichtete die Papiere. Jedem hatte ich ein Glas Johannisbeerwein gegen den Durst bereitgestellt. Als dann Jochen kam, musste er natürlich einen Augenblick draußen vor der Wohnungstür warten, bevor ich alle offenliegenden Papiere vor dem drohenden Lichteinfall in Sicherheit gebracht hatte, aber das kannte er schon. Die Tür zum Bad war einfach nur zuzumachen. Jochen sah uns zuerst ein wenig über die Schulter, verzog sich dann aber in die Stube.
Es dauerte nicht lange und es klingelte erneut. Durch den Spion sah ich Thomas draußen stehen. Ich bat ihn um einen Augenblick Geduld. Dass er die nicht gehabt hatte, war ihm sofort anzusehen, als er dann endlich rein durfte. Ich hatte ihn vor der Tür warten lassen, ihn! Dass ich Besuch haben würde, wusste er. Er wollte auch vielmehr zu Jochen, den er zu Hause nicht angetroffen hatte. Ich brachte ihn in die Stube und ließ die beiden allein, denn schließlich wollte ich nicht ewig mit Eddi im Dunkeln sitzen, sondern wollte fertig werden. Lange hatte es Thomas nicht ausgehalten. Er war beleidigt darüber, dass wir uns nicht in dem Maße mit ihm beschäftigen konnten, wie er es gewohnt war. Ich musste zum wiederholten Male alles wegräumen, nur um ihn, wutschnaubend und die Tür hinter sich zuknallend, davon toben zu lassen.
„Ich will gar nicht wissen, was ihr noch alles zu dritt anstellen werdet“, schnaufte er beim Hinausgehen.
Er hat es nötig, uns Vorschriften zu machen, dachte ich. Und außerdem: mit Eddi sowieso nicht! Jochen war ihm noch nachgelaufen, konnte ihn aber nicht versöhnen. Beider Wege trennten sich am Kiosk.
Natürlich hatte sich Eddi über das stürmische Hin und Her in meiner Wohnung gewundert, aufklären mochte ich ihn aber nicht. Wann wir das ganze Zeug zusammenpackten und wegräumten, ist nicht so genau bekannt, es war aber reichlich spät geworden. Eddi ging zum Bus und fuhr nach Warnemünde, ich ging zu Jochen.
Es war ein Abend fast ohne unseren lieben Freund Thomas. Wir waren müde ins Bett gefallen und hatten wohl auch das Licht schon aus, als es plötzlich Sturm klingelte. Es war 23.45 Uhr. Das konnte Kay sein, der, wenn er schon mal kam und ihm danach war, immer erst zu später Stunde aufkreuzte, um seinen Samen loszuwerden. Es war aber Thomas, der sich an Jochen wandte und dem einen Brief gab.
            Hallo Jochen!
Ich sitze hier in meinem Bett, und wie schon so oft
gab es auch heute Tränen. Das Taschentuch ist übrigens
seid Wochen mein ständiger Begleiter. Oftmals warst
Du Grund dieser Tränen. Wenn ich jetzt über alles
nachdenke, muß ich mich wundern, daß Ihr es
überhaupt so lange mit mir ausgehalten habt.
Auch wenn Ihr es nicht zugeben wolltet, müßt
Ihr Euch eingestehen, daß ich eine Last für Euch
war. Liebe für mich zu empfinden, war sicher
nur ein zeitweiliges und somit ein abwechslungs-
reiches Gefühl. Ich behaupte sogar, es habe nur
eine untergeordnete Rolle gespielt. Fehler sind
zum machen da, und das habe ich dann
auch getan. Ihr seid mir so ans Herz gewachsen
daß ich kaum glauben kann, alles aufgeben
zu müssen. Du setzt einen Frosch in eine Wüste.
Du hast mich zutiefst verletzt, auch mit der
unerhörten Behauptung, einen schlechten
Charakter zu haben. Jochen, ich liebe Dich und
wenn das gelogen ist, will ich auf der Stelle
sterben. Dir gegenüber konnte ich meine Gefühle
nicht immer so offenbaren. Müßt ich
nochmal entscheiden, täte ich das gleiche,
nur um Dich bei mir zu haben. Du hast mir
zwar immer das Gefühl gegeben, gebraucht zu
werden, aber dieses Gefühl reichte nie für An-
näherungsversuche meinerseits. Du weißt
vielleicht nicht, daß ich mit Kirsten schon 2 Jahre
zusammen bin, und Du weißt wohl auch noch
nicht, daß ich schon 5 Wochen nicht mehr mit
Ihr geschlafen habe. Weißt Du, oder kannst Du
Dir auch nur im Geringsten vorstellen, was das für
mich heißt. Ich empfinde nichts mehr für Sie,
und das hat sie stutzig gemacht. In mir selbst
habe ich schon Schluß gemacht, ich muß es Ihr
nur noch sagen. Körperlich und selisch habe
ich mich auf Dich eingestellt. Meine Gefühle
für Dich werden sich nie ändern, auch wenn Du
jetzt wirklich das Buch vorhattest zu verbrennen.
Mit dem Buch verbrennst Du einen historischen
Moment meiner Existenz. Du entscheidest für
Dich so wie Du es für richtig hältst, heißt das
denn auch, daß Du für mich entscheiden darfst.
Friedel liebe ich genauso, wie früher.
Was ich an diesem Abend sagte, war auch Dir
gegenüber etwas ungerecht und überhastet
gesagt.
Hast Du Dich jetzt wirklich für den
Scheiterhaufen entschlossen, muß ich
Dir zu Deinem und zu dem Glück
Friedels sagen, daß ich noch diese
Woche zur Polizei und zu den mir
zugewiesenen Behörden gehen werde,
um mich für die Ausreise nach
Dänemark 1989 eintragen zu lassen.
Damit werdet Ihr beide mich dann vergessen
und auch meine Adresse wird eine andere sein.
Wenn ich da dann Männer brauche, werde
ich mir sie nehmen. Dort macht man das ganz
anders. Es wird nie auch nur halb so schön
sein, wie die Zeit mit Dir und Friedel war,
doch ich muß dann versuchen zu vergessen.
Einen Freund zu belügen ist ja wohl
schon eine Schweinerei, sich selbst aber
dazu ist fast schon Grund dem Tode
entgegenzugehen.
Ich heule ununterbrochen
aber das macht die Sache
auch nicht ungeschehen.
Den Versuch, mir das Leben
zu nehmen, habe ich bereits
schon gestartet, vergeblich,
man fand mich nur mit
einer Magenvergiftung zu
Hause. Wenn ich erst-
einmal tot bin, weiß keiner
warum, und es kann auch
keiner mehr herausfinden,
denn der, der den Grund für
den seeligen Tod wußte, lebt nicht mehr.
Dort, wo am linken Rand durch seine eingerückte Schreibweise eine freie Fläche geblieben war, standen senkrecht die Schlusszeilen seines Briefes, den Jochen durch Thomas an mich übergeben ließ, nachdem er sich die Tränen abgewischt hatte, die ihm beim Lesen über die Wangen gerollt waren und das Bett benetzt hatten. Jochen schluchzte noch immer und sagte kein Wort.
Grüße Friedel von mir und
sage Ihm, ich würde Ihn auch
da oben nicht vergessen, genauso
wenig, wie Dich.
Es kommt mir vor, als wäre mein Herz
zerfetzt und 2 Geier würden daran zehren.
In Euer Galerie darf mein Bild nicht mehr hängen.
Ich danke Euch für
alles, auch für das,
was Ihr nicht gegeben habt.
Und dieses kleine Scheusal, das da im Sessel sitzt und uns mit seinen im Lichtschein funkelnden Augen belauert, liebe ich nun, dachte ich. Denn das ich ihn liebte, und auch heute noch liebe, das ist nun mal so. Erst schrieb er mir, wie sehr er mich braucht, sogar im Bett, und nun Jochen, ging es mir durch den Kopf. Wie ein Wetterhahn dreht sich Thomas von einer Seite zur anderen. Sollte Jochen recht behalten? Er hatte immer wieder vor dem gefährlichen Spiel gewarnt, das Thomas mit uns treibt. Den hatte ich stets in Schutz genommen, nur das Gute in ihm sehen wollen in meiner Blindheit. Ich kochte innerlich. Der ließ sich von mir in die Arme nehmen und küssen. Hatte ich mir doch falsche Hoffnungen gemacht? Mit uns ins Bett gehen? Dass ich nicht lache! Das hätte er doch längst haben können, wenn er es so nötig gebraucht hat. Er hätte sich nur ausziehen müssen, wir hätten ihn nicht hinausgeworfen. Aber immer, wenn er uns scharf genug gemacht hatte, war er es, der seinen Schwanz zwischen die Beine klemmte und davonrannte. Meinen Arm durfte ich über seinen Schoß legen, in dem ihm sein Steifer wie Feuer brannte, wenn wir nebeneinander bei Jochen auf der Couch saßen. Jochen hatte er das nicht erlaubt, der musste sich mit einem Küsschen hier und einem Küsschen da begnügen. Thomas sprach zu ihm von Ekelporno. Oft hatte er Jochen mit seinen Redensarten tief verletzt. Ich war dann ruhig geblieben und froh, dass er nicht auch mit mir so umsprang. Dieses kleine Luder, das sooft das Wort Pofüllung im Munde führte, ein Wort, das wir bis dato gar nicht kannten, als wäre er besonders scharf darauf, saß nun da und wartete. Obwohl sie noch an einer dünnen Strippe hingen, sah ich schon meine Felle davon schwimmen. Aber abwarten, es wird sich noch zeigen, wer wem was vorspielt, dachte ich. Irgendwas musste ich jetzt tun. Wie es Thomas‘ Absicht war, hatte er auch mich verletzt, aber nicht so sehr, dass ich hätte wirklich sterben mögen. Da es mir nicht gelang, auf der Stelle ein paar mitleiderregende Kullertränen herauszupressen, ergriff ich wie üblich die Flucht. Ich ging ins Bad und ließ in meiner Verzweiflung die Wanne voll Wasser laufen, nicht zu heiß, in das ich des Schaumes wegen eine Handvoll Badesalz streute. Wie war ich eigentlich ins Bad gekommen? Auf keinen Fall nackt!
Ich lag schon eine Weile in dem stark duftenden und sehr warmen Wasser und dachte über Thomas und seinen vermaledeiten Brief nach, auf dem nicht die winzigste Spur einer Träne auszumachen war. Das hätte er wenigstens hinkriegen können. Wenn er unbedingt als Liebesmärtyrer sterben will, soll er sich doch selbst ins offene Rund eines Turms legen und schweigen. Wir wollten dann gern die Geier spielen. Inzwischen waren mir doch noch die erwünschten Tränen gekommen, von ganz allein, aber wohl mehr aus Wut als vor Kummer. Und gesehen hatte sie auch keiner. Auf dem nassen Gesicht wären sie ohnehin nicht aufgefallen, auch wenn einer von den beiden zur rechten Zeit erschienen wäre. Es kam aber niemand, sodass mir schon die Zeit zu lang wurde. Untertauchen mochte ich auch nicht mehr. Was hatte das für einen Sinn, wenn Thomas, für den ich das alles inszenierte, nicht darüber zukam? Wie wäre es, wenn ich mir den Kopf einrennen würde, dachte ich. Wenigstens das musste doch Eindruck machen. Zumindest auf meiner Stirn. Aber das würde wahrscheinlich wehtun. Egal, da musste ich jetzt durch. Ich setzte mich auf und zog mich bis dicht vor das Fußende der Wanne. Im Stehen wollte ich in der glatten Badewanne keine gefährlichen Experimente wagen. Auch wollte ich nicht von Thomas im Adamskostüm erwischt werden und außerdem hätte ich mich womöglich ernstlich verletzen können. Probehalber stieß ich mit dem Kopf vorsichtig gegen den Badewannenrand, der mir zwar ziemlich hart erschien, das Geräusch aber, das Thomas, voller Sorge um mich, ins Bad locken sollte, enttäuschte. Das musste noch viel lauter und bedrohlicher werden, um bis in die Stube vorzudringen und dort ein Achtungszeichen auszulösen. Ich stieß mit vermehrter Wucht dagegen und siehe da, es klang schon besser. Ich hatte mich inzwischen so auf meinen Kummer konzentriert, dass ich jetzt staunte, wie wenig Schmerz mir die Aufschläge bereiteten. Ich begriff zum ersten Mal, dass derjenige, der tatsächlich seinem Leben ein Ende setzen will, der vor Kummer, Verzweiflung oder Schmerz keinen anderen Ausweg mehr sieht, dies ganz ohne Furcht tun kann. Ich aber bekam jetzt Angst. Und eine niedliche Beule.
Was die Beiden nun tatsächlich veranlasst hatte, nach mir zu sehen, bleibt unklar. Zuerst kam Thomas, als der wieder fort war, Jochen. Von meiner schwer erarbeiteten Beule nahm keiner Notiz. Einen Trumpf konnte ich noch ausspielen, vorausgesetzt, Jochen würde sich darauf einlassen. Ich bat ihn, Thomas meinen Brief zu geben, was Jochen auch tat. Ich zog in aller Ruhe den Stöpsel und ließ dem Badewasser und der Sache ihren Lauf. Noch bevor ich aus dem Bad kam, war Thomas mit dem Brief nach Hause gegangen. Dass nach so viel Aufregung lange Zeit kein Schlaf zu finden war, braucht nicht erwähnt zu werden.
Wie kommen wir nur von diesem Teufel los?

Sonnabend, 27. August
Noch bevor er nachts gegangen war, hatte Thomas versprochen, er werde morgens um 8 wieder da sein und uns einen Kuchen backen. Es kann ja passieren, was will, er kommt immer wieder, dachte ich. Ich und Jochen hatten schon öfter geglaubt, dass wir nach einem solchen Auftritt, wenn es wieder einen gegeben hatte, Thomas nicht wiedersehen würden. Diesmal kam er aber wirklich nicht, was uns sehr erschütterte. Jochen hatte mehrmals mit dem Rollo gewunken, aber keine Reaktion bekommen. Ich begab mich zu den gegorenen Pflaumen, um sie vom Saft zu trennen. Jochen wollte nun selber backen und nebenbei auch noch Schmorgurken, die es zum Mittag geben sollte, herstellen. Nachmittags begaben wir uns dann in unsere kleine Kelterei, die natürlich keine richtige war. Die Luft in meiner Bude aber, von der allein wir schon benebelt wurden, war wie in einer großen. Irgendwann stieß auch noch Thomas mit einer paraten Ausrede dazu.
Zur Kaffeezeit ging Jochen zu sich nach Hause, um für uns einzudecken. Ohne Bedenken hatte er mich allein mit Thomas zurückgelassen. Wir sollten dann nachkommen, wenn wir fertig waren. Mit der Arbeit, selbstverständlich. Ich wagte es nicht, mich Thomas zu nähern. Wenn er was will, wird er es schon zu erkennen geben oder es lassen, dachte ich. Er hatte es leider gelassen.
Thomas war nicht gleich mit zu Jochen rein gegangen, er wolle erst nach Hause gehen und dann rüberkommen. Drinnen erwartete mich ein hübsch zurechtgemachter Kaffeetisch. Jochen hatte für drei vom „guten“ Service aufgedeckt. In die Mitte des Tisches hatte er eine brennende Kerze gestellt und auf jeden wartete ein Kognakschwenker, dessen Boden mit Weinbrandverschnitt bedeckt war. Der Tee war auch schon fertig. Enttäuscht fragte er nach Thomas. Wir warteten. Ob er überhaupt kommen würde? Doch, er kam und der Zitronenkuchen schien ihm außerordentlich gut zu schmecken. Uns auch. Sogar den Schwenker leerte Thomas. Bisher hatte er kaum etwas von uns angenommen, egal ob fest oder flüssig. Wahrscheinlich hatte seine Mami ihm eingeschärft, ja nichts von fremden Onkels anzunehmen. Und nun aß er sogar noch Abendbrot mit uns. Nicht viel, aber immerhin. Den Abend verbrachten wir in aller Ruhe und friedlich vor dem Fernseher. Ich hielt mich in allem zurück, war ziemlich wortkarg. Die Stunden plätscherten in ihrem Lauf dahin und schwappten hier und da wenn es mal sein musste auch übers Ufer. Jochen hatte wieder zu gähnen angefangen. Er war müde und wollte Thomas zum Gehen animieren. Der übersah aber aus lauter Höflichkeit Jochens Gesichtsverrenkungen, erbat sich einen Schreibblock und schrieb uns schon wieder einen Brief.
Auch, wenn der Abend für Euch belastend, langweilig, eintönig und
öde war, für mich war es schön. Denkt doch von mir, was Ihr wollt,
ich kann eh' nichts dagegen tun, allein, daß jetzt keiner einen Wort
laut von sich wirft, zeigt mir schon wieder, daß es für Euch heute
doch nur beschissen gewesen sein kann. Tut mir leid, Euch den Tag
versaut zu haben, mit samt dem Abend.
Solltet Ihr am morgigen Tag Wert auf
meine Anwesenheit legen, gebt mir
doch ein Zeichen (Rollo).
Aber ich kann mir ganz gut vorstellen,
daß der eine schlafen und der andre
sich mit seinem Wein austoben will.
Also ist der Sonntag wohl völlig
indiskutabel.
Schlaft gut und versucht
mal nicht an mich zu
denken, das raubt einem
nur die Nerven.
Als Thomas das schrieb, war es 23.10 Uhr. Mit welcher Sicherheit er daran glaubt, dass wir nur an ihn denken! Das ist erschreckend. Natürlich hat er damit recht, und die Nerven raubt er uns auch. So schlecht war der Abend gar nicht, war ich doch froh, ihn in meiner Nähe zu haben. Dass ich eingeschnappt war, hatte ich ihm aber zeigen müssen. Ich wollte den gestrigen Abend nicht so einfach aus meinem Gedächtnis streich und so tun, als wenn nichts gewesen wäre. Darauf reagierte Thomas in einem weiteren Brief, den er gegen ein Uhr schrieb. Jochen und ich waren schon im Bett. Das heißt, Jochen lag auf der Liege, ich auf der Couch.
Du schlußfolgerst aus diesem Brief bestimmt,
ich würde mich jetzt ausschließlich für Joschi
interessieren, da liegst Du in sofern falsch, weil
Du weißt, was ich von Dir halte und Du weißt
auch, daß ich Dich nicht verlieren will.
Seid wenigen Minuten bist Du von's kalte Wasser
ins heiße gesprungen. Glaubst Du, Du kannst Deinen
Ärger in der Wanne vergessen. So gehst Du vielleicht
mir aber nicht den Problemen aus dem Weg.
Aber es sieht mir auch bald so aus, als wolltest
Du mir aus dem Weg gehen. Auch Deine Reaktion,
Dich einfach umzudrehen und möglichst noch ein-
zuschlafen, zeigt mir, daß Du nicht mehr allzuviel von
mir, und von dem, was ich glaube und brauche, hältst.
Wenn Du Deine Entscheidung getroffen hast - bitte!
Aber dann auch nur für Dich allein, laß mich
meine wählen, und laß mich lieben und brauchen
wen ich will. Zähle Dich dazu oder laß es meinet-
wegen sein. Mir tut es weh, zu sehen, wie Du Dich ab-
wendest und möglichst versuchst, so zu tun, als
würde Dich das absolut nicht berühren. Mich berührt
es um so mehr. Wie gesagt, noch kann ich entscheiden,
wohin ich will und mit wem ich was tuhe. Ich
sitze im selben Boot wie Ihr auch, geht Ihr unter, gehe
ich mit. Und ich gehe gern.
                         Ich gehe kaputt, gehst Du mit?

Ich las diesen Brief, den Thomas mir ins Bett gereicht hatte. Sieh an, dachte ich, die Felle schwimmen noch dicht am Ufer. Aber, dass ich in seiner Nähe einschlafen könnte, da täuschte er sich gewaltig. Höchstens in seinen Armen, nach einer gemeinsam erlebten Entspannung.
Nach einer halben Stunde ließ sich Jochen den Schreibblock reichen und schrieb eine an Thomas gerichtete Frage darauf. Es entspann sich ein kleiner Dialog zu Papier, der hier wiedergegeben wird.

Jochen:    WARUM QUÄLST
            DU MICH (UNS)?
Thomas: WARUM LASST IHR EUCH DENN
             QUÄLEN!

               Ich hatte ursprünglich nicht vor, Euch zu quälen!
               Ich hatte jetzt aber mit etwas anderem

               gerechnet, als mit dieser Frage

Ich:         Ich hätte sehr große Ansprüche!
Thomas:  - die währen?
Ich:         Wer bist Du im Moment?
Thomas:  Wer soll ich denn im Moment sein?
Ich:         Der Thomas aus den Briefen wäre mir am liebsten.
Thomas: Frage nicht, was mir am liebsten wäre, sonst sage ich es
                               Dir.
Ich:         Ich frage Dich aber!

Sonntag, 28. August
Für den Nachmittag hatten wir uns einen Zoobummel ausgedacht, zu dem wir Thomas mitnehmen wollten. Jochen hatte kurz vor dem Mittag das Rollo bedient und ihm diesen Vorschlag unterbreitet, auf den er willig eingegangen war.
Auch das Wetter spielte mit und zeigte sich von seiner besseren Seite. Die Sonne schien und es wehte kaum ein Lüftchen, als wir drei zur S-Bahn gingen. Thomas hatte wieder die gelben Schuhe, die karierte Hose mit den besonders großen Karos, in denen auch Gelb vorkam, und die braune Kunstlederweste an, an der diverse Abzeichen glänzten. Da es auf dem Weg zur Bahn schon darüber Unstimmigkeiten gab, wer neben wem gehen durfte, setzte ich mich dann in der Bahn etwas abseits von den beiden, die einander gegenüber Platz genommen hatten. Ich fand schon immer, dass Thomas in dieser Hose schnieke aussieht und das die Schuhe wunderbar dazu passen. Nun war es Jochen aber aufgefallen, wohl, weil er ihm zu sehr auf den Hosenschlitz gesehen hatte, dass es eigentlich eine Mädchenhose ist. Solche Details würde ich nie bemerken. Natürlich platzte Jochen sofort damit heraus. Er hatte noch nie ein Blatt vor den Mund genommen. Thomas stritt den Fakt zwar ab, aber der Hosenschlitz sagte tatsächlich etwas anderes aus, daran war nun mal kein Vorbeikommen. Das mache doch nichts, meinte ich daraufhin, es gebe genug Mädchen, die in Jungshosen rumliefen.
Im Zoo schien sich Thomas mehr für die jungen Kerle zu interessieren als für das, was sich hinter den Gittern abspielte. Selbstverständlich sahen auch wir auf das frei herumlaufende Wild, das tun wir immer. Laufend fragte er uns, wie wir den oder jenen Kerl finden würden oder ob wir es vielleicht lieber mit jenem täten. Bekam er dann die erwartete Antwort, rümpfte er die Nase, als sei er gerade von uns in ein Bahnhofsklo hinein geschubst worden, und meinte, das sei alles Ekelporno. Ekelporno ist eines seiner Lieblingsworte. Die Debatte beendete er dann, wie übrigens auch bei jeder anderen Gelegenheit, mit diesem Schlusssatz: „Noch irgendwelche Fragen, Hinweise oder Kritiken?“
Während der Rückfahrt hatten wir in einem unteren Abteil Platz genommen. Ich beobachtete einen jungen Mann, der vor der Schiebetür stand, ans Treppengeländer gelehnt. Prompt reagierte Thomas. Er zog ein zusammengefaltetes Blatt Zeichenkarton aus einer Westentasche, schrieb etwas darauf und gab es mir. Ich las und krakelte, so gut es die S-Bahn zuließ, meine Antwort darunter.


Thomas: Am liebsten würdest Du den
             da oben doch sofort...!?
             Oder?

Ich:         Nein, ich tue nur so!
Thomas:  dann tust Du
             wohl auch bei
             mir nur so, oder
             entspricht das der
             Realität
Ich:         bei Dir ist das
              ganz anders!
Thomas:  wie anders?
Ich:         Ende!
Thomas: für mich
             dann
             auch


Ich wollte mit diesem Spiel nicht weitermachen, weil Jochen mir schon böse Blicke zuwarf. Er dachte bestimmt, wir würden uns über ihn austauschen. Er denkt immer, wir ziehen hinter seinem Rücken über ihn her. Das stimmt aber nicht, wir sind dann nur mit uns selbst beschäftigt. Wenn ich auch oft gegen Jochen gearbeitet habe, wie auch jetzt, so habe ich mich bisher noch nie dazu verleiten lassen, ihn in irgendeiner Weise schlecht zu machen. Das werde ich auch in Zukunft nicht tun.
Kurz nach Lütten Klein schrieb Thomas noch einmal etwas aufs Papier.

Ich werde jetzt nach Hause
   gehen und so tun, als
     würde mir der Kuchen
    schmecken, was nicht
     der Fall sein wird!

Auf mich wird ja kein
    Anspruch mehr erhoben,
       weder von dem,
              noch von dem.
Als Thomas mich dann gegenüber dem Hochhaus beiseite nahm und mir etwas ins Ohr flüsterte, war Jochen vollends davon überzeugt, dass wir etwas gegen ihn ausgemacht hätten. All unsere Beteuerungen, dass nichts von Belang gesprochen wurde, fanden keinen Glauben. Jochens Laune war nun endgültig perdu. Meine aber auch. Musste er denn alles wissen wollen! Und vor allem, musste Thomas jede Gelegenheit nutzen, Zwietracht zu säen? Bei Kuchen und Tee gerieten wir beide, Thomas war ja nach Hause gegangen, darüber mächtig aneinander.
In meiner Wut verkündete ich: „Ab heute werde ich wieder bei mir zu Hause schlafen.“
„Gut“, sagte Jochen, „dann komme ich mit!“
Scheiße dachte ich. Es musste ihm aufgefallen sein, dass mir der Unterkiefer auf die Brust schlug, so heftig und unvorbereitet hatte mich Jochens Gegenschlag getroffen. Ich hasste ihn. Und er grinste!
Bald nach dem Abendbrot, Thomas war nicht wiedergekommen, gingen wir zu meiner Wohnung. Die Spannung hatte sich zwar noch nicht gelegt, aber das Klima war deutlich besser geworden. Ich hatte Jochen den Zettel aus der S-Bahn gezeigt, und dass Thomas nun doch nicht zu mir gekommen war, was Jochen befürchtet hatte, machte ihn versöhnlich. Wir bauten unsere Betten. Jochen ging auf die Couch, ich auf die eingebaute Liege, auf der ich immer schlafe. Ich kniff die Augen zu und dachte mit Schrecken an das, was kommen werde. Wenn Thomas nur nicht kommen wolle, flehte ich. Er musste doch gemerkt haben, dass Jochen misstrauisch geworden war, und damit rechnen, dass er mich nicht alleine lassen würde.
Jochen rührte sich nicht mehr, er schien eingeschlafen zu sein. Plötzlich klingelte es. Ich schrak aus einem Halbdämmer auf, in den ich mich mühselig hinein gequält hatte. Als risse mich jemand an den Schultern empor, sprang ich aus dem Bett und eilte ans Fenster. Ich öffnete es und sah Thomas unten im Rasen stehen. Genauso hatte vor Jahren Thomas der Geile dort unten gestanden und zu mir rauf gesehen.
„Bist du allein?“, fragte Thomas.
Ich schüttelte nur den Kopf und war auf beide sauer, auf den, der im Bett lag, und auf den, der da unten im dunklen Rasen stand.
„Wer ist da?“, fragte Jochen, als wüsste er es nicht. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, aufzustehen.
„Thomas“, antwortete ich leise.
„Und was will er?“
„Nichts“, sagte ich ganz unschuldig.
„Und warum kommt er dann nicht rauf?“
Thomas war inzwischen wieder gegangen. Ich stand noch immer am Fenster und sah ihm nach. Ich bildete mir ein, Thomas sei enttäuscht. Oder nicht? Hatte er gehofft, dass Jochen bei mir sei und deswegen geklingelt? Nur mal so zum Spaß?
„Woher kennt er denn deinen Klingelknopf?“, fragte Jochen ironisch, denn er wusste genau, dass auf den Schildern unten an der Haustür kaum ein Name zu lesen ist, weder am Tage und schon gar nicht nachts.
„Weiß ich nicht“, log ich.
Jochen hatte die Antwort nicht abgewartet, er dachte sich seinen Teil, hatte sich zur Wand gedreht und zu schweigen begonnen.

Montag, 29. August
Kurz nach dem Mittag war ich von der Arbeit kommend zu Hause. Organisation ist alles! Um 13.50 Uhr  kam Thomas. Er hatte wieder einen Brief dabei.
Es ist mir ein Peinliches und Unangenehmes, Ihnen
meine tiefste Entschuldigung und Erschütterung
über den gestrigen Abend auszusprechen und somit
um Gnade und Verzeihung zu bitten. Da ich
Ihre gerade verübten Intimitäten zu stören versuchte,
glaube ich schwerlich, Ihre „reine“ Wohnung noch-
mals betreten zu können, allein um Erinnerung
und Vorstellung jenen Ereignisses aus dem Gewissen
zu streichen. Bei der Vorstellung des Selbigen überfällt
mich ein Schauer der Eifersucht. Aber dieses scheint
Ihnen, nicht den Versuch wert zu sein, des meinigen
Gefühls zu erwidern. Welch peinliches Gelübte, abgelegt
von einem der liebt und dem immer aufs Neue
klargemacht wird, er würde nicht geliebt werden.
Es ist die blanke Eifersucht, die meine Seele frißt.
Ertrunken im Leid, verbrannt in Bedrängniß und
erstickt in Ausweglosigkeit, soll dies mein Los sein.
Rechnen Sie nicht mit dem
Erscheinen meiner Person
am heutigen Nachmittag,
es wird keines Falls dazu
kommen. Ihnen dürfte
bekannt sein, welches mein
Ort des Wohnens ist und
der Platz des Briefkastens.
Man rechnet mit Ihrem
Dasein bis spätestens 15.00
            In Liebe, Thomas
Eigentlich hatte er den Brief an die Tür stecken wollen, weil er nicht damit rechnete, mich bereits so früh zu Hause anzutreffen. Nun stand er unentschlossen am Fenster und sah auf die Eisdiele hinunter.
Thomas hatte eine besondere Vorliebe dafür, seine Textabschnitte in den Briefen zu verschachteln. Er hatte es auch hier wieder getan. Den zweiten Absatz hatte er so weit nach rechts gedrückt, sodass links davon ein freier Raum stehen geblieben war, in dem nun lotrecht folgende Zeilen hängen.

Nun mal Klartext, Du Arsch,
entweder, Du bewegst Deinen
Körper in Richtung Pohl, oder
der Kuchen ist gebacken.
Glaube aber ja nicht, daß
Du Wunder von Vieh dann
noch ein Stück abkriegst.
             VOTZKOPP!

Ist er nicht reizend? So viel Liebenswürdigkeit auf einen Haufen kann nicht jeder vertragen. Die Rückseite war auch nicht leer geblieben.


Solltest Du 'ne halbe Stunde
oder auch eine für mich
eingeplant haben, überleg
Dir doch besser gleich, ob
Du überhaupt kommen
solltest. Es könnte doch
sein, daß ich was mit Dir
vor habe. Aber vielleicht
hast Du ja was besseres
zu tun, als Deine Zeit mit ↓
mir zu verschwenden.


Natürlich hatte ich Zeit für ihn, machte ich doch extra seinetwegen einen auf Assi, aber zu ihm hingehen brauchte ich nun nicht mehr, Thomas war ja schon hier. Ich weiß nicht, fragte ich mich, bin ich zu blöd, seine Briefe zu lesen? Er schreibt mir, dass er mich braucht, mich liebt und mit mir schlafen möchte. Letzteres steht zwar nicht so wörtlich drin, aber zwischen den Zeilen meine ich es ganz deutlich herauszuhören. Wenn wir dann beide alleine sind, hat er sich ganz anders, irgendwie kühl und distanziert, unnahbar eben. Ich hatte ihm schon mehrere Chancen gegeben, mit mir allein zu sein. Alle hat er ungenutzt vorüberziehen lassen. Ich hatte ihm wieder und wieder ein liebevoll zurechtgefaltetes Papierschiffchen in den Bach gesetzt, der uns miteinander verbindet. Er hat sie alle vorbeischwimmen lassen, ohne sie aufzuhalten und in seine Hände zu nehmen. Breitbeinig saß er am Ufer und sah grinsend ihrem Untergang zu. Hatte er Angst, sich dabei nass zu machen? Die ein oder zwei Küsse immer kurz vor dem Abschied, die mich dann auf ein nächstes Mal hoffen ließen, reichen mir nicht. Mit seinem Füller, vielleicht auch mit seinem Herzen, ist er der Realität, vielleicht auch seinem Verstand, weit voraus. Oder gehört dieser Widerspruch auch zu seinem Plan?
Wieder hatte ich Jochens Warnungen im Ohr, aber ich scherte mich nicht darum, denn ich habe auch ein Ziel. Im Grunde glaube ich nicht daran, dass Thomas derart abgrundtief ist. Na und wenn schon!
Auch an diesem Nachmittag passierte nichts. Thomas stand nur am Fenster und sah hinaus. Wir wären ungestört gewesen, wir hätten uns lieben können bis zum Gehtnichtmehr, hätte es Thomas nur gewollt. Wartete er vielleicht darauf, dass ich als der Ältere den ersten Schritt tat? Ich traute mich aber nicht. Wie wäre seine Reaktion gewesen? Womöglich hätte Thomas gefaucht, ich solle meine dreckigen Pfoten von ihm nehmen. Dann wäre ich vor Scham durch den Fußboden eine Etage tiefer gesunken. Ich hatte immer solche Jungs geliebt, seit ich selber Knabe war. Nur ist seit Ewigkeiten die kindliche Unbefangenheit der Angst vor dem Gesetz gewichen. Hab Geduld, sagte ich mir.
Kurz bevor Thomas ging, fragte er: „Magst du mich denn nicht mehr? Du bist so zurückhaltend.“
Da schlage doch einer lang hin und den da möge der Teufel rosarot besticken, dachte ich und meinte: „Du bist es doch gewesen, der die ganze Zeit aus dem Fenster gehangen hat, während ich allein auf der Liege saß. Und außerdem hast du mal gesagt, ich soll dich nicht betatschen.“
Nachdem Thomas zu Hause Abendbrot gegessen hatte, kam er zu Jochen. Wir waren auch gerade mit dem Essen fertig. Thomas beachtete mich kaum. Jochen meinte, wir könnten doch bei dem schönen Wetter eine Runde Federball spielen. Der Vorschlag wurde von allen Parteien positiv aufgenommen. Wir gingen zu mir und holten das Federballspiel runter. Ich ließ die beiden sportlicheren Typen zuerst zeigen, was sie drauf hatten. Da Thomas des Öfteren unterstrichen hatte, was er für eine Kanone ist, mochte ich mich nicht gleich zu Beginn des Spiels blamieren. Bei seiner Figur hatten ich und Jochen ihm das auch ohne Weiteres abgenommen. Das Federballspielen schien aber nicht gerade zu seinen Stärken zu zählen. Wenn es denn Thomas schon mal gelang, den Federball mit dem Schläger zu erwischen, dann schlug er ihn überall hin, nur nicht in Jochens Richtung, der nur am Laufen war. Schuld bekam der Wind. Gut, ein wenig windig war es, aber nicht so windig, wie es Thomas war. Ich hielt es für seine Absicht, Jochen aus dem Spiel zu drängen, was ihm damit auch glückte. Jochen hatte aufgegeben und war nach oben gegangen. In dem Moment ging Frank vorbei und musterte Thomas. Jetzt begann ich, mein Glück mit Thomas zu versuchen. Die ersten paar Minuten davon hatte Jochen noch miterlebt. Mir war es eigentlich gar nicht recht, hier auf der Wendeschleife zu spielen, sozusagen unter den Augen der Öffentlichkeit. Aber was soll‘s? Für Wimbledon entdeckt zu werden, war nicht zu befürchten. Ich wollte jedenfalls mein Bestes geben, um gegenüber Thomas zu bestehen. Auch der gab sich redlich Mühe, stellte sich aber einfach zu dämlich an. Es war einfach kein Spielen mit ihm. Jedenfalls nicht Federball.
Auch wir gingen schließlich nach oben, wo sich Thomas bäuchlings auf die Liege haute, als hätte ihn das Spiel wer weiß wie mitgenommen. Gegen 9 verabschiedete sich Jochen, ging nach Hause und ließ mich wieder mit dem Bengel allein zurück. Thomas schien echt eingeschlafen zu sein. Nach einer Weile kam er zu sich und fragte nach Jochen. Der sei schon weg, sagte ich. Er drehte sich auf den Rücken und zog die Beine an, damit ich mich dazusetzen konnte. Was das wohl wird, fragte ich mich. Ich hatte mich an die Rückenlehne gesetzt und sah ihn in die Augen, die im dämmrigen Schatten der Anbauwand verborgen lauerten. Thomas hatte die Hände unter seinem Kopf verschränkt und sah mich ebenfalls an. Wir sagten kein Wort. Behutsam legte Thomas seine Beine über meine Knie. Durfte ich ihn jetzt berühren? Noch zögerte ich. Dann aber schob ich vorsichtig meine rechte Hand in eines der Hosenbeine, die magisch vor mir lagen, und strich durch den weichen Flaum auf dem Schienbein. Thomas richtete sich etwas auf und scheute sich nicht, meine linke Hand zu ergreifen. Liebt er mich denn wirklich, fragte ich mich glücklich. Langsam zog mich der kleine Thomas zu sich herab. Ich suchte nach einem Lächeln, aber auf dem Gesicht unter mir lag kein Lächeln, das mich willkommen hieß. Thomas hielt mir aber die wenig geöffneten Lippen entgegen und erwartete meinen Kuss, den ich ihm aus vollem Herzen und mit ganzer Seele gab. Wie lange hatte ich auf diesen Augenblick gewartet. Mochte Thomas auch noch so viel gelogen und mir und Jochen was vorgespielt haben, meine Liebe zu ihm war doch echt und tief. Jedenfalls im Moment. Nun lag ich auf ihm und erdrückte ihn mit meinem Gewicht. Unsere Lippen schmolzen zusammen als wäre es für die Ewigkeit und als könne nichts im Leben sie je voneinander trennen. Ich fragte mich, woher er die Luft zum Atmen nahm. Dann wurde ich ihm doch zu schwer. Ich wälzte mich hinunter und fortan lagen wir nebeneinander, Bauch an Bauch, umarmten und küssten uns, wieder und immer wieder. Doch dann legte sich Thomas auf mich, sabberte mir mit seinen Küssen und viel Spucke das Gesicht nass und kämpfte wie ein Gladiator mit meiner Zunge. Ich quetschte ihm derweil die Rippen zusammen, griff nach seinen Arschbacken, über die sich die enge Jeans spannte, und war außer mir.
Wie weit konnte ich gehen, wie weit würde Thomas mich gehen lassen? Probehalber versuchte ich, eine Hand unter den Hosenbund zu schieben. Mit den Fingern wollte ich über die nackten Rundungen dieses Hinterns fühlen, aber die verdammte Jeans saß zu eng. Es gelang mir aber, das Hemd aus der Hose zu zupfen, vorsichtig auf seine Reaktionen achtend. Thomas ließ sich nicht im Küssen stören, während ich dabei war, mit den Händen unters Hemd zu fassen und sie auf die straffe warme Haut zu legen. Ich spürte etwas überfließen. Plötzlich machte sich Thomas frei und stand auf. Das war ihm dann wohl doch zu viel.
Wie bescheuert lag ich da, im Zimmer war es inzwischen dunkel geworden, und war auf mich selber wütend. Nun habe ich alter Bock, der nicht abwarten kann, dem vor lauter Geilheit der Schwanz sabbert, alles durch meine Voreiligkeit zunichtegemacht, dachte ich.
Ohne ein Wort zu sagen, ging Thomas zum Fernseher und schaltete ihn ein.
Soll ich besser aufstehen oder noch liegen bleiben, ging es mir durch den Kopf. „Willst du jetzt Fernsehen kucken?“, fragte ich enttäuscht.
Thomas ging in den Korridor, ich hörte ihn dort mit irgendwelchen Schlüsseln hantieren, und kam zurück. „Schließ bitte die Tür ab“, bat er.
„Warum das denn?“
„Schließ sie bitte ab!“, drängte Thomas.
„Hast du Angst, dass Jochen kommt?“
Er bestand darauf. Ich musste den Schlüssel durch das spröde gewordene Heftpflaster drücken, mit dem das Schlüsselloch von innen überklebt war. Diese Maßnahme hatte ich schon vor vielen Jahren ergriffen. Nicht weil jemand von außen hätte direkt in die Badewanne sehen können, sondern weil ich diesem Jemand, der vielleicht nur wissen wollte, ob bei mir Licht brennt, diese Erkenntnis nicht gönne.
Wir legten uns wieder auf die Liege und begannen umständlich das ganze Spiel von vorn. Bereitwillig ließ sich Thomas das Hemd über den Kopf ziehen. Ich umarmte ihn aufs Neue und presste seinen vom Fernsehbild beleuchteten Oberkörper an mich. Sein Rücken fühlte sich glatt und fest an. Nachdem er auch mir das Hemd ausgezogen hatte, lagen wir nebeneinander und ließen unsere Finger auf Forschungsreise gehen. Meine ertasteten und erfühlten die weiten Ebenen des Bauches, den welligen Anstieg zur Brust, wo auf flachen Muskelpolstern die kaum merklichen Warzen ruhten, sie strichen über die Sehnen am Hals, Stahlbändern gleich, die die innere Konstruktion zusammenhielten, sie wanderten aufwärts, über das kleine Kinn, die Lippen, die sich wieder öffneten und sich mir zuwandten, über die Augenlider, die schützend geschlossen waren, die wie Soldaten in einer Reihe ausgerichteten Wimpern, die schmal geschnittenen Brauen und erreichten endlich das lange weiche Haar, das wie Sand durch sie hindurch rann. Thomas wälzte sich halb auf mich drauf und drückte seinen Mund auf meinen. Ich schob meine Hand zwischen die anderen Schenkel, den Daumen auf den Reißverschluss. Eine feuchte Hitze umfing meine Finger. Während Thomas mich umarmte und mit einer solchen Heftigkeit küsste, die ich ihm gar nicht zugetraut hatte, drückte und massierte ich seinen Reißverschluss, der schier zu zersprengen drohte vor innerem Druck …
Plötzlich klingelte an der Wohnungstür die Alarmglocke Sturm! Wir schraken zusammen, sahen uns fragend an und sprangen zugleich von der Liege.
„Scheiße!“, würgte ich hervor.
„Wer ist das?“, fragte Thomas zitternd.
„Na, wer soll das schon sein!“
„Nicht aufmachen“, flehte Thomas.
An der Tür wurde es immer lauter. Die Klingel, eigentlich ein Gong, gab keine Ruhe. Jetzt wurde auch noch mit den Füßen oder Fäusten gegen die Tür gebollert, als wolle sich ein Sturmtrupp Einlass verschaffen.
„Nicht aufmachen!“, forderte Thomas erneut.
Er hatte sich inzwischen gefangen, sein Hemd übergezogen und sich auf die Couch gesetzt, ganz so, als sehe er tatsächlich fern, während ich noch immer wie ein kopfloses Huhn umherlief. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Mir wirbelte alles Mögliche durch den Kopf, einen klaren Gedanken zu fassen, war unmöglich. Nicht aufmachen, ging gar nicht! Mein Hemd und Unterhemd lagen vor der Liege auf dem Fußboden. Ich grapschte sie zusammen und warf sie in meiner Not auf die Liege, die auch chaotisch aussah. Die nachgemachte Lammfelldecke hing zerwühlt bis auf den Teppich. Die drei Keilkissen, die als Rückenlehne dienen, lagen auf dem ersten Sessel. Das alles war nicht in Blitzeseile wieder herzurichten. Der zunehmende Lärm an der Tür machte mich wahnsinnig. Der macht mir das ganze Haus wach, ging es mir durch den Kopf. Charlotte stand bestimmt schon hinter ihrem Spion. Was ich mir da wieder für Fragen werde anhören müssen. Ich lief zur Tür, um sie zu öffnen. Oder sollte ich mir doch lieber vorher in die Hosen machen? Jochen stürzte mit solcher Wucht herein und bis in die Stube durch, dass ich Mühe hatte, auf den Beinen zu bleiben. Besonders leise machte ich hinter ihm die Tür wieder zu, was ich mir hätte sparen können, denn inzwischen waren in der ganzen Straße die Lichter angegangen. Mit nur einem Blick hatte Jochen die fatale Situation erfasst. Von Thomas, der geduckt in der Couchecke saß und so tat, als sei nichts, aber auch überhaupt nichts geschehen, ließ er sich nicht beeindrucken.
„Raus!! … raus hier!“ waren seine ersten Worte, die er an Thomas gerichtet hervorbrachte.
Meine hilflosen Versuche ihn zu beruhigen, denn es sei überhaupt nichts passiert, brachten ihn nur noch mehr in Rage. Er habe doch Augen im Kopf, schrie er. Gelähmt sah ich zu, wie er auf den kleinen armen Thomas losfuhr, ihn wie eine Furie beim Kragen packte und zur Tür hinaus bugsierte. Thomas, den ich noch immer für vollkommen unschuldig hielt, tat mir leid. Ich konnte ihm nicht helfen, stand noch immer versteinert im Zimmer. Dass ich vorsichtig einwendete, und dabei fast noch den belehrenden Zeigefinger gehoben hätte, das sei meine Wohnung und er habe hier nicht so aufzutreten, nahm Jochen gar nicht für voll. Meine größte Sorge war nur, dass ich gezwungen war, in dieses Haus ein und aus zu gehen, dass ich meinen Nachbarn nicht aus dem Weg gehen konnte. Darüber beunruhigt, was kommen werde, ging ich ans Fenster und öffnete es. Ich sah vorsichtig nach rechts. Das Fenster von Charlotte war zu. Weiter weg stand Thomas auf dem Gehweg und sah abwartend herauf. Doch dann tauchte Jochen hinter mir auf und schrie ihm entgegen, dass es der ganze Stadtteil hören konnte, er solle endlich abhauen und sich hier ja nicht wieder sehen lassen. Auch das noch, dachte ich. Wenn sie‘s nun nicht alle wissen! Jochen war schon wieder im Korridor und wollte gehen. Ich brauche ihm nichts zu erklären, er wisse schon Bescheid, wehrte er ab, als ich es versuchen wollte. Mit tränennassem Gesicht brachte er hervor, dass bei ihm im Haus wieder der Teufel los gewesen sei, der Kerl in der Wohnung über ihm sei wohl wieder besoffen und habe die ganze Zeit das Wasser laufen lassen. Er habe sich schlaflos im Bette umher gewälzt, immer mit der Frage, was wir hier wohl trieben, und keinen anderen Ausweg gewusst, als hierher zu kommen. Er habe es geahnt, was sich hier abspiele, und diesen Weg solange hinausgeschoben wie möglich. Das Rauschen des Wassers und der übrige Lärm über ihm, haben ihn ganz verrückt gemacht, er habe es nicht mehr aushalten können. Besänftigend hob ich den Arm. Mit verkrampftem Gesicht wehrte Jochen ab, als wolle ich ihn schlagen, taumelte dabei rückwärts gegen die Tür, sank kraftlos in sich zusammen und bedeckte mit beiden Händen sein verzerrtes Gesicht. Ich hätte Einsicht und Reue zeigen können, Verständnis und Mitleid mit ihm haben müssen, wie er so dahockte und von Schluchzern geschüttelt wurde. Aber je bitterer der Anblick wurde, desto mehr hasste ich ihn. Ich empfand in dem Augenblick kein Mitleid, nur Hass. Ob ich denn ganz und gar blind sei, ob ich denn nicht sehe, was Thomas wolle, dass der uns nur auseinanderzubringen gedächte, stammelte Jochen. Er ließe sich sein Leben von dem nicht kaputtmachen, dafür werde er sorgen. Aufhören müsse ich mit Thomas, auch dafür werde er sorgen. Er wisse nicht, was er sonst tue. Ob ich ihn denn überhaupt nicht mehr liebe, ob denn alles vorbei sein solle.
Nichts sollte vorbei sein, überhaupt nichts. Mit ihm nicht und mit Thomas nicht. Ich wolle keineswegs Schluss machen mit ihm, beteuerte ich. Dass ich Thomas nicht wiedersehen werde, konnte ich ihm jedoch nicht versprechen. Jochen raffte sich aus der Fußbodenecke auf und ging. Ich würde schon sehen, was passiert.
Ich ließ alles stehen und liegen, zog mich an und ging ihm nach. Und dem versoffenen Kerl über ihm werde ich es heimzahlen, anzeigen werde ich ihn! Wegen Ruhestörung. Da war es null Uhr dreißig.

Dienstag, 30. August
Ich war Jochen nachgegangen aus Angst, er könne sich wirklich was antun. Jochen lag aber in seinem Bett. Zwar ganz ruhig, aber die Finger mochte er ins Kissen gekrallt haben und aus den krampfhaft geschlossenen Augen sickerten noch immer Tränen. Reden wollte ich jetzt nicht mit ihm. Auch ich machte mein Bett und legte mich hin. Im Haus war alles still geworden. Nirgendwo rauschte Wasser.
Auf der Arbeit war mit mir den ganzen Tag über nichts anzufangen gewesen. Mir ging nichts von der Hand, mochte niemanden sehen. Nur der gestrige Abend zog als Endlosschleife unaufhörlich an mir vorüber. Morgens schon, auf dem Weg zur Fähre, waren mir die Augen feucht geworden. Vom Wind nehme ich an.
Mit bangen Schritten war ich dann nach Feierabend nach Hause gekommen, wo mich aber weiter nichts als ein Brief aus Westberlin erwartete. Er war mit der Maschine geschrieben und hat folgenden Wortlaut.
                   Berlin,den 19.08.88
Lieber Friedemann!
Also ich komme nicht umhin, mich bei Dir noch einmal zu entschuldigen für mein nicht erscheinen bei Dir. Lange genug hatte ich es ja geplant gehabt nach … für ein paar Tage zu fahren, aber es ist wie so oft im Leben doch alles anders gekommen. Kurz zuvor hatte ich erfahren,daß Freunde von mir aus München nach Kopenhagen gefahren sind und deshalb habe ich alles auf den Kopf gestellt und habe mich mit ihnen in Kopenhagen getroffen. Trotzdem war ich paar Tage in Schwerin bei meinen Verwandten gewesen. In der Nähe von Schwerin wohnen sie auf einem wunderschönen Bauernhof mit Schweinen und Hühnern.Wunderbar gelegen am See und eine Ruhe dort! Einen Tag sind wir zum Strand nach Warnemünde gefahren, aber es ist dort ja alles so überfüllt von Touristen gewesen und das macht dann auch nicht sehr viel Spaß. Einfach zu wenig Restaurant's und Kaffee's,wo man mal ganz gemütlich genießen kann.Im Prinzip ist doch nichts los und sehr viel wird nicht geboten.Die Urlauber rennen wahllos durch die paar Geschäfte in Warnemünde und das alles ziehmlich hektisch. Am Freitag bin ich dann von Schwerin nach Warnemünde gefahren und durch das lange warten an der Tankstelle vor Warnemünde ist mein Zeitplan etwas durcheinander gekommen. Zu spät bin ich los gefahren,aber die Fähre 16.30 Uhr habe ich noch gut geschafft gehabt. Warst Du am Freitag um 14.30 Uhr am Bahnhof Warnemünde gewesen? Normalerweise halte ich Termine immer ein,aber leider ist es diesmal nicht so gewesen. Gegen 20.00 Uhr war ich dann in Kopenhagen und mein engl.Freund Nigel,der schon seit 9 Jahren dort lebt, hatte mich dann in Empfang genommen.Anschließend sind wir Essen gegangen und danach in die Kneipen bis in die Morgenstunden.
Kopenhagen kenne ich ja nun schon sehr gut und es ist eine sehr schöne Stadt.Ich bin ein großer Skandinavien Fan.Sonntag sind wir von Kopenhagen aus nach Schweden gereist für einen Tag.Es sind ja bis Helsingborg nur 40 km von Kopenhagen aus. Am Dienstag bin ich dann zurück nach Berlin gekommen und hatte eine schöne Woche gehabt.
Morgen möchte ich wieder einmal nach Ost-Berlin gehen zum „schwofen“.Wenn Du willst,dann schreibe mal was über Dich und was Du so machst.
          Es grüßt Dich herzlich Thomas

Ich ging zu Jochen, der inzwischen auch nach Hause gekommen war und gar nicht gut aussah, er musste sich furchtbar elend fühlen. Es herrschte bedrücktes Schweigen. Was hätten wir auch anderes tun sollen! Die Vorwürfe und Beteuerungen des Vorabends wiederholen? Miteinander reden? Die Angst, ich könnte ihn verlassen, ihn allein zurücklassen, drückte Jochen wie einen nassen Schwamm zusammen. Dabei hatte ich gar nicht vor, ihn im Stich zu lassen. Das heißt, so ganz sicher war ich mir nicht. Die Frage, wie ich mich nun in dieser verzwickten Beziehung entscheiden sollte, hatte ich wie einen Stein mit mir herumgetragen, war aber nicht zu einer eindeutigen Antwort gekommen. Meine panische Angst vor jedweden Veränderungen, vor Neuerungen überhaupt, hatte mich bisher davon abgehalten, den entscheidenden Schritt zu tun: Jochen fallen zu lassen und mich ganz Thomas zuzuwenden. So ein Tumult, wie es ihn gegeben hatte, und ganz unnötigerweise, wie ich meine, oder womöglich noch mehr davon, könnte das Haus ganz leicht zum Einsturz bringen. Aber wie lange würde das gut gehen? Was, wenn Thomas trotz aller schönen Reden von Liebe und so doch ein falsches Spiel mit mir, mit uns treibt? Sieht er eines Tages sein Ziel erreicht, würde er mich vielleicht wie eine heiße Kartoffel fallen lassen. Was sollte ich dann machen? Zu Jochens Grab kriechen, dem die Trennung der Tod war? Das Beste wäre, alles so zu belassen, wie es ist, dachte ich. Thomas wird sich ohnehin so schnell nicht wieder sehen lassen. Aber dieser Auftritt, nicht noch einmal …
Jochen war aus dem Zimmer gegangen, denn es hatte geklingelt, nun kam er zurück. Er brachte eine Plastetüte mit, die ihm Thomas wortlos hereingereicht hatte. Darin waren einige Schallplatten und eine Kassette, die sich Thomas ausgeliehen hatte. Außerdem lagen noch drei Spielkarten im Beutel, auf deren Rückseiten, legte man sie nebeneinander, sich sechs Mädchen mit langen Zöpfen als blaue Silhouetten bei den Händen fassen. Auf der Vorderseite, die gelb eingerahmt ist, hat jede Karte in Rot eine Redewendung, darunter in Schwarz und Klammern die Erläuterung dazu. Thomas hatte auf jedes Kärtchen seinen Kommentar geschrieben. An wen er gerichtet war, war nicht ersichtlich. Das war‘s dann wohl, dachte ich verzweifelt.

Eigentlich hätte ich zu Detlef K. gehen müssen, denn die Leitung des Arbeitskreises Homosexualität der ESG hatte sich zu 18 Uhr bei ihm verabredet. Besser ist es, dachte ich, Jochen jetzt nicht allein zu lassen, denn er war den Tränen immer noch näher als mir.
Später klingelte es noch einmal. Vor der Tür war aber niemand. Dennoch hing an ihr ein Passbild. Auf dem Aufkleber, mit dem es „niemand“ dort angeheftet hatte, steht: „DAN✈AIR We‘re going places“. Jochen legte beides auf den Tisch und setzte sich wieder in seine Couchecke. Das Taschentuch in seinen Händen musste allen Willkürlichkeiten standhalten und statt meiner Trost spenden. Thomas war noch nicht fertig mit uns, dachte ich.
Es war ein Passbild von Thomas. Richtiger: Es war mal eins gewesen! Thomas hatte es in 16 feine Streifen zerschnitten, die nur noch durch einen schmalen Steg am oberen Rand zusammengehalten werden. Streicht man die Streifen glatt, erkennt man den hellen Lichtschein der Fotolampe, der auf seinen langen blonden Haarsträhnen, die in einem Linksbogen auf den Brauen enden, liegt. Seine im Schatten liegenden Augen sehen gerade ins Objektiv. Die Stupsnase wirft kaum Schatten. Darunter der leicht verzogene Mund, der kaum breiter als die Nase ist, und die zusammengekniffenen Lippen geben dem Gesicht einen leicht verächtlichen Zug. Das Kinn ist glatt, das Poloshirt vollständig zugeknöpften. An der Kette darüber hängt ein kleiner Silberbarren. Aus den Kragenspitzen seiner Weste hängt eine Kordel. Es sieht aus, als würde er sich ein Lächeln verkneifen. Jetzt noch!
Irgendwann kam dann der langschwänzige Frank, was mir ganz recht war. Ich machte mich sofort und wie immer bereit, sie alleine zu lassen. Jochen wollte zwar, dass ich bleibe, ging aber doch, denn ich wusste ihn ja nun in guten Händen. Vielleicht bringt ihn der auf andere Gedanken, hoffte ich. Ich hoffte aber nicht nur dies! In Wirklichkeit wollte ich mir ganz uneigennützig ein Argument gegen Jochen in Sicherheit bringen. Ich ging zur hinteren Haustür raus und unter Thomas‘ Fenster vorbei. Das Rollo war runter gezogen. Zu Hause hielt ich es dann bis gegen neun aus, zog mir dann die Jacke wieder über und ging noch einmal an Thomas‘ Fenster vorbei. Es war wieder nichts zu sehen. Enttäuscht kehrte ich um. Ich hatte so gehofft, ihn zu sehen, vielleicht mit ihm zu sprechen, jetzt, wo Jochen Besuch hatte.
Um 9.30 Uhr klingelte es bei mir. Jochen kommt wieder kontrollieren, dachte ich. An der Tür war er nicht, auch vom Fenster aus war er nicht zu sehen. Ich nahm den Schlüsselbund und ging runter. Draußen war es ziemlich frisch. Ich sah links um die Ecke: niemand. Gerade wollte ich wieder in die Haustür, mich fröstelte, als aus dem Dunkel, ungefähr in Richtung Eisdiele, ein Geräusch zu hören war. Neugierig schritt ich über den Asphalt etwas näher. Auf der Bank, die dort am Rande der Straße im Rasen steht und über der sich die weit ausladenden Äste einer großen Weide im Wind bewegten, saß Thomas und erwartete mich.
„Na?“, fragte er.
Ich setzte mich zu ihm und erzählte, dass ich schon zweimal unter seinem Fenster gestanden hätte, in der Hoffnung ihn zu sehen. Wie der gestrige Abend ausgegangen sei, ob es noch viel Ärger gegeben habe, fragte Thomas. Ich versuchte die Sache herunterzuspielen und bat ihn um Entschuldigung. Dass Thomas wiedergekommen war, machte mich sehr froh. Aber warum er wiedergekommen war, darüber dachte ich nicht nach. Thomas war da und das genügte mir. Wir sprachen darüber, wie es nun weitergehen solle. Ich wäre mit ihm lieber rein gegangen, denn ich zitterte schon vor Kälte. Thomas wollte nicht, gab mir aber dafür seinen Pullover, den ich überziehen sollte. Während ich mir den Pullover, der mir eigentlich viel zu klein war, über den Kopf streifte, sog ich mit Wonne die Luft ein, die durch die Maschen strömte und sich so mit einem lieblichen Aroma versetzt hatte.
22.05 Uhr ging Thomas.
Mittwoch, 31. August
Als ich heute von der Arbeit nach Hause kam, saß Thomas wieder bei der großen Weide auf der Bank und wartete auf mich. Er wusste, ich würde früher als gewöhnlich kommen. Er ging mit rauf und blieb bis 16.15 Uhr. Gegen 17 Uhr tauchte er dann unter Jochens Fenster auf, wo beide miteinander sprachen.
Heute hatte ich von Harald einen Brief im Kasten.

                                                                                                               Eggesin, d.29.08.88
         Hallo, Ihr zwei!
Ich muß doch auch einmal zur Feder greifen, um ein paar Zeilen zu schreiben. Ich bin jetzt bis 28.10.88 hier in Eggesin zur Reserve. Vielleicht brauchte ich das mal. Wer weiß? Werde mich dann ab November auch wieder mehr sehen lassen. Im Moment arbeitet ihr wohl auch bloß mit halber Kraft. Bernd ist weg, Detlef K. zur Schule und Dirk in Halle. Wie ist der Zulauf im Arbeitskreis? Wohl recht unterschiedlich. Im Programm las ich, daß im November so eine literarische Veranstaltung geplant ist. Wenn noch jemand gebraucht wird, würde ich gerne wieder mitmachen und einige Sachen vortragen. Melde Dich doch mal bei mir. Theater muß ich ja jetzt auch 2 Monate sausen lassen. Es ist halt nicht zu ändern. Burkhart und ich würden Euch sonst auch mal besuchen. Am 10.09. und 17.09. wäre ich wohl in Rostock und wir könnten mal vorbeischauen. Nur, wenn es recht ist. Unseren ersten richtigen gemeinsamen Urlaub haben wir auch hinter uns. Hat Spaß gemacht. Die Wohnung ist jetzt auch renoviert. Die Leute sind im Haus ganz natürlich und auch ganz nett uns gegenüber. Schöner als Dirkow finde ich Lütten Klein auch. Ich schreibe noch die Adresse von Lütten Klein auf: (Ich lasse sie aber weg!)
Also, machts gut.                                    Harald

So, wie die Dinge im Moment liegen, überlegte ich, können wir gar keinen Besuch gebrauchen. Wir müssten heile Welt spielen.
Nach langem Hin und Her entschloss ich mich endlich, meiner Schwester einen alles erklärenden Brief, ein Geständnis sozusagen, zu schreiben. Ich hatte lange mit mir gerungen und diesen Schritt zu tun, war mir nicht leichtgefallen. Ursprünglich hatte ich damit bis nach dem Tode beider Elternteile warten wollen.

                                                                                                                 Rostock, d. 31.8.88
Hallo Edeltraud!
Gestern lag Dein Brief im Kasten. Habe mich sehr darüber gefreut und ich bedanke mich. Eigentlich ist mir im Moment so gar nicht danach, Briefe zu schreiben, vielleicht lenkt das aber ein wenig von meinem Kummer ab, und ich möchte Dich auch nicht zu lange auf eine Antwort warten lassen.
Tante A. wartet bestimmt auch schon auf eine Antwort auf ihre viele Post.
Ich habe sehr viel Geduld, schon immer gehabt, besonders dann, wenn ich irgendein Ziel verfolgt habe. Wenn ich mir in bestimmten Situationen die Hintergründe klarmache und dadurch zu einem gewissen Grad an Einsicht und Verständnis gelange, dann gewinne ich dadurch noch weiter an Geduld. Ob ich aber wie Du, eingekeilt zwischen Edwin und Mutti, auf die Dauer das aushalten würde, was Du nun schon solange mitgemacht hast, bezweifle ich. Du solltest Dir deshalb auch keine Vorwürfe machen, wenn Mutti ins Heim einzieht. Für Dich und Edwin wird es bestimmt besser sein.
Ja, der Urlaub war schön, aber was danach kam, war es weniger. Soviel Kummer, soviel Tränen, soviel Flehen und Bitten hatte es noch nie gegeben. Und ich weiß nicht, wie das alles enden wird. Ich hoffe noch immer, daß alles wieder gut wird.
Mit Angst und Unlust gehe ich morgens zur Arbeit. Dort stand ich bis gestern unter einem unheimlichen Termindruck. Nun arbeite mal geistig, wenn du dich auf das, was du tun sollst, keine zwei Minuten hintereinander konzentrieren kannst, wenn die Gedanken immer und immer wieder nur zu dem einen Gegenstand zurückkehren, der die Ursache ist für die verquollenen Augen, den Kloß im Hals und das flaue Gefühl im Bauch. Zum Glück war Schwester Renate in Urlaub, so konnte ich hinter mir die Tür zumachen und brauchte mich mit niemanden unterhalten, worüber auch! Meine Probleme möchte ich nicht auf der Arbeit ausbreiten, wer weiß, was das für Folgen hätte. Ich bin mir auch gar nicht sicher, ob es klug ist, hier im Brief davon zu reden. Du hast selbst Sorgen genug, Du brauchst nicht auch noch meine. Irgendwann wollte ich mit Dir sowieso über das Thema reden. Mit Dir, nicht mit Edwin, ich weiß nicht, wie er reagieren würde. Ich hatte immer warten wollen damit, bis Mutti und Papa tot sind. Da Du aber vor einiger Zeit am Telefon so eine Bemerkung gemacht hast, die mich damals doch sehr erschreckte und mir nun glauben macht, Du ahnst, wovon ich rede, ist es mir in diesem Moment egal, was es nach sich ziehen mag. Ich bin ja bisher auch alleine damit fertig geworden. Vor zwei Jahren war es, glaube ich, da hatte ich mir schon einmal so einiges von der Seele geschrieben und an Olaf in Prenzlau gerichtet. Der hatte das Ganze mit erstaunlich viel Gelassenheit und Verständnis aufgenommen. Wir sind trotzdem noch Freunde.
Komme ich dann von der Arbeit nach Hause, bin ich voller Ungewißheit über das, was mich erwartet. Ich gehe morgens weg von zu Hause, nachdem ich in tränennasse Auge gesehen habe und ich komme nachmittags zurück und blicke als erstes wieder in tränenaufgelöste Augen. Ich weiß, ich bin schlecht und tue Unrecht. Aber kann ich dafür? Tut der Mensch nicht manchmal Dinge, die ihn hinterher gereuen, Dinge, die zu beeinflussen er nicht die Macht hat. So manches Mal stemmt sich das Herz mit aller Gewalt gegen die Entscheidung des Verstandes. Mancher ist schon zwischen zwei Fronten zerrieben worden. Es tut mir unendlich weh, Jochen so vor mir zu sehen, sich so in seinem Schmerz vor mir zu erniedrigen, zu bitten und zu flehen, ich solle ihn nicht verlassen. Ich kann mich nicht an viele Augenblicke in meinem Leben erinnern, in denen Tränen des Schmerzes über meine Wangen geflossen sind. Was ich solange versäumt hatte, habe ich in den letzten Tagen schmerzvoll nachgeholt. Es tut gut.
Über acht Jahre lebe ich jetzt mit Jochen zusammen. Wir haben so manche Krise überstanden, ja auch, aber es waren meine glücklichsten Jahre, auch wenn ich bisher nicht darüber sprechen konnte. In seiner Familie wurde zwar bisher auch nicht darüber gesprochen, aber ich gehöre seit Jahren dazu. Das alles soll nicht vorbei sein. Das habe ich ihm auch gesagt, er glaubt mir aber nicht. Ich könnte mir ein Leben ohne ihn gar nicht mehr vorstellen. Und trotzdem quäle ich ihn so. Er leidet wirklich. Und trotzdem tue ich es. Obwohl ich mir selber damit Schmerzen zufüge. Wenn er dann so vollkommen aufgelöst und hilflos weinend, daß es mir das Herz aus der Brust reißen könnte, in meinen Armen liegt, dann überkommt mich manchmal zwischen all dem Trösten und Beteuern ein leichtes Gefühl des Hasses, dann könnte ich ihn in seinen Tränen liegenlassen und gehen. In solchen Momenten glaube ich, daß mich gerade sein Kummer von ihm abstößt. Zum Glück komme ich immer rechtzeitig wieder zu mir. Oft überlege ich mir, was ich an seiner Stelle getan hätte bzw. tun würde. Daß man in Situationen allergrößten seelischen Schmerzes kaum körperliche Schmerzen fühlt, habe ich schon ausprobiert. Ich war sehr überrascht, wie leicht einem das fallen kann. Aber es wird alles wieder gut, das verspreche ich mir.
Edeltraud, jetzt habe ich Dich auch noch mit meinen Sorgen beladen und mich dadurch auf unfaire Weise erleichtert. Du hast selbst genug Probleme. Meines ist siebzehn Jahre alt und heißt Thomas.
Ich würde mich freuen, wenn Du mir antwortest, egal wie die Antwort ausfällt. Aber rufe bitte nicht an.
Herzliche Grüße von   Friedemann

Diesen Brief schrieb ich bei mir zu Hause. Es war darüber sehr spät geworden. Meiner Schwester, die schon seit Jahren nicht mehr danach gefragt hatte, wann ich eigentlich heiraten wolle, reinen Wein einzuschenken, war im Grunde genommen nur nebensächlich an diesem unter furchtbaren Wehen geborenen Brief. In erster Linie sollte er mir Jochens Vertrauen zurückgewinnen. Jochen sollte sehen, zu was ich in der Lage bin, um unsere Liebe zu retten. Dass ich trotzdem noch mit falschen Karten spiele, zugegeben. Aber, was soll ich machen?

Freitag, 19. August - Donnerstag, 1. September

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