Die Hoschköppe / 39. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 39. Kapitel

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Freitag, 23. September 1988


Als es gestern Nachmittag kurz vor fünf klingelte, stand ich nackt im Bad und wartete darauf, dass endlich warmes Wasser aus dem Hahn kommen würde. Der war über die Badewanne geschwenkt und bis zum Anschlag aufgedreht. Das Wasser schoss volle Pulle in die Wanne. Der Strahler über dem Spiegel wärmte meinen Rücken. Ich sah durch den Spion und rief: „Moment, gleich!“ Zog mir rasch etwas über und öffnete. Draußen stand Meik, der einen Freund mitgebracht hatte. Aus Furcht, ich könne ihm was antun und als Verstärkung sozusagen, nahm ich an. Dieser Freund war ein strohblonder, außerordentlich gut aussehender Typ. Beide waren wegen meiner spärlichen Bekleidung etwas verwirrt und daher mit ihrem Eintreten recht zögerlich. Nachdem uns Meik bekannt gemacht hatte, meinte er, sein Freund interessiere sich auch sehr für das Entwickeln von Fotos. Und wofür noch, fragte ich mich. Heute passe das sehr schlecht, bedauerte ich ihnen eine Absage zu erteilen, denn ich sei gerade dabei, mich fürs Theater anzuhübschen. Warum er nicht gestern, wie verabredet, gekommen sei, fragte ich Meik, dann hätte heute die Zeit fürs Trocknen gereicht, zum Entwickeln sei sie jedenfalls zu knapp. Es sei eben kein Verlass auf die Jugend, bemängelte ich. Er habe ja gewollt, meinte Meik daraufhin entschuldigend, habe aber mit seinen Eltern in die Stadt reinfahren müssen. Wir einigten uns auf einen neuen Termin: Sonnabendvormittag um neun Uhr dreißig. Dann werde er aber nicht mitkönnen, meldete sich der andere. Schade, dachte ich.
Zehn nach fünf war ich dann bei Jochen. Thomas, den ich dort vermutet hatte, war nicht da, denn ich hatte zwei Gehlsdorfer Leinsamenbrote mitgebracht, die ich auf den Herd legte und von denen Thomas sich eines mitnehmen sollte. Jochen erzählte das sofort Thomas, der in dem Moment zufällig unter dem Fenster vorbeikam und unmittelbar darauf schon an der Tür war.
„Lass mich öffnen, denn ich will ihn gleich in die Arme nehmen“, bat ich. Weil aber Jochen seinen neugierigen Kopf nicht daran hindern konnte, sich in den Korridor zu recken, war mir die Lust dazu genommen.
Er habe heute Morgen verschlafen, war das Erste, was uns Thomas zu berichten wusste. War ja auch kein Wunder, hatte doch kaum geschlafen, der kleine Junge, dachte ich etwas schadenfroh und mit schlechtem Gewissen. Für den Vortrag, den ihm Jochen ausgearbeitet hatte, habe er eine Eins bekommen, lobte er Jochen und zeigte seine ehrliche Dankbarkeit mit einem dicken Schmatzer. Jochen ließ uns allein, denn er wollte sich auch fürs Theater fertigmachen. Thomas lehnte sich mit seiner Rückfront ans Fensterbrett und sah mir beim Aufdecken zu. Ich fragte ihn, ob er gut nach Hause gekommen sei und ob diesmal jemand etwas gemerkt hätte. Ja, er sei gut nach Hause gekommen und nein, gemerkt habe niemand was. Dass es niemandem aufgefallen war, ist natürlich sehr gut, es wäre sonst alles mit einem Schlage vorbei, aber wie er es anstellte, blieb mir unklar. Thomas muss zu Hause wirklich sehr allein sein, wenn sich seine Leute so wenig um ihn kümmern, dachte ich. Während des Essens fragte Jochen, warum ich so vergnügt vor mich hin schmunzle, es gäbe doch gar nichts zu lachen.
„Ach, nur so“, wich ich aus, denn ich konnte ihm unmöglich erzählen, dass ich mir gerade vorgestellt hatte, wie Thomas vor seinem Lehrer eine Ausrede wegen des Zuspätkommens herunterleiert, und das ich den wahren Grund dafür kenne.
Mir war entgangen, wie beide darauf kamen, dass Thomas hier Hausaufgaben machen und vielleicht noch fernsehen könne, solange wir im Theater seien. „Die Zauberflöte“ werde vier Stunden dauern, sodass wir zwischen dreiundzwanzig Uhr fünfzehn und dreiundzwanzig Uhr dreißig wieder zurück sein könnten, meinte Jochen und gab ihm den Wohnungsschlüssel mit, als Thomas ging.
„Ich hab zwar Vertrauen zu ihm, er klaut wohl nichts“, sagte ich zu Jochen. „Aber richtig finde ich das nicht. Wann soll er denn den Schlüssel zurückbringen, morgen? Wenn er den nicht schon heute Nacht zurückbringt.“
Ich mochte das nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, und Jochen wies diese Unterstellung auch sofort und entschieden zurück, mir war aber trotzdem und erheblich unwohl bei dem Gedanken, er könne es eventuell doch tun. Wir überlegten, welche Dinge Thomas nicht unbedingt in die Hände fallen mussten, wenn er hier alleine wirtschaften würde, und was deshalb etwas weiter wegzulegen wäre. Jochen versteckte einzig meine Tagebücher, denn die müsse Thomas nun wirklich nicht lesen, meinte er.
Fünfzehn Minuten vor sieben gingen wir zur Bushaltestelle am Sonnenblumen-Hochhaus, um auf den Theaterbus zu warten. Das Ehepaar, welches in der südlichen Hälfte Lichtenhagens ansässig ist und es trotzdem vorzieht, hier einzusteigen, stand schon im Schutze des schmucklosen Wartehäuschens aus innerseitig papierbeklebtem Beton und trat von einem Bein aufs andere. Beide sind gleichermaßen nett und überaus sachkundig, wenn es um das Stück geht, das die Theatergemeinde, die hier am Orte als eine bedrohte Minderheit gilt, zu sehen bekommen soll. Es kam häufiger vor, dass er der Aufführung etwas vorgriff, indem er aus dem Werk einige der zu erwartenden Zeilen rezitierte. Seine Frau ist eine hoch aufgeschossene Person mit Brille, der er auch mit Hut nur bis an die Schulter heranreicht. Auch ist er etwas kränklich veranlagt, was sein unregelmäßiges Erscheinen bekundete. Babsi, der ich noch morgens an der S-Bahn begegnet war und die auch in diesen erlauchten Kreis gehört, kam nicht. Der Bus leider auch nicht! Obwohl unsere kleine Runde bis kurz vor halb acht auf ihn wartete. Pünktlich um neunzehn Uhr dreißig ist im Großen Hause Spielbeginn. Inzwischen hatten sich, durch ihre Verzweiflung dazu getrieben, noch die vier älteren Damen, die an der Wendeschleife einzusteigen pflegen, zu uns gesellt: Zu acht beklagt sich ein Missstand besser als zu viert. Am Ende blieb uns nichts weiter übrig, als mit kalten Ohren nach Hause zu gehen und uns aufzuwärmen.
„Ausgerechnet heute!“, sagte ich zu Jochen auf unserem kurzen Heimweg.
„Ob der schon da ist?“, fragte Jochen mehr sich selber.
„Der wird ganz schön kucken, wenn wir jetzt schon wieder angelatscht kommen.“
„Pass mal auf, der bringt bestimmt Raymond mit“, vermutete Jochen.
War das ein Wunsch oder eine Befürchtung? „Ich habe ja gleich gesagt, du sollst ihm den Schlüssel nicht geben. Meinst du“, ich wurde plötzlich von den schlimmsten Visionen heimgesucht, „die wollen da was anfangen? … na ja, woanders haben sie kaum Gelegenheit dazu. Zu Hause können sie es schließlich nicht machen.“
Kurz vor der Haustür meinte Jochen: „Wir gehen rein und tun so, als wären wir nicht da.“
„Dann müsstest du die Tür von innen zuschließen. Und wenn sie nun schon drin sind? Wollen wir nicht erst zu mir gehen und dort eine Weile warten?“, schlug ich vor. Der Gedanke, dass Thomas mit Raymond … Aber warum eigentlich nicht, schließlich ist das sein allerbester Busenfreund. Es würde mich schon kratzen, aber Jochen muss sich ja auch gefallen lassen, dass ich mit Thomas … Nur, Jochen weiß es noch nicht. Wenn die beiden schon da drinnen sind, sollten wir wenigstens eine Stunde warten, dachte ich.
„Wir können ja erst einmal an der Tür horchen“, drängte Jochen.
Das taten wir dann auch. Es war alles still, drinnen rührte sich nichts. Jochen steckte den Schlüssel ins Schloss und machte auf. Es war nicht abgeschlossen. Die Wohnungstür knallte mit Wucht und unverhofft gegen die offene Toilettentür, was dem ganzen Haus unsere Rückkehr meldete. Keine schlechte Idee, das mit der Toilettentür, dachte ich. Nur leider funktioniert das in meiner Wohnung nicht. Im Korridor wies ich auf zwei fremde Schuhe, die vorsorglich an die Seite gestellt waren.
Aus dem Zimmer war Thomas‘ Stimme zu hören. „Joschi?“, rief er ertappt.
Ich sah ihn schon sich zusammen mit einem anderen nackt auf der Liege wälzen. Maßlos enttäuscht und erregt drängte ich in die Stube. Sollten die tatsächlich …?
Mein erster Blick traf Thomas, der sich am Fenster zu schaffen machte. Er war vollständig angezogen, das beruhigte. Auf dem Stuhl zwischen Liege und Couch saß ein Fremder mit verschränkten Armen, der uns Eindringlinge entgeistert ansah. Das muss Raymond sein, dachte ich. Thomas kam mit zusammengerollten Ohren vom Fenster her auf uns zu. In seinen Händen hielt er Müllschaufel und Handfeger. Ich war sauer auf ihn, was er unschwer bemerkte. Nicht darüber, dass er jemanden hier in diese Wohnung rein geschleppt hatte, ganz egal wen, sondern darüber, dass er vielleicht tatsächlich vorgehabt haben könnte, mit dem zu schlafen. Wer wusste schon, was all seine Beteuerungen wert waren. Am liebsten wäre ich sofort nach Hause gegangen und bekundete auch diese Absicht. Jochen und Thomas, der die Gerätschaften ins Bad zurückgebracht hatte, hielten mich aber davon ab. Ich zog also meine Jacke aus und hängte sie, noch immer ganz aufgewühlt, an einen Garderobenhaken im Flur. Dann machte Thomas auch mich mit Raymond bekannt, der noch immer brav und eingeschüchtert auf seinem Stuhl und mit dem Rücken zur Wand saß. Die allgemeine Stimmung war naturgemäß sehr bedrückt. Auch Jochen war anzumerken, dass ihm so einiges gegen den Strich ging. Als Entschuldigung, und irgendetwas musste er ja nun sagen, meinte Thomas nur, er habe Raymond lediglich mal die Wohnung zeigen wollen. Der blätterte jetzt verlegen in unserem Programmheft. Und aufs Fenster deutend fügte er noch hinzu, er habe nur die Gardine wegziehen wollen und dabei sei der Kaktus heruntergefallen, er könne nichts dafür. Ach, wenn es weiter nichts sei, beruhigte ihn Jochen, dieser Kaktus habe sich schon des Öfteren vom Fensterbrett runter gestürzt. Er hieße deshalb der fliegende Kaktus. Einmal habe der sogar draußen zwischen den Sträuchern gelegen, das täte dem gut. Ob Selbstmord- oder lediglich Fluchtgedanken dahinter steckten, wüssten wir nicht.
Dann wurde der Fernseher eingeschaltet. Der muss immer herhalten, wenn man sich nichts zu sagen hat. Da der aber nicht viel Gescheites anzubieten hatte, wurden jetzt die Schulsachen rausgeholt. Thomas hatte tatsächlich seine Schulsachen dabei! Thomas und Jochen setzten sich dazu auf die Couch, Raymond nahm nun den Sessel am Fenster und ich den anderen ein, ihm gegenüber. Um auch irgendetwas zu tun und über meine Verlegenheit hinwegzukommen, nahm ich mir das Kreuzworträtsel in der Wochenpost vor, aber ohne die rechte Konzentration dafür aufbringen zu können. Nach und nach wich die Spannung, es wurden die ersten zaghaften Witze zum Fernsehprogramm gerissen, und wer sich schon traute, lachte darüber. Kurz nach neun war es dann soweit, dass Jochen glaubte, eine Flasche Wein und vier Gläser rausholen zu müssen.
„Seit wann trinkst du denn?“, wandte sich Raymond ganz erstaunt an Thomas, denn so kannte er ihn offensichtlich nicht.
Gleich nach zehn verabschiedeten sich beide. Während Jochen mit Raymond allein im Korridor stand, war Thomas noch einmal ins Zimmer gekommen. Ich flüsterte ihm „Elf Uhr?“ ins Ohr, woraufhin er nur das Gesicht verzog. Er sah müde aus. Ich verstand ihn, sehnte ich mich doch selber nach meinem Kopfkissen. Dann gingen die beiden Jungs.
„Wären wir bloß erst zu dir gegangen!“, ärgerte sich Jochen.
„Ja, mich hätte auch interessiert, wie wir sie nach einer Stunde angetroffen hätten.“
„Das kannst du wissen, die hätten es miteinander gemacht. Wozu sonst hatte er das Rollo runter gezogen!“ Das war auch mir schon durch den Kopf gegangen. „Und mit dem wird er auch alles durchnehmen, was hier passiert.“
„Meinst du wirklich? Hier passiert doch nichts“, sagte ich abwinkend. Gut, einiges mag Thomas vielleicht erzählt haben, aber alles bestimmt nicht, überlegte ich. Er hatte oft davon gesprochen, dass sich Raymond für mich interessiert, dass der mich toll fände. So was hört man doch gern, oder? An diesem Abend konnte ich allerdings nichts davon spüren, er wird sich wohl zurückgehalten haben. Oder weiß Raymond selber gar nicht, dass er mich toll findet? Er hat eigentlich ein hübsches Gesicht. Aber dass er mir draußen schon jemals aufgefallen wäre, kann ich nicht sagen, obwohl er nur zwei Haustüren weiter wohnt. Sein tiefschwarz gefärbtes Haar war in einem sehr zotteligen Zustand. Es erinnerte etwas an einen Hund in der Werbung. Im linken Ohrläppchen steckt ein Kügelchen. Sicher nur verchromt. Er war ziemlich lässig in Schwarz und Weiß gekleidet. Um den Hals trug er mehrere Ketten zur Schau, die unterschiedlichster Machart und ebenfalls chromglitzernd waren. Als ich ihn das erste Mal hatte stehen sehen und folglich seinen Körper in all seinen Ausmaßen bewundern durfte, drängte sich mir unwiderstehlich der Eindruck auf, dass der größte Teil seiner Statur irgendwie zwischen zwei parallelen Begrenzungslinien angelegt ist. Thomas‘ kleinerer Korpus gleicht dagegen eher einem auf der Spitze balancierenden sehr spitzen Dreiecks.
Bei mir zu Hause wartete schon das gemachte Bett. Darin liegend grübelte ich über diesen Abend nach. Sicher wird er jetzt Raymond öfter mitbringen. Ab fünfzehn Minuten vor elf wartete ich am Fenster. Thomas werde zwar nicht kommen, aber ein kleiner Hoffnungsschimmer sagte mir, dass ihn vielleicht sein schlechtes Gewissen oder die verpatzte Gelegenheit mit Raymond hertreiben werde. Die Zeit wollte nicht vergehen, sie war irgendwo hängen geblieben, und kalt wurde mir auch, denn ich hatte mir nichts übergezogen. Durch die Fensterfugen wehte der Wind herein, es zog fürchterlich. Ich werde Dichtungsstreifen kaufen müssen, nahm ich mir vor. Acht Minuten nach elf, solange hatte ich ins Laternenlicht starrend ausgeharrt, legte ich mich wieder hin, presste mein Ohr ins Kissen und belauschte den Mikrokosmos zwischen den Federn. Aber selbst im Halbschlaf, in den ich nach einer Weile hinein gedämmert war, vernahm ich das Lärmen der Haustür. Reflexartig begann mein Herz, zu hämmern. Wie von einer geheimen Feder angetrieben, sprang ich aus dem Bett und lief ans Fenster. Es war niemand zu sehen, nur durch das Reliefglas der Haustür schimmerte verschwommen etwas Licht auf den Gehweg und den Rasen. Es musste also jemand reingegangen sein. Ich spurtete zur Wohnungstür und sah durch den Spion. Erschreckt riss ich den Kopf zurück, denn Thomas war schon unmittelbar davor. Ich öffnete leise und ließ ihn ein.
„Dabei wollte ich nur sehen, wer die Treppe hochkommt“, stotterte ich.
„Du hast doch gewusst, dass ich komme.“
„Woher? Ich hatte nicht mit dir gerechnet. Ich dachte, du wolltest ausschlafen.“
„Ich habe schon eine ganze Weile unten gestanden“, sagte Thomas etwas ungehalten.
„Du hast dich verspätet, um elf habe ich raus gesehen“, entschuldigte ich mich.
„Du bist schon ausgezogen?“
„Ich hab schon fast geschlafen.“
Ich ging ins Zimmer und kroch ins wärmende Bett zurück, denn es war kühl in der Bude. Thomas hängte seine Klamotten, mit denen er sich des Wetters wegen bemäntelt hatte, an die Flurgarderobe, zog sich die Schuhe aus und nahm sogar seine Kette ab. Ich hörte, wie er sie auf die Flurgarderobe legte. Dann ging er zuerst ans Fenster, wo er noch mein Schlüsselbund vorfand, und setzte sich schließlich wieder in den Sessel. Und schwieg! Ich sollte die verdammten Sessel rausschmeißen, dachte ich. Thomas sah sich unentwegt auf die Knie und tat sehr bedrückt. Da ich nichts anhatte, mochte ich nicht zu ihm gehen. Nach einer Weile stellte er sich wieder ans Fenster und sah hinaus. Jetzt stand ich doch auf, schlich mich von hinten an und legte ihm meine Arme um die Brust.
„Was hast du?“, fragte ich. Was hast du oder was denkst du, sind die blödesten Fragen, die einer in solchen Momenten stellen kann, finde ich. Dasselbe dachte wohl auch Thomas, denn er antwortete nicht. Fürchtete er sich noch immer in dem dunklen Wald? Ich nahm ihn wie Gretel bei der Hand und wollte ihn zum Bett führen. Thomas ließ sich aber nicht von der Stelle bewegen. Na gut, dann eben nicht. Er hatte doch wohl am wenigsten Grund, bockig zu sein. Ich konnte mir auch allein die Steppdecke bis über die Augen ziehen. Es brauchte eine Weile, bis er sich in den Sessel zurücksinken ließ.
„Hast du mir nichts zu sagen?“, fragte er.
Warum denn immer ich?, dachte ich. Die gleiche Frage stellt Jochen auch immer. Worauf wollte er hinaus? Hatte er von mir eine Predigt erwartet, irgendwelche Vorwürfe? Klar hatte ich ihm etwas vorzuwerfen, aber bin ich selber besser! Ich bin nicht sein Richter.
„Was sollte ich dir zu sagen haben?“, fragte ich deshalb.
„Du weißt schon.“
„Dass du Raymond mitgebracht hattest? Dazu kann ich dir nichts sagen, das ist nicht meine Wohnung.“ Oder wollte er von mir hören, dass ich enttäuscht bin, dass er vorhatte, mit Raymond zu schlafen? Ich sagte aber nichts weiter dazu.
„Dass ihr sauer wart, sah man doch an euren Gesichtern“, sagte Thomas.
Er ließ dann noch etliche lange Minuten verstreichen, bevor er sich zu mir aufs Bett setzte. Seinen Kopf ließ er noch immer gesenkt. Ihm entgegen kommend nahm ich seine Hand. Mit hängenden Ohren, über die Augen fallendem Haar und treuem Hundeblick sah er mich an und küsste mich endlich. Dann knöpfte er sich das Hemd bis zur Mitte auf und legte sich neben mich. Meine Lippen tasteten vorsichtig und erwartungsvoll über sein Gesicht und die Hand an seinem Hemd. Als ich es schließlich vollends aufgeknöpft und aus der Hose gezogen hatte, übernahm Thomas selbst den schwierigeren Teil mit der Schnalle. Ein Bekleidungsstück nach dem anderen entfernte sich von der Liege. Auch die Socken, die er beim Mal davor als letztes Zeichen seiner Unschuld anbehalten hatte. Als Adam kroch er dann unter die warme Decke.
Die Steppdecke war schon lange auf den Teppich geglitten, denn unsere Spiele hatten uns unter ihr derart erhitzt, dass sie überflüssig geworden war. Thomas rutschte von meinem Bauch etwas tiefer zwischen meine Beine, richtete seinen Oberkörper etwas auf und winkelte dann meine Knie an. Er wird doch nicht ans Eingemachte wollen, dachte ich mit Schrecken. Sich mit der Linken notdürftig und ziemlich wackelig abstützend, brachte er mit der rechten Hand seinen liebenswerten Knabenpinsel in ungefähre Positur und versuchte dann, allerdings mit wenig Geschick, in meinen versiegelten Tempel einzudringen. Wahrscheinlich verfolgte er die Absicht, ihn inwendig neu zu renovieren, nicht ahnend, dass dessen heiliger Friede seit seiner Vollendung durch nichts und niemanden bisher gestört worden war. Alle frevelhaften Versuche scheiterten an seiner festen Pforte hinter der marmornen Schwelle.
„So wird das nichts!“, belehrte ich ihn, vermied es aber, auf die hilfreiche Wirkung von Spucke oder Creme hinzuweisen und bewahrte so die kostbare Pforte vor der mutwilligen Zerstörung und uns beide vor einer neuen Erfahrung. Nachdem ich ihm Platz gemacht hatte, legte sich Thomas ratlos und enttäuscht auf den Rücken. Er hatte all seinen Mut für nichts verschwendet, denn er dachte, nur in einem Tempel kann man angemessen opfern. Aber nach nur wenigen Augenblicken der Besinnung gingen die wechselvollen Rangeleien weiter, die ihn mal unten und mal obenauf sein ließen. Zum Schluss, ich hockte auf Knien über seinen Schenkeln und hatte beide Rohre in der Faust, schoss unser beider Samen stoßweise und heiß, als wäre er eben von der Herdplatte gekommen, durch meine Finger auf seine angespannte Bauchdecke. Es war schon nach halb zwei. Mit einer bereitliegenden Serviette reinigte ich mir erst die Hände und wischte dann Thomas‘ Nabel aus. Wie in einem Brunnen war hierin aller Regen zusammengeflossen und aufgefangen.
Während des Anziehens meinte Thomas: „Geh doch mal mit Frank ins Bett und finde heraus, wie der darin so ist.“
„Ich hab dir schon mal gesagt, dass mich das überhaupt nicht interessiert“, entgegnete ich.
„Und die andere Sache“, er meinte sein großes Mitbringsel in Jochens Wohnung, „wird dann wohl an anderer Stelle ausdiskutiert“, fürchtete er.
„Wahrscheinlich“, bestätigte ich.
Vor der Haustür sagte er dann: „Ich werde es Joschi erklären oder ihm einen Brief schreibe, denn ich brauche dort wohl nicht mehr aufzutauchen.“
Heute Nachmittag war ich um drei zu Hause. Im Bezirkskrankenhaus, wo ich dienstlich zu tun hatte, hatte es nicht sehr lange gedauert. Ich nutzte die Zeit, um endlich vom Film, den wir bei Jochen beknipst hatten, die Abzüge herzustellen. Anschließend konstruierte ich die ersten drei Strophen eines neuen Gedichts für Thomas. Diesmal soll es sich reimen. Erst gegen halb sieben ging ich aus dem Haus, um in der kleinen Kaufhalle Pflaumen zu kaufen. Gab aber keine. Wir wollten Pflaumenmus kochen. Jochen rührte gerade Teig für einen Kuchen zusammen, als ich zu ihm kam. Beim Abendessen stieß dann Thomas dazu. Wir hatten natürlich vorher schon über ihn und Raymond gesprochen, wobei Jochen die Meinung vertrat, dass sich Thomas heute wohl nicht hertrauen werde. Ich hörte, wie er ihn gleich im Korridor beschimpfte.
„Du bist ein arrogantes Arschloch!“, motzte Jochen unter anderem.
„Warum das denn?“, fragte Thomas erschrocken.
„Warum hast du nicht hochgesehen, als du nachmittags am Fenster vorbeigegangen bist? Nicht mal, als ich gepfiffen habe!“
Thomas verteidigte sich: „Ich habe dich weder gesehen noch gehört, ehrlich.“
Wer‘s glaubt. Thomas setzte sich in einen Sessel und starrte in den Fernseher, ohne auch nur einen Mucks von sich zu geben. Er machte wieder auf eingeschnappt und reagierte fortan auf keine Anrede, auch auf meine nicht. So saß er eine knappe halbe Stunde da, dann ging er ohne Abschied.
„Was tut der so blöd, dem hat doch keiner was getan“, sagte Jochen aufgebracht.
„Wenn er nicht will, dann lass ihn doch einfach in Ruhe. Aber nein, du musst dann immer doller auf ihn einreden. Und was soll das ständige Gefrage: Was hast du denn, was hast du denn? Am Ende bittest du ihn noch um Entschuldigung dafür, dass wir so früh zurückgekommen sind. Das kriegst du immer fein hin“, warf ich ihm vor.
„Es ärgert mich eben, wenn er immer so blöd tut.“
Mich ärgerte es natürlich auch. In Jochen verstärkte sich die Ansicht, und nun auch in mir, Thomas nehme uns übel, ihm die Nummer versaut zu haben.
„Das muss er sich ziemlich schnell ausgedacht haben, denn er hat nicht wissen können, dass er hier eine sturmfreie Bude haben würde. Warum hast du das überhaupt gemacht?“, fragte ich.
„Ich habe gar nicht davon angefangen. Das war er doch! Er hat gesagt, wenn wir ins Theater fahren, dann rührt er sich nicht von der Stelle, dann bleibt er solange hier, bis wir wieder zurück sind.“
Dass wir ins Theater wollten, davon war allerdings schon Tage vorher die Rede. Hatte der Kleine das tatsächlich geplant gehabt. Diese Hinterhältigkeit! Wozu auch sonst das runtergezogene Rollo!
Wir sahen notgedrungen Olympia, als Jochen plötzlich eine Idee äußerte: „Weißt du, der ist uns gar nicht sauer, weil wir ihm die Nummer versaut haben. Der ist nur sauer, dass wir mit Raymond zusammengestoßen sind. Das hatte er immer nicht gewollt, und bis zuletzt vermieden.“
Diese Wende in der Begründung fand ich sofort herrlich: „Na klar, so wird es sein. Er hatte ja die Schulsachen mitgebracht. Als Alibi für uns hätte er sie nicht gebraucht.“ So musste es gewesen sein. Ich wollte, dass es so war. Ich holte die Bettsachen hervor und machte alles zum Schlafengehen fertig. Ich war sehr müde. Aus gleichem Grunde wird auch Thomas so früh verschwunden sein. Trotzdem cremte ich noch Jochens Rücken ein. Wegen des Frühstückseies.


Donnerstag, 22. September 1988 - Sonnabend, 24. September 1988

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