Die Hoschköppe / 127. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 127. Kapitel

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Mittwoch, 29. Mai 1991


Seit dem letzten Eintrag ist über ein Jahr vergangen. Inzwischen hatten sich unsere bis dahin friedlichen Wälder mit zweibeinig dahergelaufenen Wölfen, Füchsen, Schakalen und Hyänen bevölkert und die ganze Welt schritt in beängstigenderweise fort, sich zu ändern. Dabei erwies sich aber, dass auf dem Weg, den die Welt nahm, nicht für alle Menschen, auch wenn sie noch so hoffnungsvoll waren, jede Aussicht, die am Wege lag, sich als schön und romantisch herausstellte. Auch nicht für die Helden dieser Geschichte, die einfach kein Ende finden will. Für Jochen brachten diese Veränderungen aber immerhin einen nigelnagelneuen Clio mit sich. Für mich präsentierten sie sich dagegen in der Gestalt von 30-Stunden-Kurzarbeit pro Woche mit dem Ziel der Arbeitslosigkeit, weswegen ich an diesem trüben Maientage bereits um dreizehn Uhr dreißig Feierabend machen durfte. Ich fuhr in meine Wohnung, setzte mich hier an den Computer und arbeitete an diesem Text.
Die Zeit war mir anfangs sehr rasch davongelaufen, aber später dann, besonders als es bereits auf neunzehn Uhr zuging, war sie mir dann sehr lang geworden. Ich hatte schon mehrmals aus dem Fenster gesehen, weil ich Jochen erwartete, der mich abzuholen versprochen hatte. Er nahm zwar mittwochs an einem REFA-Lehrgang teil, hätte aber dennoch längst hier sein müssen. Da von meiner anfänglichen Konzentration nicht ein Hauch übrig geblieben war, raffte ich mich und alle meine Sachen zusammen und ging. Um viertel acht war ich dann bei Jochen, der in seiner Wohnung eine ungewohnte Hektik verbreitete. Er war gerade damit beschäftigt, die Schnitten fürs Abendbrot zuzubereiten. Die für die morgige Arbeit waren bereits fertig und eingewickelt.
„Komm rein und iss schnell!“, forderte er mich auf. „Ich kriege nachher noch Besuch!“ Er wirkte sehr kribbelig.
„Wer kommt denn?“, fragte ich verwundert.
„Ein Vierzehnjähriger!“, antwortete Jochen.
Da ich die Sache nicht ernst nahm, denn ich hielt Jochens Hektik für übermäßigen Hunger, fragte ich nicht weiter nach.
„Mach doch schnell!“, bat mich Jochen. „Ich bin schon ganz aufgeregt.“ Und seine Aufregung schien tatsächlich echt zu sein.
„Ist das dein Ernst?“, wollte ich wissen, nun doch unsicher geworden. „Wie bist du denn an den ran geraten?“
Während wir die fertigen Schnitten aßen, erzählte Jochen sein jüngstes Abenteuer: „Ich bin an der Kaufhalle …“
„Du wolltest mich doch abholen!“, unterbrach ich ihn gleich nach den ersten paar Worten.
„Ja schon, aber ich dachte, du wärest bereits weg, weil es schon so spät war. Also, ich bin mit dem Rad bei der Kaufhalle an einem Jungen vorbeigefahren, der mir sehr gut gefallen hat. Deswegen drehte ich mich nach ihm um. Der hatte sich auch umgedreht! Beim Weiterfahren habe ich mich dann natürlich noch mehrmals umgesehen. Der auch. Jedes Mal, wenn ich hinsah, sah der mich auch an. Dann ist der mir sogar ein Stückchen hinterhergekommen. Ist aber vor der Kaufhalle stehen geblieben. Hat mir aber immer noch nachgesehen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Kannst dir ja vorstellen, wie aufgeregt ich war. Ich ließ mein Fahrrad vor der Haustür stehen, brachte also nur die Tasche rein, schnappte mir wieder mein Rad und fuhr zur Kaufhalle zurück. Und was soll ich dir sagen, der Bengel stand noch immer dort. Wegen der Leute mochte ich dort natürlich nicht anhalten und ihn anquatschen. Ich fuhr deswegen weiter bis zur Tischtennisplatte …“
„Welche Tischtennisplatte?“
„Na die am Ende der Wilhelm-Hörning-Straße, die bei der Bushaltestelle an der Stadtautobahn. An der wir Thomas mal gesehen hatten. Der Bursche ist die ganze Zeit schön brav hinterhergekommen. An der Tischtennisplatte habe ich dann auf ihn gewartet. Da waren zum Glück keine Leute. Er hat sich sofort ansprechen lassen. Ich habe ihn gefragt, warum er hier so alleine rumschleicht, wie er heißt, was er so macht, na und so. Du weißt schon.“
„Ja, ich weiß.“
„Er heißt jedenfalls Dirk. Er sagte, dass er heute Geburtstag hat, dass er vierzehn geworden ist und keine Freunde zum Feiern hat. Er ist in irgendeinem Tanzklub oder so, ist immer alleine und wohnt irgendwo in deiner Nähe.“
„Ach, das ist ja interessant!“
„Ich habe ihm angeboten, dass er mich ja mal besuchen kann, wenn er möchte. Was soll ich dir sagen, er wollte gleich mit! Ich habe mich richtig erschreckt, denn darauf war ich nicht gefasst. Was meinst du, wie mir die Pumpe ging. Ich konnte ihn ja nicht gleich mitnehmen. Ich muss noch einmal weg, habe ich zu ihm gesagt, und bin zu um acht erst wieder zu Hause. Ich hab ihm meine Adresse gesagt und dann haben wir uns zu um acht verabredet.“
„Bist du immer ganz langsam vor ihm hergefahren oder wie hast du das gemacht, dass er dich nicht aus den Augen verloren hat?“, fragte ich neugierig.
„Ich hab natürlich aufgepasst, dass er mich nicht verliert. Nein, ich bin nicht so langsam gefahren. Bin immer bis um die nächste Ecke vorausgefahren, habe dort gewartet und beobachtet, wie er angerannt kam. Als wir dann an der Tischtennisplatte waren, keuchte er richtig. Du hast ihn bestimmt auch schon gesehen, wenn er da hinten bei dir wohnt. Er ist so ein Blonder, ungefähr so groß wie ich, aber viel schlanker. Sieht aber wie sechszehn oder siebzehn aus.“
Ich konnte mir absolut keine Vorstellung davon machen, wer es sein könnte.
„Was mache ich bloß mit ihm, wenn er tatsächlich kommt?“
„Das wird sich dann schon finden. Die Situation wird das ergeben. Und ich denke, du brauchst keine Angst zu haben, dass er nicht kommt, denn so, wie die Sache aussieht, will der was.“ Das, wovon Jochen zu erzählen wusste, zusammen mit meiner eigenen Fantasie hatten in meiner Hose den Aufstand der unterdrückten Masse heraufbeschworen. Ich überlegte sofort, wie es anzustellen sei, dieses geile Stück zu Gesicht zu bekommen und hatte auch gleich eine passende Idee. Mit Jochen verabredete ich, dass er mich abholen solle, wenn dieser Dirk wieder weg sei.
„Du kannst dir aber mit ihm so viel Zeit lassen, wie ihr beide wollt, denn ich werde warten. Bis zwölf, wenn es sein muss“, sagte ich und verkrümelte mich dann, aber nicht ohne den Autoschlüssel mitzunehmen, der immer griffbereit auf der Flurgarderobe liegt.
Ich ging zum Parkplatz vor der Kaufhalle, setzte mich in unseren Clio und fuhr damit bis wenige Meter vor die Haustür. Dort blieb ich im Wagen sitzen und beobachtete alle Leute, die vorüber oder ins Haus hineingingen. Irgendwann musste ja der Junge, auf den die Beschreibung passt, hier vorbeikommen. Wenn er denn überhaupt kommen würde. Die Minuten verstrichen, ohne dass etwas passierte. Nur die Leute, die ausgerechnet jetzt aus dem Fenster kucken mussten, machten mich nervös. Zunächst blätterte ich ziellos in einem Buch herum, welches ich mit zu mir nach Hause nehmen wollte, aber das brachte nichts. Dann begann ich ganz langsam und gewissenhaft mit der Montage eines kleinen Innenspiegels, der den toten Winkel überbrücken sollte. Wir hatten ihn vor Kurzem auf der Hanse-Messe erworben. Zum wiederholten Male las ich die Montageanleitung durch, hielt den Spiegel hierhin und probierte ihn dort. Ich hätte schon fünfmal fertig sein können, aber draußen tat sich noch immer nichts. Es waren zwar einige Leute an meinem Beobachtungsposten vorbeigekommen, aber niemand, der Dirk hätte sein können. Inzwischen war es bereits fünf Minuten nach acht und langweilig geworden. Die Sache fing an, blöd zu werden. Zum Glück hatten sich alle Fenster geschlossen. Zehn Minuten nach acht trat Jochen, der auch ungeduldig geworden war, aus der Haustür und sah mich sofort im Auto sitzen. Das war natürlich noch blöder. Er kam erstaunt auf mich zu und wusste in dem Moment auch nichts weiter zu sagen, als: „Ich suchte den Autoschlüssel.“
Ich fragte mich, was Jochen damit wohl gewollt haben mochte, und sagte: „Ich habe nur den Spiegel angebaut!“ Und nach einer Sekunde der Verlegenheit: „Noch ist niemand gekommen.“
„Ich glaube, dahinten kommt er!“, sagte Jochen und ging rasch zurück ins Haus.
Nach wenigen Augenblicken kam von rechts ein außerordentlich schmuck aussehender Junge den Bürgersteig entlang. Er hatte eine rote blousonartige Jacke und Jeans an und entsprach im Übrigen haargenau Jochens Beschreibung. Ich machte mich erneut an dem Spiegel zu schaffen, denn der Junge sah mich im Vorübergehen an. Konnte es sein, dass ich dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte? Es flackerten jedenfalls keine Erinnerungsbilder auf. Mit einem Satz nahm der Junge die wenigen Stufen vor der Haustür, blieb oben stehen und besah sich die Klingelschilder links daneben, bevor er hineinging. Ich wartete noch einen Moment, kletterte dann aus dem Wagen und ging nach Hause, wo ich an diesem Text weiterarbeitete. Mit meinen Gedanken war ich allerdings nicht richtig bei der Sache. Gegen einundzwanzig Uhr kam Jochen.
„Jetzt schon?“, fragte ich ganz erstaunt. Wobei mir die Zeit in Wirklichkeit sehr, sehr lang vorgekommen war. Ich hatte inzwischen schon auf Kohlen gesessen.
Jochen hatte von seiner vorfreudigen Erregtheit nichts verloren, das Gegenteil war eher der Fall. Er wollte sofort und ohne Luft zu holen mit seinem Bericht beginnen.
„Beruhige dich erst einmal und spare dir das auf, bis wir wieder bei dir zu Hause sind“, sagte ich gelassen, platzte aber vor Neugier.
Jochen war aber dermaßen aufgekratzt, dass er seinen Mund einfach nicht unter Kontrolle bringen konnte. Mehrmals wiederholte er unterwegs: „War das schön! Ach, war das schön!“
Ich hatte mich vorher schon über Jochens Erfolg geärgert, weshalb ich nicht sofort etwas darüber hatte hören wollen, und dieses Gestöhne erboste mich nur noch mehr. Als wir endlich in seiner Wohnung eintrafen, schweiften meine Blicke suchend durch die Räume und nahmen als Erstes die Rolle Küchenpapier wahr, die jetzt auf dem Stuhl zwischen Liege und Couch lag. Besonders deren genaue Position in der Küche hatte ich mir vor meinem Gehen eingeprägt. Jochen bemerkte meinen Blick und meinte dazu: „Ich musste ihn damit abwischen.“ Und jetzt begann er, zu erzählen. Ich hätte es auch nicht mehr länger ausgehalten.
„Ich bin also wieder reingegangen, habe mir schnell die Jacke und die Schuhe ausgezogen und mich an den Spion gehängt. Aber er kam und kam nicht. Ich wurde schon langsam ungeduldig. Vielleicht ist er wieder abgehauen, weil er im letzten Moment doch noch Schiss bekommen hatte, dachte ich. Um nicht vor Ungeduld zu platzen, hab ich mir die Schuhe wieder angezogen, den Mülleimer geschnappt und bin damit nach draußen zum Container gegangen. Scheiße, dachte ich, denn von ihm war nirgendwo was zu sehen. Von dir auch nicht.“
„Ich bin dann ja gleich nach Hause, nachdem er ins Haus gegangen war. Übrigens, Scheiße sagt man nicht! Davon geht die Bildung kaputt“, sagte ich und wunderte mich, denn ich hatte den Jungen nicht wieder rauskommen gesehen.
„Ich war natürlich ganz schön enttäuscht, das kannst du dir denken. Bin mit meinem Eimer wieder reingegangen. … Und da saß er dann. … Auf der Treppe vor meiner Tür!“
„Mensch, wenn das die Nachbarn mitbekommen hätten!“, gab ich zu bedenken.
„Na, er schien sich jedenfalls darüber keinen Kopf gemacht zu haben. Und außerdem hätte er doch noch ein Bruder von mir sein können oder ein Freund von Kati“, wehrte Jochen ab. „Er sagte, dass er blöderweise den rechten Aufgang hoch war, statt den linken. Drinnen spielte ich dann auf seinen Geburtstag an und fragte ihn, ob er schon Alkohol trinke, denn auf seinen Geburtstag müsse man doch unbedingt anstoßen. Er wollte aber nur was Alkoholfreies, Alkohol trinke er noch nicht. Ich holte ihm Orangensaft. In der Zeit hatte er sich hier umgesehen und dabei den Videorekorder entdeckt. Einen Videorekorder hast du auch!, sagte er. Er sagte gleich du zu mir. Ich war froh, dass er sich dafür interessierte, sonst hätte ich nicht gewusst, wie weiter. Ich führte ihm den Apparat vor und spielte dabei einige von den Filmen an, die wir in letzter Zeit aufgezeichnet hatten. Die Filme waren aber nicht nach seinem Geschmack oder zumindest nicht das, was er erwartet hatte, denn er fragte direkt, ob ich auch Erotikfilme habe. Das musste ich ja leider verneinen. Und außerdem bist du dafür wohl noch zu jung, habe ich zu ihm gesagt. Er sagte, dass er sich die Erotikfilme im Fernsehen auch immer ankucke. Wenn du dir unbedingt was ansehen willst, sage ich, dann kannst du dir ein paar Hefte ansehen, wenn du möchtest. Ich kramte die Dinger aus dem Schrank und mir war schon ganz anders. Er nahm die Hefte und setzte sich damit auf die Couch und fing sofort an, interessiert darin herumzublättern. Ich lief vor Aufregung im Zimmer umher. Dann setzte ich mich daneben und beobachtete ihn. Und dann rückte ich ganz nah an ihn heran. Was meinst du, wie der gezittert hat! Na, und ich erst mal. Er hatte die Hefte schon ein paar Mal durchgeblättert und fing immer wieder von vorne an. Dann nahm ich all meinen Mut zusammen und fasste ihm auf die Hose, spürte aber nichts darin. Das hat mich natürlich geschockt und ich hab gefragt, ob er denn beim Anblick solcher Bilder gar keinen Steifen bekommt. Doch, sagt er. Ich hatte aber nichts davon gemerkt. Und ich hatte meine Hand noch immer da. Er hat sich überhaupt nicht stören lassen. Na, dann wollen wir ihn mal raus lassen, hab ich gesagt. Das sagt doch Frank immer.“
Ja, dieser Satz kam mir irgendwie bekannt vor.
„Er lehnte sich zurück, damit ich besser die Hose aufbekommen konnte. Was meinst du wohl, was da zum Vorschein kam. Ich weiß gar nicht, wo das vorher alles gewesen ist. Der hat einen Apparat, da schnallst du ab! Er legte die Hefte weg und begann sofort, sich auszuziehen. Ich mich natürlich auch. Wir gingen dann auf die Liege, wo er sich bereitwillig bearbeiten ließ. Soll ich auch was machen?, fragte er. Das musst du wissen, hab ich gesagt.“
„Mir wird ganz anders, wenn ich mir vorstelle, bis wohin er gespritzt hat“, jammerte ich. „In dem Alter, da spritzen die Jungs noch ganz schön weit.“ Anders war mir aber schon eine ganze Weile.
„Bis hierhin so ungefähr“, sagte Jochen und zeigte auf die Höhe seiner Brustwarzen.
„Bei dir?“, fragte ich, denn ich musste es wieder zu genau wissen.
„Nein, bei ihm.“
Ich war enttäuscht. Ich hatte erwartet, dass da wesentlich mehr Futt hinter gewesen wäre. Nachdem sich Jochen in allen Einzelheiten über die Schönheit von Dirks Schwalbenschwanz ausgelassen hatte, als beschriebe er eine griechische Skulptur, sagte er: „Hinterher hat er sich noch ordentlich gewaschen, wobei ich ihm ein bisschen geholfen habe.“
„Und wieso habt ihr euch so beeilt? Ich hätte doch gewartet.“
„Er hat von Anfang an gesagt, dass er nur bis dreiviertel neun bleiben kann. Er will aber am Sonnabendnachmittag wiederkommen.“
„Du hast doch dann wieder Lehrgang!“
„Ja, aber nicht solange wie sonst. Und er wird ja wohl nicht gleich nach dem Essen kommen.“
„Ist das jetzt endlich alles?“, fragte ich.
„Ja. Ach so, jeden Dienstag und Donnerstag macht er abends Turniertanzen.“
„Ach, schon wieder ein kleiner Tänzer!“
„Ja, aber einen zweiten Thomas wird es nicht geben, das schwöre ich dir!“


Donnerstag, 29. März 1990 - Sonntag, 11. Oktober 1992

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