Die Hoschköppe / 20. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 20. Kapitel

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Donnerstag, 18. August 1988


Als heute Morgen der Klöppel des Weckers erbarmungslos gegen die roten Glocken hämmerte, um mich damit aus dem Schlaf zu reißen, wäre ich liebend gern liegen geblieben, denn am Vorabend war es noch später geworden als Dienstag. Der Wecker zeigte bereits 23.45 Uhr an, als ich endlich ins Bett kam. Noch zu Duschen hatte ich absolut keine Lust mehr. Meine Kraft reichte gerade noch dafür, mir den Staub von den Füßen zu spülen, denn ich war wieder gleich nach Feierabend an den Strand gefahren. Die Tour hatte mir zwar den Verstand durchgelüftet, aber mehr nicht. Lang ausgestreckt und allein in meinem Bett, starrte ich mit geschlossenen Augen ins Dunkel. Ich konnte machen, was ich wollte: Thomas ging mir nicht aus dem Kopf. Der ganze Abend kreiste als Wiederholung in meinem Schädel. Eine ganze Weile hatte ich wohl so gelegen, bis mich der stille Schlaf endlich niederzwang.
Nachdem Thomas und ich von Jochen weggegangen waren, es war wenige Minuten vor 10, standen wir wieder im Windschatten des Zeitungskiosks. Der klobige Minutenzeiger der beleuchteten Uhr, die auf einem hohen Stahlrohr vor uns stand, schwankte in regelmäßigen Abständen von Strich zu Strich. Seitlich und hinter dem Kiosk schüttelte sich die unbeschnittene Hecke. Es war noch windiger als vorgestern, als wir dort das erste Mal standen. Jeder von uns fror so gut er konnte. Wir waren beide, aber besonders Thomas, nicht auf ein nächtliches Stelldichein bei dieser Temperatur vorbereitet. Ich hatte Mühe, das Zittern zu unterdrücken. War ich mit meinen 38 Jahren doch schon zu alt, um harmlose vormitternächtliche Unterhaltungen im Freien zu bestehen? Es gab Zeiten, da hatten selbst mehrere Stunden kein Problem dargestellt. Jetzt machte mir schon eine Halbe zu schaffen. Wir wunderten uns, dass noch so viele Leute unterwegs waren. Keiner von denen schien zu frieren. Mir war es gar nicht recht, dass die mich alle dort stehen sahen. Ich unterhielt mich mit Thomas wohl hauptsächlich übers Autofahren. Über unseren Abend bei Jochen sprachen wir nicht. Anfangs hatte ich zwar darauf angespielt, als ich zu ihm sagte: „Wenn du jetzt nach Hause kommst, dann mach möglichst gleich in deinem Zimmer das Licht an, damit Joschi sieht, dass du zu Hause bist.“ Wir hatten das Thema aber nicht weiter vertieft.
Ach, der Abend hatte gar nicht gut angefangen. Thomas hatte einen an mich gerichteten Brief mitgebracht, den ich erst einmal weggesteckt hatte, um ihn dann später zu lesen, zu Hause und in Ruhe. Thomas hatte es aber ganz offensichtlich darauf angelegt, mir den Brief in Jochens Beisein zu übergeben, und mich dann auch noch dazu aufgefordert, ihn gleich zu lesen, weil er wahrscheinlich sehen wollte, wie wir darauf reagieren. Ich auf den Inhalt des Briefes und Jochen darauf, dass ich ihn bekommen hatte. Ohne dieses Manöver wäre der Abend bestimmt ruhiger verlaufen. Während sich Jochen hinter dem Vorhang zu schaffen machte, der die praktische Kochnische von der Stube trennt, zerrte ich die beiden Briefbögen aus dem engen Umschlag heraus und las, was Thomas mir geschrieben hatte. Der Brief war sogar mit Datum und Uhrzeit versehen. Auf derlei Förmlichkeiten hatte Thomas bisher keinen Wert gelegt.


                               Rostock, den 16.08.1988
Hallo Friedel!              22.48. Uhr
Anfangs ging ich mit einem unbeschreiblichen Angst-
gefühl zu Joschi, denn ich mußte damit rechnen,
Du wärest da. Ich würde lügen, wenn ich behauptete,
ich hätte mich gefreut, Dich nicht anzutreffen.
Zunehmenst und damit zugegeben krampfhaft
startete ich die Versuche, mir ein Bild von dir zu
machen, nachdem Joschi einiges erzählte.
Die erste Zusammenkunft mit Dir versetzte mich
ins Staunen und ich mache keinen Hehl draus –
Du warst mir auf Anhieb sympathisch. Jedoch
kamen wir in folgenden Tagen nie auf einen
Nenner. Wenn ich alles einmal von der Warte
aus betrachten würde, daß Du ohne weiteres mein
Vater sein könntest, schäme ich mich fast für meine
Gefühle. Daß Du mich auf Grund dieser Dinge
und wohl auch noch einiger anderer für schwul
hältst, weiß ich. Ich für meinen Teil weiß, daß ich
nicht schwul bin. Dann kann aber etwas mit mir
nicht stimmen, aber auch das kann Dir schlecht
entgangen sein. Dieser ganze Text, der dem nun
folgenden Satz voranging, sollte einzig und allein
nur dem dienen, Dir zu sagen, daß ich dich mag.
Ja, und für dieses Ding, welches ich da eben raus-
gehauen habe, könnte ich mich schon wieder erschie-
ßen. Nein, aber nun zum Ernst der Sache über zu
gehen, möchte ich, daß Du es so betrachtest, als ernst.
Wahrlich - Lebenserfahrung habe ich zweifels ohne nicht
gerade mit Löffeln gefressen, eher mit einer Gabel.
Bei mir ist schon gar nicht mehr ab zu wiegen, was
Spaß und was Ernst ist. Man sagt immer – was
für einen gut ist, weiß man selbst am besten, davon
kann bei mir nicht die Rede sein. Den Überblick,
den ich sonst wahrlich hatte, habe ich verloren.
Jetzt möchtest Du wohl wissen, wie Du mir helfen
kannst, das will ich Dir sagen - gar nicht. Ich muß
da jetzt selber hineinfinden - oder willst Du lieber
hören herraus finden. Für das, was ich mache kann
ich keinen Anderen verantwortlich machen, als mich
ganz allein. Ich möchte zwar, daß aus dieser Sache
was wird, aber ich habe Angst, Angst vor Dir; - Joschi
und überhaupt vor dem ganzen Geschäft, wenn
man dies so nennen kann. Gespannt bin ich jetzt
nur noch auf Deine Reaktion.

Es ist nicht nur, daß ich zwei Männer
kennen gelernt habe, die schwul sind –
nein - es ist auch so, daß diese einen
besonders gesunden Menschen verstand
haben, von dem ich glaube provitieren
zu können.


Ich bin in eine Grube gefallen, die viel zutief
war, um alleine wieder herraus zu kommen.
Ich hoffte auf Eure Hilfe - und ich hoffe
immernoch. Ich vertraue Euch, vieleicht stößt
es ja sogar auf Gegenseitigkeit. Gruß Thomas

Thomas musste also diesen Brief noch am Dienstagabend geschrieben haben, nachdem wir das erste Mal am Zeitungskiosk gestanden hatten. Jetzt sah er mich fragend an. Mir wäre es lieber gewesen, er hätte nicht auf eine sofortige Antwort bestanden, auch wollte ich mich nicht im Beisein von Jochen dazu äußern. Der Inhalt des Briefes hatte mich einigermaßen verwirrt und ich war mir noch nicht im Klaren darüber, was mir Thomas sagen und was er mit dem Brief wirklich bezwecken wollte. So sagte ich lediglich, und das mag Thomas bestimmt nicht befriedigt haben: „Wir sollten uns schon gegenseitig vertrauen. Dass wir in den letzten Tagen nicht immer auf einen Nenner gekommen sind, lag vielleicht daran, dass wir nicht miteinander reden. Wenn du mit Jochen zusammenhockst, dann werden Probleme gewälzt, dann hast du 'ne Menge Fragen. Wenn ich dabei bin, wird über so was nicht gesprochen. Meinst du, ich könnte da nicht mitreden?“
Ganz unerwartet war Jochens Reaktion. Er war inzwischen aus seinem Versteck herausgekommen und begann nun zu schmollen, ging dann hinaus und zog hinter sich die Stubentür zu. Als ich nachsehen ging, war er verschwunden, vielleicht in den Keller runter. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, eigentlich auch jetzt noch nicht, dass er ernsthaft böse auf mich ist. Dann schon eher auf Thomas. Dass ich ihm den Brief schon noch gezeigt hätte, musste Jochen doch wissen.
„Was macht der da so lange im Keller?“, sorgte sich Thomas.
„Er wird am Fahrrad rumbasteln“, beruhigte ich ihn. „Er meint es nicht so.“
Ich dachte, er wolle Thomas zeigen, dass er sich gekränkt fühlt. Als Jochen endlich wieder da war, war gleichzeitig mit ihm eine Eiseskälte ins Zimmer eingezogen. Es wurde laut und manches Wort wäre besser ungesagt geblieben. Wir hatten Jochen versichert, dass in dem Brief nichts Schlimmes, gegen ihn Gerichtetes, stehe. Da er sich nicht beruhigen wollte, gab ich ihm den Brief zu lesen. Mit raschen Blicken überflog er ihn und meinte dann: „Den kann ich ja jetzt genauso vorlesen wie den von Raymond.“
Diese Bemerkung hielt ich für völlig daneben, die hätte er sich klemmen können. Er las und sein Gesicht verriet keinen seiner Gedanken. Er faltete die Seiten ordentlich zusammen und steckte sie in den Umschlag zurück, den er dann auf den Tisch legte. Ihm war aber sichtlich wohler. Der Sturm legte sich und die Wolken am Himmel begannen aufzureißen. Alles wieder okay, dachte ich. Jochen stand auf und im Vorbeigehen fuhr er Thomas beschwichtigend durchs Haar. Ich war erschrocken darüber, mit welcher Wucht Thomas Jochens Arm wegschlug. Wollte er die Versöhnung nicht annehmen? Auch Jochen musste ob dieser Antwort sehr überrascht gewesen sein, überspielte es aber ausgezeichnet. Vielleicht war selbst Thomas erschrocken, auf alle Fälle hatte es ihm körperliche Schmerzen eingetragen, das war ihm anzusehen. Er hatte Jochens Uhrenarmband erwischt, das, vom Schlag getroffen, aufsprang. Die Luft war also doch noch nicht ohne Spannung. Zu meinem Selbsterhaltungstrieb gehört die Eigenschaft, knisternde Spannungsfelder möglichst schnell und geräuschlos zu verlassen. Ich ging darum ins Bad und wusch mir sehr ausführlich den mir verbliebenen Haarkranz. Damit fertig wollte ich vorsichtig wieder ins Zimmer treten, als ich Thomas sagen hörte: „Es kotzt mich an, dass der jetzt auch noch verschwunden ist, das kannst du ihm ruhig sagen.“
Er hatte vielleicht geglaubt, ich sei nach Hause gegangen. Das hatte ich schon öfter drauf gehabt, einfach abzuhauen. Wieder saßen wir drei gleichmäßig um den runden Tisch verteilt und ödeten uns an. Nur nach und nach lockerte sich die Atmosphäre durch belangloses Reden, wobei Thomas weghörte.
„Wie sieht es aus, Thomas, hast du Lust, mit ins Theater zu kommen?“, fragte ich ihn.
Keine Antwort. Er saß zwar in seinem Sessel, wir konnten ihn sehen, war aber wer weiß wo, auf alle Fälle sehr weit weg. Vielleicht hatte er sich auf eine einsame Insel zurückgezogen, wo ihm ein lauer Windhauch die blonden Strähnen von den überschatteten Augen strich, wo ihm eine freundliche Sonne schien und die Gewitter hinterm fernen Horizont blieben, wo er allein war und wir ihn nichts mehr angingen. Als ihm aber das Alleinsein über war, sprang er plötzlich auf, hastete als sei der Leibhaftige hinter ihm her zur Abwäsche, wo er den Wasserhahn aufdrehte. Er hätte doch was sagen können, wenn er Durst hat. Er braucht doch nicht dieses Wasser zu trinken, dachte ich. Mir war, als hörte ich ein Schluchzen. Ich sah Jochen fragend an, der mit den Schultern zuckte. Hatte Thomas sein Gesicht in eine Handvoll Wasser tauchen müssen? Er ging ohne ein Wort hinaus, die Stubentür hinter sich zureißend. Der haut ab und kommt vorerst nicht wieder, war mein erster Gedanke. Wir hockten da, mit der Ungewissheit vor uns auf dem Tisch. War irgendwas schief gelaufen? Oder lief gerade so alles nach Plan? Nun war es Jochen, der nachsehen ging. Durch die offene Stubentür nahm ich sofort die gelben Schuhe war, die noch immer unter der Flurgarderobe standen, und wusste, noch ist Thomas da.
Sie kamen beide nach wenigen Minuten, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, wieder und setzten sich gemeinsam auf die Couch. Es war ihnen anzusehen, dass das Eis nun endgültig gebrochen war. Gott sei Dank! Aber dann verblüffte mich Thomas noch einmal. Schon den ganzen Abend hatte Jochen im Stillen Thomas‘ Rasierwasser bewundert. Jetzt scheute er sich nicht, seine Nase dicht an dessen Wange zu bringen, etwas zu dicht für meinen Geschmack, um den Duft, der unwiderstehlich von Thomas ausging, mit vollen Zügen in sich aufzunehmen.
„Komm her, schnuppere mal“, forderte Jochen mich auf.
„Friedel hat Angst, mich zu berühren“, spottete Thomas, nur weil ich zögerte, es zu tun.
Ich war voller Hemmungen. „Das stimmt“, gab ich zu. „Woher weißt du das?“
„Das merke ich.“ Thomas schaute durch meine Augen bis tief in meine Seele.
„Ich würde es aber sehr gern tun, das kannst du mir glauben“, bekannte ich und hatte Mühe, nicht immerzu auf Thomas‘ Knie zu starren, das Jochen längst mit seinen Händen umfasst hielt. Das Geständnis, ihn sehr gerne zu mögen, rang ich mir dann auch noch ab.
„Ist dir das jetzt sehr schwer gefallen?“, wollte Thomas wissen.
„Dich gern zu haben, nicht, aber dir das zu sagen, hat mir Herzklopfen gemacht.“
Er sei siebzehn, hatte er uns beiläufig mitgeteilt.



Mittwoch, 17. August 1988 - Freitag, 19. August 1988

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