Nach nur anderthalbstündigem Schlaf war es mir heute Morgen beim Schrillen des Weckers, dieses Schlaf mordenden Instruments, nicht erspart geblieben, aufzustehen. Wie herrlich wäre es jetzt, dachte ich, uns nach dem amourösen Bettgeflüster in den Armen zu liegen, bis in den Nachmittag hinein zu schlafen und zu träumen, denn das hatten wir uns gewünscht, als wir uns trennten.
Ich war gestern recht frühzeitig mit allen Vorbereitungen für das Entwickeln der Fotos fertig. Der Vergrößerungsapparat kam wie immer auf den Kühlschrank im Korridor, die angesetzten Lösungen ins Bad. Und für den Fall, dass er sich tatsächlich fotografieren lassen würde, hatte ich sogar einen neuen Film in den Fotoapparat eingelegt. Neben all diesen Vorkehrungen hatte ich es noch geschafft, einen weiteren Negativfilm zu entwickeln.
Meik war aber zum verabredeten Termin nicht erschienen. Ich sage es ja immer wieder: In der heutigen Jugend ist keine Zucht und Ordnung mehr! Ist eventuell besser so, tröstete ich mich. Meine Ankündigung, er müsse sich dann ausziehen, war ihm wohl tatsächlich in Mark und Bein gefahren. Während ich vergebens auf Meik gewartet hatte, schrieb ich für Thomas ein Gedicht. Später faltete ich davon einen Durchschlag dreimal zusammen und steckte ihn in die Jackentasche, schnappte die zwei Tüten Tomaten, die ich aus der kleinen Kaufhalle mitgebracht hatte, und ging zu Jochen. Weil auf den kalten Betonstufen vor Jochens Haustür zwei größere Mädchen saßen, vermied ich es, bereits dort auf den Klingelknopf zu drücken, um mir die Wohnungstür öffnen zu lassen. Beide unterhielten sich mit einem interessanten Jungen. Die Mädchen grüßten. Warum, weiß ich nicht.
Im Korridor befreite ich mich zuerst von den Tomaten, steckte gleich darauf das zusammengefaltete Papier mit dem Gedicht in die rechte Tasche von Thomas‘ Jeansweste, die an der Flurgarderobe hing, und ging dann ins Zimmer. Beide, Jochen und Thomas, saßen in trauter Zweisamkeit beieinander und über M/L. Da der Tisch, an dem sie saßen, jetzt fürs Abendbrot benötigt wurde, musste ich sie notgedrungen unterbrechen und auseinander reißen. Während Jochen und ich schon tüchtig reinhauten, gab uns Thomas ein ganz besonderes Kabinettstückchen zum Besten. Er hatte sich Gorbis neues Buch gegriffen, welches Jochen zufällig in die Hände gefallen war und in der Anbauwand lag. In kabarettistischer Manier, mit wunderbar verstellter Stimme und in Anwendung verschiedener Dialekte, las er wesentliche Abschnitte daraus vor. Jeden passenden Satz pointierte er mit: „… nur nicht in der DDR!“ oder: „… und wie steht es damit in der DDR?“ Wir mussten mit dem Essen aufhören, denn wir konnten nicht mehr vor Lachen. Dass der Kleine derart komödiantische Talente besitzt, war uns bislang verborgen geblieben. Im Geiste sahen wir unsere aus überalterten Politfransen zusammengefilzte Regierungsclique vor uns, die auch gut lachen hatte. Noch! Nach dem Essen machten sich beide an die weitere Ausarbeitung des Vortrags, den Thomas zu halten genötigt war. Ich nahm wie Dienstagabend den Kopfhörer, legte eine andere Platte auf und ließ sie machen. Aber noch bevor ich die erste Seite zu Ende angehört hatte, waren sie fertig. Thomas, nun aus der Pflicht entlassen, drückte mit dem großen Zeh auf die Stopptaste des Plattenspielers, kam zu mir und nahm mir den schwarzen Ohrenwärmer weg. Auf der Liege lang ausgestreckt, umklammerte ich ihn mit meinen Armen und hinderte ihn so daran, sich wieder zu entfernen. Jochen, der Angst um seinen teuren Kopfhörer bekam, nahm ihn Thomas aus der Hand, wickelte erst ganz ordentlich das lange Kabel auf und versuchte dann, Thomas zu befreien, indem er ihn mit Gewalt von mir herunterzuziehen versuchte.
„Den gebe ich nicht wieder her“, verkündete ich.
„Los, aufstehen, wir machen Aerobic!“, sagte Thomas zu mir.
Jochens Missbilligung schien ihm eine Gefährdung ihrer Zusammenarbeit in Sachen Hausaufgaben anzudeuten. Aber auch ich war nicht daran interessiert, Jochen über Gebühr zu reizen und gab Thomas deshalb frei, wenn auch schweren Herzens. Thomas fing sofort damit an, die beiden schweren Sessel und den Tisch wieder dicht an die Couch zu schieben. Dann zog er sich das Hemd aus. Wahrscheinlich erwartete er Hitzewallungen. Wie schön, ein Lichtblick in der trüben Finsternis, freute ich mich, ließ den Anblick einen Moment auf mich einwirken und tat dann ein Gleiches, was wohl auf fremde Augen weniger beeindruckend gewesen wäre. Jochen dagegen trennte sich vorerst nur von seinem Pullover. Unter der bewährten Leitung unseres kleinen Ballettmeisters absolvierten wir eine weitere lustige Tanz-, Turn- und Schwitzstunde. Thomas hatte wieder eine Menge neuer Schritte choreografiert. Sie Jochen beizubringen, fiel nicht schwer. Ich bereitete ihm aber erneut Sorgen. Natürlich machte unser Vortänzer nicht nur die beste Figur in diesem Reigen, sondern er hat sie ganz einfach. Das wilde Gehopse, Ballett war noch nie mein Fall gewesen, wurde plötzlich durch den Schrei des braunen Kurzzeitweckers unterbrochen, der Jochen an die Wäsche erinnern wollte. Tänzelnd eilte er sofort ins Bad und kümmerte sich liebevoll um den Inhalt der Waschmaschine, indessen ich weiter mit Taktanweisungen durch Thomas malträtierte wurde. Abgeschlafft bis zum Gehtnichtmehr brachte ich gerade noch die Kraft auf, Thomas davon in Kenntnis zu setzen, dass ich ihm einen Zettel in die Westentasche gesteckt habe.
„Nachher um elf?“, fragte Thomas.
Das war es eigentlich nicht, was der Zettel wollte. Ich antwortete keuchend und mit einem angedeuteten Lächeln: „Ja. Du musst dann aber bald gehen, damit ich noch eine Weile hier bleiben kann.“ Es war zwanzig Uhr fünfundvierzig.
„Okay, ich werde gleich gehen“, meinte er und ging zu Jochen ins Bad, die Wäsche aufhängen zu helfen.
Ich schleppte mich zur nächsten Limoflasche, setzte sie zitternd an die Lippen und räumte nach einem kräftigen Schluck das Zimmer auf. Als Thomas zwischendurch für einen kurzen Augenblick ins Zimmer zurückkam, flüsterte ich ihm zu: „Ich sehe dann wieder aus dem Fenster, wenn die Luft rein ist.“
„Hoffentlich schlafe ich bis dahin nicht ein“, gab er zu bedenken.
Bis Thomas dann wirklich ging, waren noch etliche Minuten verstrichen, in denen er mit sich selber tanzte und grimassenhafte Gesichter schnitt, die nur er kann. Woher nur nimmt der Kleine diese ausdauernde Energie? Er zögerte sein Gehen immer weiter hinaus, als könne er sich nicht von uns trennen. „Bis morgen“, sagte er dann beim Abschied.
„Morgen gehen wir doch ins Theater!“, erinnerte ich ihn.
„Er kann doch um fünf trotzdem kommen. Du bist doch auch um fünf hier“, sagte Jochen.
Thomas ging langsam und mit gesenktem Haupt die Treppe hinunter, als hätte ihn jemand gekränkt. Ich ließ das Rollo hochschnellen und öffnete das Fenster, damit der Schweißgeruch abziehen konnte. Unten ging Thomas vorbei. Jochen meinte: „Das hättest du nicht sagen dürfen. Jetzt ist er ganz geknickt.“
„Was hätte ich nicht sagen dürfen? Ich habe doch nichts gesagt!“
„Dass wir morgen ins Theater gehen. Er kommt so gern hierher, das weißt du doch.“
„Er kann doch kommen.“
„Er kommt doch sowieso nur deinetwegen. Wenn du nicht hier bist, fragt er spätestens nach zehn Minuten, wann der Hoschkopp kommt.“
„Und wenn ich dann komme, dann sagt er nicht mal Guten Tag!“
„Du wolltest ihm ja auch nur die Hand geben, wo er doch möchte, dass du ihn gleich in die Arme nimmst.“
„Das würde ich ja liebend gerne tun, aber ich tue es deinetwegen nicht.“
„Ich weiß. Und das tut mir gut!“, sagte Jochen. „Wenn er bei dir ist, fragt er dann auch, wann ich komme?“
„Nein.“ Es tat mir ein wenig leid, das sagen zu müssen.
„Na, siehst du, das habe ich mir gedacht. Dir gibt er die Küsse von sich aus, ich muss sie mir meistens fordern. Und wenn er mir schon mal einen so gibt, dann nur, um dich eifersüchtig zu machen. Wenn du hier liegst“, Jochen zeigte auf die Liege, „kommt er gleich an und legt sich drauf. Das hat er bei mir noch nicht gemacht.“
Ich konnte es selbst nicht fassen, warum ich es war, den sich Thomas von uns beiden ausgesucht hatte, den er zu lieben scheint. Ich in seinem Alter hätte nie im Leben einen Kerl von achtunddreißig Jahren beachtet, nach nichts aussehend und noch dazu mit einer kahlen Platte auf der Mitte des Kopfes, nicht mal von Weitem. Wenn, dann nur um mich über ihn lustig zu machen. Alles das scheint Thomas aber nichts auszumachen. Es macht mich natürlich unsagbar glücklich, von einem Jungen noch begehrt zu werden, noch dazu von einem so hübschen, der weiß Gott bessere als mich haben kann. Aber wie war es mir mit ihm ergangen? Zuerst war er mir nur wegen seiner äußeren, Geilheit ausstrahlender Schönheit aufgefallen, die aber immer mehr in den Hintergrund tritt, je länger ich ihn kenne. Thomas hat von Hause aus einen ganz tollen Körper mitbekommen, der ist also nicht sein Verdienst und in dem Alter sowieso keine Seltenheit. Sein Gesicht aber ist bei näherem Hinsehen gar nicht so edel, wie ich zuerst meinte. Viele kleinere Narben haben sich im Laufe der Jahre darin ihren festen Platz erobert. Und trotzdem strahlt es. Es ist seine ganze Art, die ihn so anziehend macht, die frische Jugendlichkeit und grenzenlose Unbefangenheit, seine frechen und manchmal koddrigen Redensarten für jede Gelegenheit, sein pantomimischer Witz und nicht zuletzt sein ihm angemessener Intellekt. Bei alldem braucht er noch so viel Liebe um sein Defizit hierin auszugleichen und kann selber doch so zärtlich sein.
Bei Thomas ging das Licht an, er war jetzt zu Hause. Ich fragte Jochen beiläufig, wann denn gestern Abend das Licht angegangen sei. Gar nicht, war seine Antwort. Er saß vor dem Fernseher und schaltete von einem Sender zum nächsten: überall Sport. Wir sahen eine Weile desinteressiert zu. Ich wolle zu Hause vor dem Zubettgehen noch duschen, meinte ich, und ob ich auf ihn warten solle. Er werde nicht kommen, denn jetzt sei er darüber hinweg, meinte Jochen. Zu fragen, ob Thomas Dienstagabend noch auf mich gewartet habe, konnte er sich dennoch nicht verkneifen. Das konnte ich mit reinem Gewissen verneinen. Aber auch nur das.
Ich hatte mich zu Hause sorgfältig rasiert, nachdem ich der blatternarbigen Wanne entstiegen war, ging dann ins Bett, um bis fünfzehn Minuten vor elf zu schmökern. Dann war ich wieder aufgestanden, hatte mir rasch etwas übergezogen, die Armbanduhr und den Schlüsselbund gegriffen und mich wartend hinter dem geschlossenen Fenster aufgestellt.
Meine Geduld wurde auf keine lange Probe gestellt, noch vor elf kam der Erwartete um die Ecke. Ich öffnete den Fensterflügel, woraufhin sich Thomas durch eine entsprechende Frage vergewisserte, dass ich allein bin. Da diesmal die Haustür ordnungsgemäß verschlossen war, warf ich die Schlüssel auf den Rasen und ging zur Wohnungstür, um ihn leise einzulassen. Der späte Besucher zog sogleich seine Schuhe aus, ohne die Dunkelheit zu bemängeln. Er komme überhaupt nicht mehr dazu, richtig auszuschlafen, sagte er zur Begrüßung. Was er denn nachts so treibe, wollte ich wissen. Thomas grinste, nahm von dem in der Stube bereitgestellten Glas Wein einen gewaltigen Schluck und flegelte sich dann quer in einen Sessel. Ich saß abermals auf meinem Bett und dachte, dass sich jetzt das Spiel von Sonntag wiederholen wird. Hätte er nicht gleich zu mir kommen können? Ich fragte ihn, ob sein Vater zu Hause sei. Ja, der wäre zu Hause, antwortete die Gestalt im Sessel, von der ich nur wenige Umrisse erkennen konnte, und nahm das Glas vom Tisch. Ich setzte mich wie Sonntag zu ihm auf die Rückenlehne und kam mir dabei reichlich blöd vor, zumal Thomas so tief im Sessel versunken war, dass ich ihm lediglich mit der Hand durchs Haar streichen konnte.
„Ich habe dein Gedicht gelesen. Wie bist du darauf gekommen? Es soll doch ein Gedicht sein, oder … Es reimt sich nämlich nicht?“
„Das fiel mir einfach so ein“, antwortete ich, enttäuscht über den nur sehr geringen Anklang meines Werkes, aus dem Thomas hätte viel mehr herauslesen sollen, als das es sich nicht reimt. Ich fragte ihn deshalb: „Muss es sich unbedingt reimen?“ Nach einer Weile sagte ich dann verärgert und schwer in meiner Poetenseele getroffen: „Ich habe es aus der Wochenpost abgeschrieben, weil es so schön passt.“
„Aus der Wochenpost? … und das mit dem Pullover?“ Das glaubte mir Thomas natürlich nicht.
Vielleicht befindet sich unter der verehrten Leserschaft ein Mensch, dem ich dieses Gedicht, welches ich mit „Dein Pullover und Tannhäuser“ betitelt hatte, ans offene Herz legen darf und dessen Brust sich nach dem Lesen desselben wenigstens ein halbwegs tiefer Seufzer entwindet: