Die Hoschköppe / 126. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 126. Kapitel

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Donnerstag, 29. März 1990


Der stürmische Herbst neunundachtzig wurde von einem besänftigenden Winter abgelöst, der die Emotionen weitestgehend einfror. Die Zeit rann den Menschen zwischen den Fingern hindurch ins bodenlose Nichts. Im Herbst waren sie noch vereint und hoffnungsvoll durch die dunklen Straßen der Städte gezogen, hatten „Wir sind das Volk!“ geschrien und damit sich, unser Land und die ganze Welt zu ändern vermocht. Fast! Mancher und manches blieben freilich gänzlich unberührt. Der Wanderweg, der durch keine leuchtenden Markierungen gekennzeichnet ist und auf dem sie sich seitdem befinden, mag zwar hinter den zahllosen Biegungen manch schöne Aussicht bereithalten, aber das wahre Ziel des Weges, aus dem nicht wenige Stolperwurzeln herausragen, bleibt der marschierenden Masse für immer verborgen.
Heute Morgen traf ich Raymond an der S-Bahn, der bis Marienehe mitfuhr, um dort auszusteigen. Raymond vergewisserte sich, ob es bei Sonnabend um zwanzig Uhr bleibe. Ja, bestätigte ich ihm, er solle dann mit den Leuten am besten gleich zu meiner Wohnung kommen, wir würden von dort aus zur Disco gehen. Raymond hatte einen Teil seiner Clique bei Jochen und mir eingeführt und nicht eher lockergelassen, bis wir versprochen hatten, ihn und seine Leute in die Schwulendisco mitzunehmen.
Hier noch ein Brief von Thomas, nun wirklich der allerletzte, den ich zeitlich auch nicht einordnen kann, der aber, obwohl schon reichlich zerknittert, doch nicht so einfach unterschlagen werden soll.

                      Hallo Ihr Beiden!
Tut mir leid, Euch den heutigen Abend versaut zu haben. Und überhaupt, tut es mir leid, daß ich Euch so viel Ärger gemacht und Euch so auf den Wecker gefallen bin. Jetzt bin ich schon so weit, daß ich mir selbst leid tuhe. Vertrauen hattet Ihr, Liebe auch, was wolltet Ihr denn noch - Sollte ich dann noch Euer Verhältnis zerstören - nein - aber das scheine ich dann ja wohl auch geschafft zu haben. Was ich jetzt tuhe, weiß ich noch nicht - jetzt im Moment mache ich gerade Bekanntschaft mit einem Taschentuch, das ich so eben aus dem Schrank geholt habe. Und wenn ich das tuhe, ist es schon ganz schlimm. Nie in meinem Leben haben Männer mir so viel bedeutet, wie Ihr mir und jetzt. Grund genug, daß das jetzt in die Hose geht - gehen muß. Sowas ist mir noch nie passiert - wegen Männern zu heulen. Ich war nahe daran Euer Leben zu zerstören - das hält mich jetzt davon ab, weiter zu machen. Mit einem von Euch in ein Verhältnis einsteigen - wozu? - damit ich am nächsten Tag die Bullen am Hals habe - vielleicht noch wegen Selbstmord. Ihr habt Eure Entscheidung sicher längst getroffen, bevor ich diesen Brief schrieb. Ich stand auf einer 100stufigen Treppe, auf der 99. Stufe wurde ich zurechtgerückt und mir wurde klargemacht, in Eurem Leben nichts mehr besorgen zu können.
Ich bin nur froh, daß ich niemanden kenne, der ne Waffe hat.
Bis... aber wer weiß, ob überhaupt!
Mit dem Abend, den ich Euch versaut habe, habe ich einen Großteil meines Lebens versaut.
Ich stehe am Zeitungskiosk -- beide!

Sonntag, 1. Oktober 1989 - Mittwoch, 29. Mai 1991

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