Die Hoschköppe / 125. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 125. Kapitel

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Sonntag, 1. Oktober 1989


Die maschinengeschriebene Durchschrift eines Briefs:

                                Rostock, den 1 .10.1989
T H O M A S !
Das, was mir seit einigen Tagen wie ein Stein auf dem
Herzen, oder besser gesagt Seele, liegt, brennt danach
Dein Gehör zu finden. Wenn nicht, dann solltest Du besser
mit dem Lesen aufhören.
Heute weiß ich, daß wir uns  nie richtig verstanden haben
und so bleibt mir nur dieses  Stück Papier, um eventuell
doch noch zu Dir zu finden. Verstehe mich bitte nicht falsch,
ich will unsere alte Tragödie nicht von neuem abspielen.
Eine Wiederholung dessen, was vor über einem Jahr geschah,
wird nicht mehr eintreten.
Warum?
Nun ganz einfach, Dein Ziel: „Den (mich, d.R.) mach ich
fertig!“ - Deine Stimme ist immer noch ganz laut in meinem
Körper zu hören - hast Du erreicht. Auch wenn es albern
klingt, Du hast es, obwohl Du es nicht wissen kannst, doch
noch erreicht!
Wie das?
Es gibt in dieser, ich will es mal so bezeichnen, „Affäre“
eine undichte Stelle. Und diese undichte Stelle flüsterte
mir einen Tag nach Deinem 18. Geburtstag – nachträglich
noch herzlichen Glückwunsch -, wa s wirklich zwischen dem
30.8.1988 und ich weiß nicht wielange, vielleicht dem 30.11.1988
oder früher, oder später, ach ist auch egal, ändern wird
es niemand, passierte.
Und wer hat daran Schuld, wenn man überhaupt von Schuld
und Schuldigen sprechen kann? I C H ! ! !
Ja, ich selbst habe an allem Schuld, denn ich selbst habe
den Boden Deines Verhaltens und die Begierde des „Anderen“,
die Begierde des Bestäubens durch die ach so süße, zier-
liche Honigbiene, oder war es eine Drohne, reichlich ge-
fördert. Ich selbst habe die „Diestel“ immer wieder in die
richtige Position gebracht, habe alles daran gesetzt sie
in dem schönsten Licht erstrahlen zu lassen. Und Du?
Seinem betörenden Duft, seiner Stimme bist Du immer mehr
erlegen, hast Dich von ihm so sehr angezogen gefühlt.
Bis Du Deinen Rüssel tatsächlich hineingebohrt, Dich an dem
Nektar gütlich getan hast und mich dafür mit Stichen Deines
Stachels malträtiertest. Also doch keine Drohne!
Wie schön für mich, daß die Narben nie verheilen, so bleibt
mir wenigstensdiese Erinnerung, eine Erinnerung in Einsam-
keit. Wie lange noch?...
Der Schmerz wird vergehen, die Erinnerung nicht.
Verzeihen kann ich Euch beiden nicht. Wozu auch, es gibt
nichts zu entschuldigen, nur vergessen tue ich es nie.
Und dann Dein Abgang von der Bühne, wie schäbig!
Erst Deine Worte von Freundschaft, Ewigkeit, Liebe und was
noch alles und dann, erinnerst Du Dich an Deinen letzten
Brief an mich, dann nur noch Worte der Verachtung, des Zorns
und die Schuld nur bei anderen suchend. Hast Du Deinen Ab-
gang nicht selbst sorgsam vorbereitet. Denn jenes, was Du
erreichen wolltest, ich erfuhr es ja kürzlich erst, hast
Du erreicht und damit habe nicht ich das Kapitel unserer
Tragödie beendet, sondern Du selbst hast wissentlich da s
letzte, das allerletzte Kapitel geschrieben und inszeniert.
Ich habe damals auf Deinen Brief eine Antwort formuliert,
diesen aber nie an Dich gesandt, weil ich Dich für „rein
und anständig“ hielt und mir die größten Vorwürfe meines
Verhaltens Dir gegenüber machte. Ich glaubte wirklich, Dich
aus meiner Wohnung geekelt zu haben.
Nur gut für mich heute zu wissen, daß nicht an dem war.
Vielleicht findest Du wenigstens hierfür mal die richtigen
Worte, überlege es Dir. Es steht Dir alles frei.
So bleibt mir nur Dir alles erdenkliche zu wünschen.
Mögest Du Deine Ziele, wie damals vor einem Jahr, immer
erreichen. Nur bedenke: Wer Liebe will, muß Liebe geben!
Doch sollte diese Liebe niemals das Glück eines Anderen
zerbrechen.
             Dein Dich nie vergessender Jochen

Anfang September - Donnerstag, 29. März 1990

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