Die Hoschköppe / 21. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 21. Kapitel

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Freitag, 19. August 1988


Wehe wehe, wenn ich auf das Ende sehe, denn alles fließt. Aber wohin?
Niemals kann es zwei Dinge, zwei Situationen geben, die sich vollkommen gleichen. Ich habe schon viel erlebt, während der Kindheit, in der heißen Phase meiner Jugendzeit und auch noch danach. Sachen, an die ich mich sehr gern erinnere, die Teil meines Lebens wurden und die ich um keinen Preis missen möchte. Bis zum heutigen Tag habe ich aber auch viele Fehler gemacht, vieles hätte besser oder zumindest anders gemacht werden müssen. Alles kam so, wie es eben kam, und ich hatte es auch immer so hingenommen. Wo es mir gestattet war, die Zügel selbst in die Hände zu nehmen, da lenkte ich. Was hatte ich mir alles einfallen lassen, wenn es darum ging, einen fremden Schwanz in meine Finger zu bekommen. Wie zufällig und ungewollt sollte es aber schon aussehen. Damals, in meiner Jugend, kannte ich keine Hemmungen, im Gegensatz zu heute. Je älter ich werde, umso größer werden sie. Wenn ich auch noch so gewissenhaft im großen Buch meiner Erinnerungen Seite für Seite umblättere, so findet sich darin keine einzige Begebenheit, die sich mit dem Erlebten der letzten Monate vergleichen ließe. Noch nie zuvor war mein Denken über so lange Zeit von nur einem Gegenstand erfüllt gewesen. Jetzt schlafe ich nicht ein, ohne an ihn zu denken, selbst in meinen Träumen geistert er herum und versüßt sie, ich wache am Morgen auf und mein erster Gedanke gilt ihm. Nur während der Arbeit im Betrieb werde ich kurzzeitig abgelenkt.
Von der Arbeit kommend, ging ich gestern zuerst in unsere große Kaufhalle und von dort weiter nach Jochens Wohnung, um auf Jochen zu warten. Trotz des schönen Wetters war ich nicht erst zum Strand gefahren, wie an den anderen Tagen. Teils, weil Jochen mit seinem Vorwurf recht hatte und teils, weil es wirklich nicht lohnte, denn mehr als irgendwo flüchtig ein Auge voll zu nehmen, war bisher nicht dabei herausgesprungen. Jochen hatte gemeint: „Du bist keinen Deut besser als ich, denn wozu sonst fährst du dauernd noch nach Feierabend zum Strand? Doch nur, um dort was zu erleben. Und nicht etwa, weil du die frische Luft und die Sonne so liebst!“
Als Jochen endlich nach Hause kam, fragte ich ihn noch einmal: „Sag mal, Schieter, was hast du eigentlich mit der Szene bezweckt, die du uns gestern Abend vorgespielt hast, und wo warst du überhaupt?“
„Ich war eifersüchtig auf dich. Und auf Thomas war ich sauer. Ich war draußen. Ich musste an die frische Luft, habe unter dem Fenster gestanden. … Dafür bin ich gut genug, in der Küche zu stehen und den Teig anzurühren. Wenn die Torte dann fertig ist“, dabei umfuhren seine Hände mehrmals den runden Tisch, wohl um die riesigen Ausmaße der Torte anzudeuten, „und ich den ersten kleinen Bissen davon genascht habe, denn ich habe ja nur einen so kleinen Mund, dann kommst du von hinten angeschlichen und schnappst dir den ganzen Rest weg, denn du hast so ein großes Maul!“
Seine Gestik war recht deutlich gewesen. Ich fand den Vergleich sehr lustig und originell und fühlte mich auch etwas schuldig. Er kennt mich gut genug, um zu wissen, dass ich immer da im Hintergrund lauere, wo ich ihm gewisse Freiheiten erlaube. Die Freiheiten gönnt er sich aber auch, ohne erst vorher meine Erlaubnis einzuholen, das muss auch gesagt werden, spricht mein innerer Schweinehund. Es gab schon Zeiten, wo die Seitensprünge peinlich genau gezählt und gegeneinander aufgewogen wurden. Wenn Jochen dabei immer etwas im Vorteil blieb, dann war mir das als kleiner Trumpf in der Hand immer ganz recht gewesen. Als der jüngere und besser aussehende Teil von uns beiden, hat Jochen natürliche Vorteile.
Selbst wenn sich jeder an die Spielregeln hält, so werden die Karten doch erst am Ende des Spieles offen auf den Tisch gelegt.
Der Abend begann wie immer. Wäre er auch geendet wie sonst, dann brauchte darüber kein Wort verloren zu werden. Es kam aber alles ganz anders: Der Abend war neu, mit keinem vorhergegangenen vergleichbar! Er war aufregender und der Schönste bisher.
Das Rollo wurde wieder kurz auf Halbmast gesetzt. Thomas gab durch ein Zeichen zu verstehen, dass er sich gerade die Haare gewaschen habe und in 10 Minuten bei uns sein werde. Ich war noch beim Abtrocknen, eine meiner Lieblingsbeschäftigungen, als er dann kam. Er präsentierte sich strahlend und bester Laune und sah wieder aus, wie ein frisch poliertes Osterei.
„Heute habe ich 3 Stunden auf dem Balkon in der Sonne gelegen“, verkündete er voller Stolz.
Das war dann wohl eine größere Dosis, als die Summe aller, die er während dieses ganzen Sommers seinem blassen Körper zugemutet hatte. Wir hatten ihn oft genug gebeten, mit uns an den Strand zu kommen, bekamen aber jedes Mal einen Korb. Jetzt ließ er sich von mir bereitwillig, und ich hatte alle meine Dreistigkeit zusammengenommen, das T-Shirt aus der Hose ziehen, weil ich die Wirkung der späten Augustsonne auf seinem Bauch nachprüfen wollte. Was ich dann zu sehen bekam, erweckte nicht den Anschein, als hätte da überhaupt jemals irgendeine Sonne draufgebrannt. Jetzt wird sie ohnehin nicht mehr bräunen. Eine angenehme Erwärmung spürte ich, als ich die zwei oder drei krausen Haare erblickte, die sich aus seinem anscheinend sehr schmalen hellbraunen Slip oben herausgeschlängelt hatten …



Donnerstag, 18. August 1988 - Mittwoch, 31. August 1988

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