Die Hoschköppe / 128. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 128. Kapitel

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Sonntag, 11. Oktober 1992


Da die meisten Menschen von Natur aus die absolute Übersicht, und in nicht wenigen Fällen auch die uneingeschränkte Gewalt, über alle Dinge wünschen, die sie umgeben, wiegen sie sich folgerichtig in dem trügerischen Glauben, dass sie diese Übersicht tatsächlich haben und auch behalten können. Von welcher Art ihre Übersicht ist oder ob sie überhaupt je irgendeine erlangt hatten, sei dahingestellt. Um aber eine annähernde Übersicht zu gewinnen, ist es unumgänglich, dass diese Dinge ein absehbares Ende besitzen, einen Schluss, an dem man sagen kann: Die Sache geht genau bis hierher und nicht einen Schritt weiter. Dass eben dieser Umstand, das absolute Ende also, nur in den seltensten Fällen gegeben ist, ist mit ein Grund dafür, dass diese Menschen immer wieder ihrem eigenen Aberglauben aufsitzen, den sie dennoch mit sehr viel Hingabe und Liebe pflegen.
Da ich längst, es wird niemandem verborgen geblieben sein, die Übersicht über diese Geschichte verloren habe, will ich wenigstens diesem Tagebuch in diesem Kapitel ein Ende bereiten. Zeitlich setze ich es am späten Sonntagnachmittag des zweiten Oktoberwochenendes im Jahre zweiundneunzig an. Es war um die Zeit herum, in der Jochen und ich von unseren Freunden mindestens zwei behielten, so schien es wenigstens anfänglich, zwei zurückgewannen und einen möglicherweise verlustig gingen, wenn die Anzeichen nicht trügen.
Gestern Vormittag saß ich allein in meiner Wohnung, Jochen hatte einen Arzttermin, und schaute auf die Dächer der Siedlungshäuser. Irgendeines der vielen neuen Einsatzfahrzeuge, auf die die Stadtväter so stolz sind, jagte die Stadtautobahn entlang. Durch das allgemeine Herbstrauschen hindurch war deutlich das Näherkommen und sich wieder Entfernen des rhythmischen Klangs des Signalhorns zu hören, das sich aufdringlich in meine Gedanken bohrte. Schwere Luft, satt von Nässe, drückte das Küstenland in die Knie. Von den dunklen Ziegeldächern der kleinen Enklave tropfte Wasser aufs Moos in den Dachrinnen. Die flachen Pappdächer glänzten im trüben Licht des Morgens als hätte sie Meister Propper persönlich gewischt. Der größte Teil der Hecken, die meisten Obstbäume in den Gärten, die Birken mit ihren langen, im Wind fliegenden Zweigen, die Pappeln, die alles überragen, und erst recht die vereinzelt vorkommenden Lerchen hatten längst ihr Grün gegen die vielfarbigen Ocker eingetauscht. Hoch oben, wo noch vor einer Woche die Keile der Wildgänse Furchen zogen, trieben und tanzten die vom Sturm dahin geschubsten Blätter der Birken. Nur wenige Apfelbäume, an denen teilweise noch Früchte hängen, halten hartnäckig an ihrem noch grünen, aber harten Blattwerk fest. Ein Mädchen führte einen kleinen langhaarigen Hund an der Leine. Sie wurde von einem Fahrrad überholt, auf dem ein dick eingemummelter Knabe saß, der einen Rucksack, aber keine Mütze trug. Es begann zu regnen.
Und immer wieder waren diese Sirenen zu hören. Mitunter bedrohlich nah. Eine Elster, die in der Regenrinne einer Veranda gescharrt hatte, flog aufgeschreckt davon. Den Leuten, die sie hörten, riefen die Sirenen mit ihrem geifernden Gekreische die bösen Ereignisse im August ins Gedächtnis zurück, die der traurige und beschämende Anlass waren, den Namen des Stadtteils, in dem Jochen und ich leben, und den der Stadt in den Medien der ganzen Welt mit professionellem Abscheu und Ekel zu nennen. Auch mir gingen die letzten Wochen durch den Kopf, die so fern waren von jenen, mit denen diese Geschichte vor Jahren begann. Eine Woche lang hatten meist jugendliche, gut organisierte Gewalttouristen aus vorwiegend anderen Bundesländern, ihre Reisebusse mit den fremden Nummernschildern standen unauffällig im Abseits, anfangs mit begeisterter Zustimmung durch einheimische Schlachtenbummler, die im Sonnenblumenhochhaus untergebrachte ZAST und die viel zu spät eingesetzte Polizei mit Steinen und Brandflaschen bombardiert. Mithilfe irregeleiteter oder besser ferngesteuerter Chaoten fochten hier Politiker, die wie Feldherren von den umliegenden Hügeln herab die Übersicht behielten oder glaubten, die Übersicht zu behalten, auf dem Rücken der Schwächsten ihre Machtkämpfe aus. Es gab auch einheimische Jugendliche, Kinder manchmal, die sich der Faszination Gewalt nicht entziehen konnten. Auch sie waren wild entschlossen, aber ahnungslos.
Während dieser schlimmen Zeit befragte ich Dirk einmal danach, ob auch er an den Exzessen teilnehme, woraufhin er stolz geantwortet hatte: „Na klar, warum nicht! Alle, die ich kenne, sind doch dabei. Da ist wenigstens mal was los. Da ist action.“
„Hast auch du Steine geworfen?“, fragte ich weiter.
„Ja, na und?“
Einigermaßen erschüttert über diese Aussage, sagte ich: „Schämst du dich gar nicht? Weißt du, heute sind es die und morgen sind es wir … Auch du! Denk mal drüber nach!“
Dirk merkte, dass er sich bei uns mit derartigen Heldentaten nicht hervortun konnte. Kleinlaut bekannte er: „Es waren aber nur zwei … ganz kleine! Und außerdem habe ich kein Geld dafür genommen!“
„Wie, kein Geld?“
„Na, von den Reportern … fürs Steinewerfen!“
Ich schaute weiter aus dem Fenster und dachte zurück. Unbewusst nahm ich einen der letzten Trabis wahr, der in die Einfahrt des gegenüberstehenden Hauses fuhr und von dem Haushund, einem langhaarigen schwarzen Ungetüm, stürmisch begrüßt wurde.
Ich hing meinen Gedanken nach, als das Telefon in Jochens Korridor läutete. Ich war in der Stube sitzen geblieben, denn Jochen stand in der Nähe des Apparates. Ich hörte den Anrufbeantworter, der sich eingeschaltet hatte, noch bevor Jochen zugreifen konnte, und jetzt seinen einstudierten Text herunterrasselte. Jochen hatte keine Chance, selbst das Wort zu ergreifen, der Apparat war wieder schneller. Er blieb daneben stehen und hörte mit. Nach dem Pfeifton meldeten sich mehrere Stimmen. Es schien eine lustige Runde zu sein.
„Komm her!“, rief Jochen und meinte augenscheinlich mich. Da ich aber unbeeindruckt in der Stube hocken blieb, brüllte er: „Komm endlich her!“
Ich erschrak zwar über diesen Vulkanausbruch, blieb aber dennoch sitzen. Seit meiner Kindheit habe ich nicht ein Körnchen meines Phlegmas, welches den wesentlichsten Teil meines Selbstschutzmechanismus‘ ausmacht, eingebüßt. „Was willst du denn? Kannst du mich wieder nicht sitzen sehen. Muss ich denn bei jedem Scheiß dabei sein?“ Ich stand auf und ging zum Telefon.
Jochen spulte das Band zurück. Das war heute um sechzehn Uhr fünfundfünfzig. Sechs Wochen nach den Krawallen, die hier glücklicherweise keine Todesopfer gefordert hatten.

Weibliche Stimme, sehr hoch geschraubt: Hallo Achi! War ja gestern so toll mit dir im Bett und mein Partner
fand es auch so gut. (Drei unverständliche Worte.)
Männliche Stimme, unverständlich, könnte so lauten: Gar nicht wahr, haben dich angeführt, du kleine Schlampe.
Weibliche Stimme: (Einige unverständliche Worte.) … also komm lieber mal wieder vorbei, du, (Lachen) und mein dritter Kumpel möchte auch Bekanntschaft mit dir schließen.
Zweite weibliche Stimme: Aaach der süße schwarz (?) der Herr, war so hübsch, eeh.
Männliche Stimme: (Auf Tunte gemacht.) Und dein Arsch, der törnt mich so an, duuaaa.
Weibliche Stimme: (Unverständlich) … so sexiii.
Zweite weibliche Stimme im Hintergrund: Sag das nicht deiner Pfanne, die wird noch eifersüchtig.
Männliche Stimme: (Jetzt männlich-herb.) Nein Achi, jetzt mal ganz im Ernst! Wenn sie die zehntausend Mark bis morgen Mittag nicht an die … äh, Marienkirche heißt das, nich Hanni? okay, nicht an die Marienkirche hingelegt haben, sprengen wir ihr Haus in die Luft! Hamwa uns da vastann? (Drei unverständliche Worte. Lachen im Hintergrund.)

„Was soll das nun wieder?“, fragte ich.
„Das hörst du doch!“ Jochen flog schon wieder an Händen und Füßen. Er ließ das Band noch zweimal abspielen.
„Ich glaube nicht, dass das ernst zu nehmen ist“, meinte ich, war mir aber auch nicht ganz wohl in meiner Haut.
„An dir prallt wohl alles ab, was? Das war doch eine ganz eindeutige Drohung.“
„Ach Quatsch! Die haben sich bloß ’nen Jux gemacht.“
„Ich weiß ja nicht. Irgendwo hört der Spaß aber auf und das hier ist kein Scherz mehr.“
„Das sind bestimmt irgendwelche Kumpels von Markus. Die haben zusammengesessen, einen gesoffen und nicht gewusst, was sie Besseres machen sollen.“
„Meinst du?“, fragte Jochen.
„Markus muss gar nicht dabei gewesen sein. Ich glaub auch nicht, dass der so was machen würde. Aber den Typen, die bei ihm aus und ein gehen, denen ist das schon zuzutrauen. Die haben uns gesehen und ihn gefragt, was das für welche sind. Und da hat er es ihnen eben erzählt. Warum auch nicht …“
Ein Klingelstoß ließ uns beide zusammenfahren. Jochen sah erst durch den Spion und öffnete dann.
„Ist euch die Milch angebrannt?“, fragte Dirk.
„Oh Gott, die Milch! Welche Milch denn?“ Jochen gab ihm einen Kuss auf die Wange und schubste ihn ins Zimmer. „Wir haben gerade eine telefonische Drohung bekommen.“
„Eine was?“
Während ich Dirk das Band vorspielte, begann Jochen in der Stube betrübt vor sich hin zu brüten.
„Ich geh zur Polizei, das sag ich dir“, schwor Jochen.
„Ja und, was meinst du, passiert dann? Gar nichts passiert!“ An Dirk gewandt, fragte ich: „Kennst du die Typen vielleicht?“
Dirk stand vor dem Fernseher und meinte: „Nein! Woher denn?“ Ihn ließ der Anruf kalt. Ein wenig mehr Mitgefühl, ob nun Ernsteres dahinter steckte oder nicht, hatten Jochen und ich doch erwartet. „Ich lege ein Video ein, ja? Wenn ich schon mal hier bin.“ Er hatte sein Verlangen noch gar nicht ausgesprochen, da wühlte er auch schon bis über die Ellenbogen zwischen den Videoschachteln herum. „Welches soll ich reinlegen?“
„Was fragst du uns das, du kennst sie doch besser als wir.“
Obwohl er diese und jene Kassette anspielte, fiel seine Wahl stets auf ein und dasselbe Band, auf dem sich kräftige Burschen von hinten die Kante gaben. Jeder versteht, was ich meine. Es verging nicht allzu viel Zeit, bis sich Dirk zu Jochen auf die Couch gesetzt und die Hose bis zu den Knien herunter gezogen hatte. Er wollte eben damit beginnen, den Film auf sich wirken und der Natur ihren freien Lauf zu lassen, als es erneut klingelte. Ich sprang auf. Dirk sprang auf. Jochen sprang auf. Ich eilte zur Tür, Jochen zum Videorekorder. Ich zog die Stubentür hinter mir zu und linste dann vorsichtig durch den Kucker. Draußen stand Raymond und zog die Augenbrauen in die Höhe. Ich öffnete.
„Habt ihr immer so eine lange Leitung?“, fragte er und hielt mir zur Begrüßung seinen Hals hin. Früher hatte ich stets verabscheut, andere Leute an der Tür abzuknutschen, jetzt ging ich dazu über, solche Gelegenheiten dankbar wahrzunehmen.
„Wir haben Besuch“, sagte ich zur Entschuldigung und öffnete die Tür zur Stube. Langsam zog ich Raymond ins Zimmer. Jochen und Dirk saßen wieder, aber friedlich auf der Couch und sahen dem Eindringling entgegen. „Komm, setz dich“, forderte ich Raymond auf. „Können wir dir etwas anbieten?“
„Später vielleicht“, antwortete Raymond, der sich in den Sessel am Fenster gesetzt hatte.
Ich schaute mich im Zimmer um, nichts verriet die Unternehmung, bei der wir gerade unterbrochen worden waren. Nur eine Kleinigkeit vielleicht. Jochen, der bei anderen Gelegenheiten die Anwendung der Grundregeln moderner Umgangsformen bewusst unterdrückte, fragte Raymond und Dirk, ob sie sich bereits kennen würden, was beide zu seiner Erleichterung verneinten. Mit knappen Worten machte er sie miteinander bekannt. Sie musterten sich solange, bis Jochen Raymond zu erzählen aufforderte, was es Neues gebe. Da Raymond Gott und die übrige Welt kennt und dank der lenkenden Fragen von Jochen war es unvermeidlich, dass er auch auf den Straßenbahnfahrer zu sprechen kam, der mit seinem Freund seit längerer Zeit zwei Etagen über mir wohnt. Ich hatte an diesem jungen Mann gar kein, Jochen ein rein nachbarschaftliches Interesse. Raymond hatte bereits in der Vergangenheit des Öfteren dessen Namen erwähnt, was Jochen dazu animierte, Raymonds Beziehungen zum örtlichen Nahverkehr in aller Gründlichkeit aufzudecken. Raymond gab zu, sich noch heute Abend mit dem Straßenbahnfahrer nach dessen Dienstschluss in der Stadt treffen zu wollen. Das Funkeln in seinen Augen und das allzu breite Grinsen ließen darauf schließen, dass weder Olaf, Raymonds Flamme, noch der Freund des Straßenbahnfahrers Kenntnis davon hatte. Jochen wühlte und bohrte sich, einem Archäologen gleich, durch immer neue Kulturschichten und förderte Einzelheit auf Einzelheit zutage, während Dirk in seiner Ecke saß und aufmerksam zuhörte.
„Was habt ihr euch denn vorgenommen für die Nacht?“, fragte Jochen.
„Wir werden uns wahrscheinlich nur durch die Szene beißen“, meinte Raymond.
„Dabei bleibt es doch nicht! Das kannst du mir nicht erzählen. Kann mir genau vorstellen, womit euer Bummel enden wird und wo ihr euch dann durchbeißt“, prophezeite Jochen. „Das werde ich alles Olaf erzählen.“
„Wirst du nicht.“ Raymond lachte.
„Das kriegt er fertig“, bestätigte ich.
Dirk hielt sich heraus. Gegen achtzehn Uhr dreißig stand er auf und drückte die Absicht aus, Abendbrot essen gehen zu müssen. Jochens Einladung zum Essen lehnte er ab, versprach aber, wiederzukommen.
„Dein Reißverschluss ist aufgegangen“, sagte ich zu ihm.
„Oh!“ Er kuckte sich erst auf die Hose, dann auf Raymond. Schnellen und sicher griff er sich an den Nippel und zog ihn beherzt nach oben.
Während Jochen und ich Abendbrot aßen, Raymond mochte nur eine Tasse Tee mittrinken, fragte Raymond: „Wie heißt der? Dirk?“
„Ja“, antwortete Jochen. „Sieht der nicht geil aus?“
„Das ist doch noch ein Kind!“, bemängelte Raymond.
„Na, ich weiß ja nicht“, mischte ich mich ein. „Die beiden sind größer als du.“ Diese Aussage stützte sich zum Teil nur aus Vermutungen, denn ich hatte bisher ebenso wenig wie Jochen Gelegenheit dazu gehabt, allen Tatsachen auf den Grund zu gehen, was Raymond betrifft.
„Habt ihr was mit dem?“, wollte Raymond wissen.
„Mehr als mit dir!“, bestätigte Jochen, der seinen Mund nicht halten konnte und damit mehr andeutete, als mir recht ist.
„Weiß der, wo du wohnst?“, fragte Raymond mich.
„Klar, warum nicht. War schon öfter da“, antwortete ich.
„Harald hat mir eine tolle Story erzählt. Von Dirk. Wenn es der Dirk ist.“
„Wer ist nun wieder Harald?“, unterbrach ich ihn.
„Na der Straßenbahnfahrer, der bei dir im Haus wohnt.“
„Ach ja. Und der kennt Dirk?“
„Ja. Nein. Bis dahin nicht. Dirk kannte ihn. Kann es sein, dass du ihm von Harald erzählt hast?“
„Wem, Dirk? Ja, bestimmt. Mit Sicherheit sogar. Ich glaube, wir sind ihm schon mal im Haus begegnet. Da habe ich ihm von den beiden erzählt.“
Jochen wurde hellhörig. Er fragte mich: „Wie oft war er denn schon bei dir?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich an Raymond: „Los, erzähl!“
„Harald war gerade ins Haus gekommen, da kam Dirk die Treppe runter und hat ihn gefragt, ob er ihm einen blasen soll.“
„Was? Das glaub ich nicht!“, protestierte ich.
„Das stimmt, kannste glauben, wenn ich‘s sag. Wenn es der Dirk ist.“
„Welcher sollte es sonst sein?“, fragte Jochen.
„Der kann doch nicht einfach einen wildfremden Kerl, einen rotblonden mit Sommersprossen noch dazu, auf der Treppe anquatschen, ob er ihm einen blasen soll! Soviel Dreistigkeit auf einen Haufen gibt es einfach nicht. Oder doch? Das kann nicht sein.“ Ich war sehr erregt. Und wieder enttäuscht. „Und was hat Harald dazu gesagt?“
„Der hat ihn gefragt, ob er weiß, was er gerade gesagt hat.“
„Ich hab es ja gewusst, dass er es auch noch mit anderen treibt“, stellte Jochen nüchtern, aber mit Verbitterung fest.
„Na und?“, sagte ich. „Ich möchte noch mal in seinem Alter sein und hier leben.“
„Das kann ich mir lebhaft vorstellen“, sagte Jochen. Und an Raymond gewandt: „Erzähl weiter!“
„Er hat ihn mit rauf genommen und mit ihm ein aufklärendes Gespräch geführt.“
„Dass ich nicht lache, haha. Wie das wohl ausgesehen hat!“ Jochen wurde bitter und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Seit ich mir das Arschloch eincreme, habe ich trockene Lippen.“
„Mit welcher Begründung cremst du dir denn das Arschloch ein?“, fragte Raymond neugierig.
„Mit keiner Begründung, sondern mit Nivea“, antwortete Jochen. „Wenn der mitkriegt, wie leicht er einen Kerl haben kann, dann sind wir bald abgemeldet.“
„Das wundert mich gar nicht, so geil, wie der aussieht“, meldete ich mich. „Früher oder später war sowieso damit zu rechnen. Denkst du vielleicht, er bleibt uns ewig erhalten? Und warum sollte er nicht? Er ist jetzt in dem richtigen Alter. Als ich so alt war, hatte ich schon längst alle Bengels in unserem Dorf durch, die ich kriegen konnte.“
„Jaja, das wissen wir schon“, bremste Jochen neidisch meinen schwärmerischen Versuch, meine Jugendabenteuer aufzuwärmen. „Mir wäre es aber lieber gewesen, das Schicksal hätte wesentlich später auf Dirk eingeschlagen.“
„Ja. Und vor allem, nicht auf meiner Treppe!“, seufzte ich.
Raymond, der, wie gesagt, Dirk offiziell noch für ein Kind hielt, lachte. „Er war es bestimmt. Deswegen war er so ruhig und hat rote Ohren bekommen, als wir von Harald sprachen. Ist mir das wieder peinlich! Ehrlich. Ob er noch mal wiederkommt?“
„Was musst du auch immer die Leute so bis aufs Hemd ausfragen!“, meinte ich zu Jochen. „Der hat schon öfter gesagt“, jetzt wandte ich mich Raymond zu: „dass er noch einmal wiederkommt. Wenn er erst mal fertig ist, äh, ich mein weg ist, dann ist er bis jetzt noch nie wiedergekommen.“
Um neunzehn Uhr dreißig tauchte gegen alle Erwartungen Dirk erneut auf und setzte sich Raymond gegenüber in den Sessel, in dem ich während des Essens gesessen hatte. Scheinbar war es ihm bei ein wenig guten Willen doch möglich, nach dem Abendessen von zu Hause fortzukommen. Da das Gespräch jetzt etwas allgemeiner verlief, mischte er tüchtig mit, war sogar ungewöhnlich aufgekratzt. Jochen beobachtete dies mit nicht geringem Argwohn. Auch mir war diese Veränderung aufgefallen, die im krassen Gegensatz zu Dirks sonstiger Zurückhaltung stand. Beispielsweise als Jochens Mutter eines schönen Sonntagnachmittags hereingeplatzt kam und ihn skeptisch in Augenschein genommen hatte. Zu Jochen und mir wagte sie nie ein Wort darüber zu verlieren, nur Kati gegenüber äußerte sie gleich im Anschluss daran ihr Befremden.
Mit ein und demselben Atemzug setzte Dirk zu einer Rede an und sprang aus seinem Sessel. „Wollen wir ein Video ankucken?“ Schon war er an der Schranktüre unterhalb des Fernsehers.
Hätte ich ihn nicht mit weit aufgerissenen Augen und den bösen Worten: „Was für ein Video??“, davon abgehalten, dann wäre bestimmt jetzt schon das Fürchterliche passiert, das erst im November im Beisein von Thomas dem Geilen zur grausigen Wirklichkeit werden soll. Raymond war zu nah und die damit verbundene Gefahr zu groß.
Eine Stunde später verließ uns Dirk unverrichteter Dinge. Kurz darauf ging auch Raymond!
„Was soll denn der Scheiß?“, fragte Raymond, als er das Foto von Thomas in der oberen linken Ecke des Garderobenspiegels stecken sah. „Muss das sein?“
„Ist doch ein hübsches Bild“, sagte ich, auch wenn mir der zynische Ausdruck des kleinen Mundes nur wenig gefällt.
„Dieses Arschgesicht hat doch nicht annähernd so viel Symmetrie wie ein Kerngehäuse, nur etwa so viel wie der Stamm eines Kastanienbaumes. Ihr könnt ihn wohl einfach nicht vergessen.“
„Wie kommst du darauf, dass wir ihn vergessen wollen?“, fragte Jochen. „Weißt du, ich glaube, wenn er nicht unseretwegen so viele Schwierigkeiten in der Schule bekommen hätte, dann wären wir möglicherweise heute noch Freunde.“
„Vergiss es!“, sagte Raymond und ging.
„Beeil dich, er wartet bestimmt“, sagte Jochen zum Abschied. Er hatte immer und für jeden ein paar nette Worte übrig. „Was sagst du dazu?“, fragte er mich, als wir allein waren. „Hast du gesehen, wie geil Dirk auf Raymond war?“
„Das ist mir nicht entgangen. Und da wollte er auch noch ein Video rausholen. Das fehlte noch! Hast du mal auf seine Hose gekuckt?“
„Hab ich. Sah gut aus.“
„Ich weiß gar nicht, was Raymond will. Meist ist er es doch, der das Gespräch immer wieder auf Thomas bringt. Ich glaube, je mehr Raymond ihn hasst, und so soll es sich wohl anhören, und er scheint ihn von Mal zu Mal mehr zu hassen, je mehr nimmt mein Verdacht Gestalt an, dass auch er ihn ebenfalls noch immer liebt“, sagte ich.
„Meinst du?“
„Kannste glauben, hätte Pittiplatsch gesagt.“
„Ja, ich glaub auch.“


Mittwoch, 29. Mai 1991 - Mittwoch, 9. Dezember 1992

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