Die Hoschköppe / 38. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 38. Kapitel

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Donnerstag, 22. September 1988


Nach nur anderthalbstündigem Schlaf war es mir heute Morgen beim Schrillen des Weckers, dieses Schlaf mordenden Instruments, nicht erspart geblieben, aufzustehen. Wie herrlich wäre es jetzt, dachte ich, uns nach dem amourösen Bettgeflüster in den Armen zu liegen, bis in den Nachmittag hinein zu schlafen und zu träumen, denn das hatten wir uns gewünscht, als wir uns trennten.
Ich war gestern recht frühzeitig mit allen Vorbereitungen für das Entwickeln der Fotos fertig. Der Vergrößerungsapparat kam wie immer auf den Kühlschrank im Korridor, die angesetzten Lösungen ins Bad. Und für den Fall, dass er sich tatsächlich fotografieren lassen würde, hatte ich sogar einen neuen Film in den Fotoapparat eingelegt. Neben all diesen Vorkehrungen hatte ich es noch geschafft, einen weiteren Negativfilm zu entwickeln.
Meik war aber zum verabredeten Termin nicht erschienen. Ich sage es ja immer wieder: In der heutigen Jugend ist keine Zucht und Ordnung mehr! Ist eventuell besser so, tröstete ich mich. Meine Ankündigung, er müsse sich dann ausziehen, war ihm wohl tatsächlich in Mark und Bein gefahren. Während ich vergebens auf Meik gewartet hatte, schrieb ich für Thomas ein Gedicht. Später faltete ich davon einen Durchschlag dreimal zusammen und steckte ihn in die Jackentasche, schnappte die zwei Tüten Tomaten, die ich aus der kleinen Kaufhalle mitgebracht hatte, und ging zu Jochen. Weil auf den kalten Betonstufen vor Jochens Haustür zwei größere Mädchen saßen, vermied ich es, bereits dort auf den Klingelknopf zu drücken, um mir die Wohnungstür öffnen zu lassen. Beide unterhielten sich mit einem interessanten Jungen. Die Mädchen grüßten. Warum, weiß ich nicht.
Im Korridor befreite ich mich zuerst von den Tomaten, steckte gleich darauf das zusammengefaltete Papier mit dem Gedicht in die rechte Tasche von Thomas‘ Jeansweste, die an der Flurgarderobe hing, und ging dann ins Zimmer. Beide, Jochen und Thomas, saßen in trauter Zweisamkeit beieinander und über M/L. Da der Tisch, an dem sie saßen, jetzt fürs Abendbrot benötigt wurde, musste ich sie notgedrungen unterbrechen und auseinander reißen. Während Jochen und ich schon tüchtig reinhauten, gab uns Thomas ein ganz besonderes Kabinettstückchen zum Besten. Er hatte sich Gorbis neues Buch gegriffen, welches Jochen zufällig in die Hände gefallen war und in der Anbauwand lag. In kabarettistischer Manier, mit wunderbar verstellter Stimme und in Anwendung verschiedener Dialekte, las er wesentliche Abschnitte daraus vor. Jeden passenden Satz pointierte er mit: „… nur nicht in der DDR!“ oder: „… und wie steht es damit in der DDR?“ Wir mussten mit dem Essen aufhören, denn wir konnten nicht mehr vor Lachen. Dass der Kleine derart komödiantische Talente besitzt, war uns bislang verborgen geblieben. Im Geiste sahen wir unsere aus überalterten Politfransen zusammengefilzte Regierungsclique vor uns, die auch gut lachen hatte. Noch!
Nach dem Essen machten sich beide an die weitere Ausarbeitung des Vortrags, den Thomas zu halten genötigt war. Ich nahm wie Dienstagabend den Kopfhörer, legte eine andere Platte auf und ließ sie machen. Aber noch bevor ich die erste Seite zu Ende angehört hatte, waren sie fertig. Thomas, nun aus der Pflicht entlassen, drückte mit dem großen Zeh auf die Stopptaste des Plattenspielers, kam zu mir und nahm mir den schwarzen Ohrenwärmer weg. Auf der Liege lang ausgestreckt, umklammerte ich ihn mit meinen Armen und hinderte ihn so daran, sich wieder zu entfernen. Jochen, der Angst um seinen teuren Kopfhörer bekam, nahm ihn Thomas aus der Hand, wickelte erst ganz ordentlich das lange Kabel auf und versuchte dann, Thomas zu befreien, indem er ihn mit Gewalt von mir herunterzuziehen versuchte.
„Den gebe ich nicht wieder her“, verkündete ich.
„Los, aufstehen, wir machen Aerobic!“, sagte Thomas zu mir.
Jochens Missbilligung schien ihm eine Gefährdung ihrer Zusammenarbeit in Sachen Hausaufgaben anzudeuten. Aber auch ich war nicht daran interessiert, Jochen über Gebühr zu reizen und gab Thomas deshalb frei, wenn auch schweren Herzens. Thomas fing sofort damit an, die beiden schweren Sessel und den Tisch wieder dicht an die Couch zu schieben. Dann zog er sich das Hemd aus. Wahrscheinlich erwartete er Hitzewallungen. Wie schön, ein Lichtblick in der trüben Finsternis, freute ich mich, ließ den Anblick einen Moment auf mich einwirken und tat dann ein Gleiches, was wohl auf fremde Augen weniger beeindruckend gewesen wäre. Jochen dagegen trennte sich vorerst nur von seinem Pullover. Unter der bewährten Leitung unseres kleinen Ballettmeisters absolvierten wir eine weitere lustige Tanz-, Turn- und Schwitzstunde. Thomas hatte wieder eine Menge neuer Schritte choreografiert. Sie Jochen beizubringen, fiel nicht schwer. Ich bereitete ihm aber erneut Sorgen. Natürlich machte unser Vortänzer nicht nur die beste Figur in diesem Reigen, sondern er hat sie ganz einfach. Das wilde Gehopse, Ballett war noch nie mein Fall gewesen, wurde plötzlich durch den Schrei des braunen Kurzzeitweckers unterbrochen, der Jochen an die Wäsche erinnern wollte. Tänzelnd eilte er sofort ins Bad und kümmerte sich liebevoll um den Inhalt der Waschmaschine, indessen ich weiter mit Taktanweisungen durch Thomas malträtierte wurde. Abgeschlafft bis zum Gehtnichtmehr brachte ich gerade noch die Kraft auf, Thomas davon in Kenntnis zu setzen, dass ich ihm einen Zettel in die Westentasche gesteckt habe.
„Nachher um elf?“, fragte Thomas.
Das war es eigentlich nicht, was der Zettel wollte. Ich antwortete keuchend und mit einem angedeuteten Lächeln: „Ja. Du musst dann aber bald gehen, damit ich noch eine Weile hier bleiben kann.“ Es war zwanzig Uhr fünfundvierzig.
„Okay, ich werde gleich gehen“, meinte er und ging zu Jochen ins Bad, die Wäsche aufhängen zu helfen.
Ich schleppte mich zur nächsten Limoflasche, setzte sie zitternd an die Lippen und räumte nach einem kräftigen Schluck das Zimmer auf. Als Thomas zwischendurch für einen kurzen Augenblick ins Zimmer zurückkam, flüsterte ich ihm zu: „Ich sehe dann wieder aus dem Fenster, wenn die Luft rein ist.“
„Hoffentlich schlafe ich bis dahin nicht ein“, gab er zu bedenken.
Bis Thomas dann wirklich ging, waren noch etliche Minuten verstrichen, in denen er mit sich selber tanzte und grimassenhafte Gesichter schnitt, die nur er kann. Woher nur nimmt der Kleine diese ausdauernde Energie? Er zögerte sein Gehen immer weiter hinaus, als könne er sich nicht von uns trennen. „Bis morgen“, sagte er dann beim Abschied.
„Morgen gehen wir doch ins Theater!“, erinnerte ich ihn.
„Er kann doch um fünf trotzdem kommen. Du bist doch auch um fünf hier“, sagte Jochen.
Thomas ging langsam und mit gesenktem Haupt die Treppe hinunter, als hätte ihn jemand gekränkt. Ich ließ das Rollo hochschnellen und öffnete das Fenster, damit der Schweißgeruch abziehen konnte. Unten ging Thomas vorbei. Jochen meinte: „Das hättest du nicht sagen dürfen. Jetzt ist er ganz geknickt.“
„Was hätte ich nicht sagen dürfen? Ich habe doch nichts gesagt!“
„Dass wir morgen ins Theater gehen. Er kommt so gern hierher, das weißt du doch.“
„Er kann doch kommen.“
„Er kommt doch sowieso nur deinetwegen. Wenn du nicht hier bist, fragt er spätestens nach zehn Minuten, wann der Hoschkopp kommt.“
„Und wenn ich dann komme, dann sagt er nicht mal Guten Tag!“
„Du wolltest ihm ja auch nur die Hand geben, wo er doch möchte, dass du ihn gleich in die Arme nimmst.“
„Das würde ich ja liebend gerne tun, aber ich tue es deinetwegen nicht.“
„Ich weiß. Und das tut mir gut!“, sagte Jochen. „Wenn er bei dir ist, fragt er dann auch, wann ich komme?“
„Nein.“ Es tat mir ein wenig leid, das sagen zu müssen.
„Na, siehst du, das habe ich mir gedacht. Dir gibt er die Küsse von sich aus, ich muss sie mir meistens fordern. Und wenn er mir schon mal einen so gibt, dann nur, um dich eifersüchtig zu machen. Wenn du hier liegst“, Jochen zeigte auf die Liege, „kommt er gleich an und legt sich drauf. Das hat er bei mir noch nicht gemacht.“
Ich konnte es selbst nicht fassen, warum ich es war, den sich Thomas von uns beiden ausgesucht hatte, den er zu lieben scheint. Ich in seinem Alter hätte nie im Leben einen Kerl von achtunddreißig Jahren beachtet, nach nichts aussehend und noch dazu mit einer kahlen Platte auf der Mitte des Kopfes, nicht mal von Weitem. Wenn, dann nur um mich über ihn lustig zu machen. Alles das scheint Thomas aber nichts auszumachen. Es macht mich natürlich unsagbar glücklich, von einem Jungen noch begehrt zu werden, noch dazu von einem so hübschen, der weiß Gott bessere als mich haben kann. Aber wie war es mir mit ihm ergangen? Zuerst war er mir nur wegen seiner äußeren, Geilheit ausstrahlender Schönheit aufgefallen, die aber immer mehr in den Hintergrund tritt, je länger ich ihn kenne. Thomas hat von Hause aus einen ganz tollen Körper mitbekommen, der ist also nicht sein Verdienst und in dem Alter sowieso keine Seltenheit. Sein Gesicht aber ist bei näherem Hinsehen gar nicht so edel, wie ich zuerst meinte. Viele kleinere Narben haben sich im Laufe der Jahre darin ihren festen Platz erobert. Und trotzdem strahlt es. Es ist seine ganze Art, die ihn so anziehend macht, die frische Jugendlichkeit und grenzenlose Unbefangenheit, seine frechen und manchmal koddrigen Redensarten für jede Gelegenheit, sein pantomimischer Witz und nicht zuletzt sein ihm angemessener Intellekt. Bei alldem braucht er noch so viel Liebe um sein Defizit hierin auszugleichen und kann selber doch so zärtlich sein.
Bei Thomas ging das Licht an, er war jetzt zu Hause. Ich fragte Jochen beiläufig, wann denn gestern Abend das Licht angegangen sei. Gar nicht, war seine Antwort. Er saß vor dem Fernseher und schaltete von einem Sender zum nächsten: überall Sport. Wir sahen eine Weile desinteressiert zu. Ich wolle zu Hause vor dem Zubettgehen noch duschen, meinte ich, und ob ich auf ihn warten solle. Er werde nicht kommen, denn jetzt sei er darüber hinweg, meinte Jochen. Zu fragen, ob Thomas Dienstagabend noch auf mich gewartet habe, konnte er sich dennoch nicht verkneifen. Das konnte ich mit reinem Gewissen verneinen. Aber auch nur das.
Ich hatte mich zu Hause sorgfältig rasiert, nachdem ich der blatternarbigen Wanne entstiegen war, ging dann ins Bett, um bis fünfzehn Minuten vor elf zu schmökern. Dann war ich wieder aufgestanden, hatte mir rasch etwas übergezogen, die Armbanduhr und den Schlüsselbund gegriffen und mich wartend hinter dem geschlossenen Fenster aufgestellt.
Meine Geduld wurde auf keine lange Probe gestellt, noch vor elf kam der Erwartete um die Ecke. Ich öffnete den Fensterflügel, woraufhin sich Thomas durch eine entsprechende Frage vergewisserte, dass ich allein bin. Da diesmal die Haustür ordnungsgemäß verschlossen war, warf ich die Schlüssel auf den Rasen und ging zur Wohnungstür, um ihn leise einzulassen. Der späte Besucher zog sogleich seine Schuhe aus, ohne die Dunkelheit zu bemängeln. Er komme überhaupt nicht mehr dazu, richtig auszuschlafen, sagte er zur Begrüßung. Was er denn nachts so treibe, wollte ich wissen. Thomas grinste, nahm von dem in der Stube bereitgestellten Glas Wein einen gewaltigen Schluck und flegelte sich dann quer in einen Sessel. Ich saß abermals auf meinem Bett und dachte, dass sich jetzt das Spiel von Sonntag wiederholen wird. Hätte er nicht gleich zu mir kommen können? Ich fragte ihn, ob sein Vater zu Hause sei. Ja, der wäre zu Hause, antwortete die Gestalt im Sessel, von der ich nur wenige Umrisse erkennen konnte, und nahm das Glas vom Tisch. Ich setzte mich wie Sonntag zu ihm auf die Rückenlehne und kam mir dabei reichlich blöd vor, zumal Thomas so tief im Sessel versunken war, dass ich ihm lediglich mit der Hand durchs Haar streichen konnte.
„Ich habe dein Gedicht gelesen. Wie bist du darauf gekommen? Es soll doch ein Gedicht sein, oder … Es reimt sich nämlich nicht?“
„Das fiel mir einfach so ein“, antwortete ich, enttäuscht über den nur sehr geringen Anklang meines Werkes, aus dem Thomas hätte viel mehr herauslesen sollen, als das es sich nicht reimt. Ich fragte ihn deshalb: „Muss es sich unbedingt reimen?“ Nach einer Weile sagte ich dann verärgert und schwer in meiner Poetenseele getroffen: „Ich habe es aus der Wochenpost abgeschrieben, weil es so schön passt.“
„Aus der Wochenpost? … und das mit dem Pullover?“ Das glaubte mir Thomas natürlich nicht.
Vielleicht befindet sich unter der verehrten Leserschaft ein Mensch, dem ich dieses Gedicht, welches ich mit „Dein Pullover und Tannhäuser“ betitelt hatte, ans offene Herz legen darf und dessen Brust sich nach dem Lesen desselben wenigstens ein halbwegs tiefer Seufzer entwindet:

Den schweren Kopfhörer aufgestülpt,
träum ich auf der breiten Liege.
Dem alten Fritz, der auf mich schaut,
seh ich in die geweißten Nasenlöcher.
Meine Blicke tasten das Zimmer ab,
bleiben an deinem Rücken hängen.

Tannhäusers Ouvertüre immer wieder,
die mein Blut zum Rauschen bringt,
stärker als ein Sturm den Pappelhain.
Blütenduft steigt mir in die Nase,
von einer Rose im lichten Morgengrau:
das ist dein Pullover, der mich bedeckt.

Ich träum davon, du hätt‘st ihn an,
lägst bei mir Tag und Nacht.
Das deine Nähe mir das Herze klopfen macht,
nicht Wagner, wird erst jetzt mir klar.
Du aber sitzt und büffelst Mathe nur:
denn die Arbeit morgen soll gelingen.

Es hatte Thomas aber nicht lange im Sessel gehalten, er war zur Liege gegangen, hatte sich darauf gesetzt und nach wenigen Augenblicken hingelegt. Ich fragte ihn vorsichtshalber, ob ich ein wenig zu ihm kommen könne.
„Warum fragst du, du weißt doch genau, dass ich darauf warte … Ist dir nicht zu warm?“, wollte er wissen, als ich bei ihm war.
Mir selber zog ich den Pullover über den Kopf und ihm knöpfte ich das Hemd auf. Thomas streifte es ab, auch das Unterhemd, und warf beides auf den Fußboden. Die Uhr störe ihn auch, meinte er und legte sie in die Anbauwand. Beide lagen wir nebeneinander. Thomas sah mich lange schweigend an und sagte dann endlich: „Und ich dachte immer, du magst mich nicht.“ Eine verbale Antwort erübrigte sich, denn meine Lippen, die ich Thomas auf die warme Haut gedrückt hatte, waren ihm Antwort genug.
Wir durchstreiften erneut friedliche und wilde Landschaften, nippten an mancher Quelle und erfreuten uns an den Orten, die wir wiedererkannten. Obwohl wir schon die halbe Nacht unterwegs waren, erreichten wir noch immer nicht die Terra incognita. Kurz davor, schien sie jedes Mal von selbst weiter weg zu rücken.
Die Zeit verging uns viel zu rasch. Thomas sah kaum einmal auf die Uhr. Sonntagnacht hatte er sie alle Augenblicke in der Hand gehabt.
„Ich möchte so gern mit dir schlafen“, sagte er plötzlich.
„Richtig einschlafen?“, fragte ich neckisch. Ich wünschte mir nichts sehnlicher als das.
„Quatsch, du weißt schon, was ich meine.“
„Und, warum tust du es nicht?“
„Ich habe Angst.“
„Wovor hast du Angst? Vor mir brauchst du keine zu haben.“
„Ich glaube, ich habe vor mir selber Angst“, gestand Thomas.
„Wie kann ich dir helfen, sie zu überwinden?“
Thomas schwieg eine Weile, fragte dann: „Wie hast du das gemeint mit der Pofüllung?“
„Ich hatte den Eindruck“, sagte ich, „du hast Angst davor, dass ich dir unbedingt eine verpassen will. So ist das aber nicht. Wie du gesehen hast, gibt es genug andere Sachen, die wir machen können.“
„Was würdest du denn mit mir machen, wenn ich die Hose ausziehe?“, fragte Thomas. Seine Stimme war die eines Kindes, welches mit bloßem Oberkörper vor dem Onkel Doktor steht und auf den Tisch mit den furchtbaren Instrumenten schaut.
„Ich würde weiter zärtlich zu dir sein“, versprach ich.
Thomas überlegte wieder. Dann stand er auf, ging zum Schreibtisch und fragte, wo das Schwulenbuch stehe. Ich suchte es heraus und händigte es ihm aus. Er ging damit ins Bad, um bei Licht etwas darin nachzulesen, wie ich annahm. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er wiederkam. Mir waren inzwischen die Augen zugefallen, weshalb Thomas dann fragte, ob ich schlafe. Er stellte das Buch zurück und meinte, er habe sich ein paar Tipps angelesen, die er aber heute noch nicht in Anwendung bringen könne. Ich hörte die böse Gürtelschnalle seiner Jeans sich sträubend klappern und das schrapende Geräusch jedes einzelnen Zahnes des sich öffnenden Reißverschlusses.
„Ich traue mich nicht“, flüsterte Thomas.
„Komm her, ich helfe dir.“
„Dein Weg ist genauso weit.“ Thomas stand noch immer vor dem Schreibtisch. Ich ging zu ihm, nahm ihn in die Arme und küsste ihn, wobei ich meine Hände über Thomas‘ Rücken hinab gleiten ließ bis zu dem lockeren Hosenbund. Als ich aber die Jeans über seinen Po schieben wollte, wehrte sich Thomas dagegen: „Nicht, lass bitte.“ Dann zog er sogar den Reißverschluss wieder zu und hakte auch die Schnalle ein. Sie jubelte lauthals.
Ich ließ ihn stehen und legte mich enttäuscht ins Bett zurück, Thomas setzte sich in den Sessel. „Ich kann mich nicht entscheiden“, kam es ziemlich hilflos von dort.
„Wie ich sehe, hast du dich bereits entschieden.“
Ich spielte mit dem Gedanken einer Vergewaltigung. Thomas selbst hatte das Thema angedeutet. Aber Vergewaltigung beinhaltet Gewalt! Und Gewalt verabscheue ich. Gewalt macht mir Angst! Gewiss, manchmal lässt sie sich nicht vermeiden. Zum Beispiel beim Öffnen einer Büchse. Kann es sein, dass Thomas auf Gewalt steht, dass er blaue Flecke und umgedrehte Arme liebt? Vielleicht auch noch Blut? Das ist ja ekelhaft. Das kann ich ihm nicht bieten. Sperma alleine ist ja schon ekelhaft genug.
„Warum bestehst du nicht darauf?“, fragte Thomas überflüssigerweise.
„Soll ich dich vielleicht vor die Alternative stellen: Hose aus oder raus?“, womit mir ungewollt ein Reim gelungen war.
„Ich wüsste dann echt nicht, was ich tun soll.“
„Du hättest wahrscheinlich einen Augenblick überlegt und wärst dann gegangen … Da ist es mir schon lieber, du behältst die verdammte Hose an und bleibst hier.“
„Dir macht es nichts aus, wenn ich die Hose anbehalte?“
„Natürlich wäre es mir lieber, wenn du sie ausziehen würdest.“
Nach einer unendlichen Weile unterbrach Thomas die Stille mit der Frage: „Worauf wartest du jetzt?“
„Darauf, dass du wieder zu mir kommst.“
Er schien nur auf diesen Anstoß gewartet zu haben, kam zu mir und legte sich wieder auf mich. „Mit wie vielen Männern hast du schon geschlafen?“, wollte er auf einmal wissen.
„Das kann ich gar nicht sagen.“ Er konnte einem wirklich die Stimmung versauen.
„Fünfzig … sechzig?“
Ich überlegte einen Augenblick. Fünfzig, sechzig wäre wohl zu wenig. Sagte dann aber: „Ich kann dir keine Zahl nennen, ich weiß es wirklich nicht. Ich habe diesbezüglich keine Statistik geführt.“
„Wie war das so?“, bohrte Thomas.
„Das war immer ganz anders als mit dir. Sehr viel anders! Und es ging wesentlich schneller zur Sache. Liebe war kaum dabei. Du kannst dir das vielleicht nicht vorstellen. Da kommt es jedem nur auf das eine an: abspritzen, abspritzen, abspritzen. Und alles nur für einen Abend, wenn es hochkommt, meist war die Sache in kürzester Zeit abgetan, und dann auf Wiedersehen. Aber von wegen auf Wiedersehen! Die kennen dich hinterher nicht einmal mehr.“ Ich machte eine kleine Pause und fragte ihn dann: „Hast du schon mal etwas mit einem Jungen gehabt?“
„Sehe ich so aus! Ich doch nicht. Warum fragst du das?“
„Weil das in der Pubertät ganz normal ist. Ich hab jedenfalls, wenn auch nicht mit allen, so doch mit vielen Jungs im Dorf rumgewichst. Das hat allen eine Menge Spaß gemacht. Und keiner ist deswegen verrückt geworden. Nicht mal mit Raymond, deinem besten Busenfreund? Vielleicht wäre es dir dann jetzt nicht so schwer gefallen.“
„Mit Raymond, bist du verrückt? … Wenn ich es heute nicht tue, dann kommt wieder ein Abend, wo ich um elf komme, und dann noch einer, und immer fängt alles wieder von vorne an.“ Thomas stand am Rande eines mit eiskaltem Wasser gefüllten Beckens. Er hatte bereits mehrmals Anlauf genommen, war aber immer kurz vor dem entscheidenden Sprung stehen geblieben, vor dem durchaus Greifbaren zurückgeschreckt.
„Dann tue es. Jetzt! Ich helfe dir.“
Thomas rollte sich auf die Seite, sodass ich die Gürtelschnalle erreichen konnte, hielt still, zog sogar den Bauch ein. Ich hatte aber trotzdem einige Mühe, das Ding aufzubekommen, quälte dann den Metallknopf durch das enge Knopfloch und zog schließlich behutsam den Reißverschluss auf. Während ich ihm die Hose so weit über die Beine schob, wie ich im Liegen reichen konnte, zerrte Thomas mir die Turnhose vom Leib. Hastig und mit rasendem Herzen streifte er sich die widerspenstige Jeans und den kleinen Slip von den Knöcheln und stieß sie mit den Füßen von der Liege. Nachdem er alle im Wege stehenden Hindernisse beiseitegeräumt hatte, schob er sich wieder auf meinen bereiten Körper. Es war kurz vor halb zwei.
Alles raste! Die Wolken am Himmel rasten, die Zeit und unser Puls. Wie im Zeitraffer.
Solange sei er noch nie hintereinander aufgeblieben, meinte Thomas. Er legte seine Armbanduhr wieder zurück auf den Sockel der Schrankwand und ließ sich mit einem tiefen Seufzer wohliger Erschöpfung für einen allerletzten Augenblick zurück in meine Arme fallen, bevor wir beide aufstanden, ins Bad gingen und uns gegenseitig wuschen.
Als sich Thomas zu gehen anschickte, war es dann genau drei Uhr dreiunddreißig. Ich brachte ihn noch bis vor die Haustür, wo wir den abgebrochen Schlüsselschaft suchten, denn mir war erst vorhin aufgefallen, dass von meinem Wohnungsschlüssel der wesentlichste Teil fehlt. Er hatte sich beim Aufprall im eifersüchtigen Rasen das schwache Genick gebrochen.



Dienstag, 20. September 1988 - Freitag, 23. September 1988

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