Die Hoschköppe / 44. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 44. Kapitel

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Donnerstag, 29. September 1988


Am gestrigen Mittwoch war ich unvorhergesehen später von der Arbeit nach Hause gekommen, hatte aber trotzdem keine Eile, bei Jochen zu erscheinen. Thomas war schon bei ihm, als auch ich dort endlich aufkreuzte, denn dessen Sachen hingen im Flur. Auch beim Ausziehen und Händewaschen ließ ich mir ausgiebig Zeit, bevor ich mich zu ihnen ins Zimmer wagte. Jochen saß auf der Rückenlehne eines Sessels und las Thomas etwas vor, der auf dem Stuhl Platz gefunden hatte. Ich begrüßte beide mit gespielter guter Laune. Als ich Thomas die Hand gab, sah er mich nur fragend an, aber bei der ersten sich bietenden Gelegenheit gab er mir zu verstehen, wie müde er am Vorabend gewesen sei und das er nur deswegen nicht gekommen war. Weder in der Wohnung noch in den Gesprächen fand ich einen Anhaltspunkt dafür, dass Thomas statt bei mir bei Jochen war. Aber was besagte das schon. Die Kerben in meiner Seele konnte ich jedenfalls fühlen, wenn ich mit den Fingern leicht darüber strich. Beim Essen war ich dann so aufgeregt, dass ich Mühe hatte, den Löffel Zucker auf seinem Weg von der Zuckerdose zur Tasse nicht vollständig zu verschütten. Es war scheinbar nicht mein ruhigster Tag. Thomas tat mit einer Bemerkung kund, wie kaputt und müde er in der letzten Zeit sei.
Beim Abwaschen berichtete Jochen, und es lag nicht der Hauch der kleinsten Freude in seiner Stimme, es sei jetzt endgültig entschieden, er werde Abteilungsleiter. Das wird bestimmt nicht leicht für ihn werden, dachte ich. Zumal er sich seinen realistischen Blick auf die betrieblichen Probleme bewahrt hat und sich auch nicht scheut, im Gegensatz zu anderen, sie offen anzusprechen und deren Ursachen aufzudecken. Das ist natürlich für viele unbequem und stößt auf heftigen Widerstand. Eddi wusste bereits am Dienstag, wir waren noch einmal zu Klaus gefahren, davon zu erzählen, dass die Leute in der Werft große Stücke auf Jochen halten und das gemunkelt werde, er sei der neue Kronprinz. Ich freue mich für ihn und auf die Gehaltserhöhung, die dabei herausspringen wird.
Es war auffällig geworden, dass Thomas sich in letzter Zeit nicht scheute, immer häufiger und offener davon zu sprechen, dass er auf Männer stehe. Und es hörte sich nicht so an, als rede er nur so dahin und meine es nicht wirklich ernst, als wolle er sich auch noch damit interessant machen. Aus der umfangreichen Riege gut aussehender Spitzensportler, die alle Augenblicke über den Olympiabildschirm flimmerten, zeigte er uns diejenigen, die er für sich in die engere Wahl zog und ganz besonders toll fand, und das nicht etwa wegen ihrer sportlichen Leistungen. Mit einem Schwarzen würde er zu gern einmal schlafen wollen, schwärmte er. Damit schwimmt er mit mir auf gleicher Welle. Meine Finger sind schon seit Längerem begierig, schwarzes Kraushaar zu durchforsten. Wollen kann er ruhig, dachte ich, davon wird ihn niemand abhalten können, es aber zu tun, ist eine ganz andere Sache. Jochen beklagte aufrichtig, dass uns dieses exotische Vergnügen auch noch nicht beschieden wurde. Die Schwarzen aber unter den Kubanern, die in Lichtenhagen in gewisser Anzahl wohnen, wollte Thomas ausdrücklich ausgeschlossen wissen, denn die seien mit allen Wassern gewaschen. Mit allen schmutzigen Wassern, präzisierte er. Es blieb nicht aus, dass wir auch auf AIDS zu sprechen kamen. Die Vietnamesen brächten davon auch so einiges mit ins Land, konnte ich zu diesem Thema beitragen. Da für Jochen und mich AIDS bisher eigentlich kein Thema gewesen war, walzten wir es auch jetzt nicht unnötig aus.
Diese Thematik war es mit Sicherheit nicht, die Thomas zu dem nun folgenden und in seiner Art außergewöhnlichen Konzert animiert hatte. Seine talentierten Fähigkeiten in diesem speziellen Genre durften wir in kleineren Proben auch schon an anderen Abenden genießen, nur diesmal übertraf er sich selber. Thomas befand sich in der glücklichen Lage, spontan und alle Anstandsregeln weit hinter sich lassend, ganz ordinär zu rülpsen. Während der gemeine Musiker vor jedem Konzert sein geliebtes Instrument stimmen muss, tankte er sich lediglich mit Luft voll. Wegen der im Magen freiwerdenden Kohlensäure pflegte er auch solche legitimen Hilfsmittel wie Brause oder Selters zu benutzen. Die so gebunkerten Gase gab er dann lauthals und mit nur wenig Anstrengung wieder von sich, was sich im Einzelnen und entfernt nach irgendwelchen Buchstaben, ganzen Worten oder Melodien anhörte. Diese Art Musik mag zwar nicht nach jedermanns Geschmack sein, Dynamik enthielt sie jedenfalls mehr als so manches Klavierstück für vier Eierschneider und eine kaputte Trompete. Einmal damit begonnen hielt Thomas dieses faszinierende Spiel eine ganze Weile durch. Wir nicht, denn wir saßen bei ihm immer nur in der ersten Reihe. Jochen flehte ihn an, er möge doch endlich ablassen von seinem Tun, denn ihm sei schon ganz übel.
Dadurch, dass Jochen seine ganze Aufmerksamkeit dem Unterdrücken des würgenden Brechreizes widmen musste, erhielt Thomas für einen winzigen Augenblick die Möglichkeit, mir durch eine einfache Geste mitzuteilen, und die verstand ich sofort, dass er mit allergrößter Gewissheit um elf zu mir kommen werde. Möglicherweise war dies seine einzige Motivation zu diesem Konzert. Ich hatte ihn nicht aufgefordert, zu kommen und ich hätte es aus lauter Gnatz an diesem Abend auch nicht mehr getan. Nun sah ich ihn nur ungläubig an und fühlte mich leicht auf den Arm genommen, woraufhin Thomas uns erzählte, dass er nachher zu Hause noch den Besuch eines Mädchens erwarten müsse.
Entgegen meiner Absicht war ich bis fünfzehn Minuten nach acht geblieben, musste aber dann wirklich nach Hause, um den wartenden Pflaumen Feuer unterm Hintern zu machen, sollten sie nicht in Verwesung übergehen. Jochen spielte mir vor, mitkommen zu wollen oder wenigstens später noch nachzukommen. Sicherheitshalber, wie er meinte. Obwohl ich Thomas bei Jochen zurückgelassen hatte, war mir dieser draußen nachgelaufen. Ich fragte ihn, warum er nicht wie sonst durch den Durchgang gegangen sei, dann hätte ihn Jochen wenigstens vorbeigehen sehen können. Ich hatte nämlich im Weggehen gehört, dass Thomas Jochen damit aufzog, dass er bestimmt wieder im gestreckten Galopp hinterher gerannt komme, wenn er, Thomas, und ich zusammen losgehen würden. Gerade um dies zu vermeiden, war ich schon etwas früher gegangen. Wir sprachen aber nur zwei Augenblicke miteinander, als Thomas mich eingeholt hatte. Thomas bat mich um Entschuldigung dafür, dass er mich habe sitzen lassen und ich solle nun deshalb nicht irgendwas denken. Was genau er mit irgendwas meinte, blieb unausgesprochen. Heute werde er ganz bestimmt kommen, versicherte er hoch und heilig, gab aber gleichzeitig zu bedenken: „Und wenn Joschi kommt?“
„Was ich denke, das will ich dir dann gerne sagen, wenn du kommst“, antwortete ich. „Ich werde warten, so wie ich jeden Abend auf dich warte.“ Sagte es und ließ ihn stehen. Mit gesenktem Haupt schlenderte Thomas davon. Ich sah es, als ich mich nach wenigen Schritten umdrehte.
Bis kurz nach zehn machte ich mich in meiner Bude nützlich, die Pflaumen brutzelten leise vor sich hin und verbreiteten in der ganzen Wohnung einen fruchtig süßen Duft, dann wusch ich mich und ging ins Bett. Neben dem Herd tickte der roten Kurzzeitwecker, der so eingestellt war, dass er wenige Minuten vor elf klingeln sollte. Bevor ich um halb elf das Licht ausschaltete und die Augen schloss, hatte ich ein paar Seiten im Fall Lot gelesen. Plötzlich klingelte es! Ich schrak wie Lot zusammen, als es hinter dem zu bersten und zu donnern begann, und sprang aus dem Bett. An der Wohnungstür war niemand, aber unten vor dem Haus stand Thomas, dem ich nun den Schlüsselbund hinunterwerfen musste. Ich sah auf die Uhr: Es war erst fünfzehn Minuten vor elf. In Turnhose und Pullover ging ich zur Tür zurück und ließ ihn ein. Im Treppenhaus brannte diesmal kein Licht.
Im Dunkel des Korridors begann Thomas sich auszuziehen und meinte: „Es ist blöd, dass bei dir immer das Licht aus sein muss.“ Ich drückte auf den Schalter neben der Tür, auf dass er leichter einen Haken für seine Jacke und die Jeansweste finden möge. „Nanu“, wunderte er sich, „du bist angezogen!“ Rituell ging er erst ans Fenster, um sich dann in den Sessel zu werfen.
Ich war ihm zum Fenster nachgegangen und noch dort stehend sagte ich: „Ja. … Weißt du, eigentlich ist das unverantwortlich, was wir machen …“, und ärgerte mich über diesen Blödsinn, kaum dass er ausgesprochen war. „… aber was macht man nicht alles …“
„… um einen ins Bett zu kriegen!“ fiel Thomas mir ins Wort.
„… wenn man liebt, hatte ich sagen wollen“, beendete ich meinen Satz und setzte mich auf die Armlehne seines Sessels.
„Ach, vergiss es! … das ist doch gar nicht dein Platz!“ nörgelte Thomas weiter.
Ich wolle in seiner Nähe sein, rechtfertigte ich mich und legte den Arm um seinen Hals. Thomas klagte schon wieder darüber, dass er in letzter Zeit so müde sei, ihm fehle der notwendige Schlaf. Ihm?, fragte ich mich, wenn das von Jochen gekommen wäre, dann hätte ich das verstehen können. Thomas wollte das doch nicht etwa auf die drei Nächte bezogen wissen, die er in der vergangenen Woche bei mir war. Heute ist schließlich schon Mittwoch! Es steckt keine Kondition mehr in der heutigen Jugend, stellte ich enttäuscht fest und erinnerte mich daran, dass wir zu meiner Zeit ganz andere Kerle waren, wenn es darum ging, uns ganze Nächte um die Ohren zu schlagen.
„Du hattest mir doch was sagen wollen“, unterbrach Thomas meine Gedanken.
Ich teilte ihm meine Befürchtung mit: „Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, dass du immer dann bei Jochen bist, wenn ich hier vergebens auf dich warte.“
„So gut müsstest du mich doch kennen, dass ich dann nicht zu Joschi gehen würde“, bestritt Thomas diese Möglichkeit.
Ich fand die Sache gar nicht so abwegig. Thomas hatte zu schnell und zu empört geantwortet, sodass ich seinem Tonfall nicht zu entnehmen vermochte, ob er nur das Zusammensein mit Jochen von sich wies oder generell verneinen wollte, dass er überhaupt mit anderen Kerlen was zu tun habe.
„War das schon alles, was du mir zu erzählen hattest?“, wollte er wissen.
Vorsichtig näherten sich meine Finger seinem Gesicht, um dann sachte darüber zu streichen und mit sanfter Gewalt den Kopf leicht nach hintenüber zu drücken. Ich wollte ihn küssen. Thomas blieb aber stocksteif und eiskalt und bekam die Zähne nicht auseinander.
„Friedel“, begann er plötzlich und ich wusste sofort, da kommt nichts Gutes nach. „Friedel, hast du noch was vor?“
„Ich weiß nicht, was du meinst.“
„Tu nicht so, du weißt schon.“ Und nach einer Pause: „Ich bin heute nicht in Stimmung. … Jetzt denkst du bestimmt, dass ich dann gar nicht hätte kommen brauchen.“
Was ich dachte, wollte ich ihm lieber nicht sagen. „Nein, ich freue mich trotzdem. … Auch, wenn du nur so dasitzt. Ich freue mich, dass du mich nicht wieder umsonst hast warten lassen.“
„Es ist doch aber vertane Zeit. Ich würde bestimmt einschlafen.“
„Auch wenn du nur schlafen würdest, wäre die Zeit nicht umsonst!“
„Ich würde ja gerne mit dir schlafen, aber ich bin einfach zu müde.“ Thomas starrte unentwegt vor sich hin, wobei er seinen schweren Kopf abstützen musste. Dann sprachen wir über seinen bevorstehenden Klassenausflug. „Wenn jetzt Joschi kommen würde!“, meinte er völlig unpassend.
„Ach“, wehrte ich ab. Dass er jetzt an Jochen denken musste. Von Frank hatte er vorhin auch schon wieder anfangen müssen. Was hat er davon, wenn ich mit dem ins Bett gehen würde?, fragte ich mich.
„Scheiße, dann komme ich eben morgen Abend wieder“, sagte Thomas auf einmal. „Dann schlafe ich eben im Zug.“ Freitag früh wolle er sich mit seinen Klassenkameraden um sechs an der Kaufhalle treffen, da müsse er dann schon zeitig aufstehen. Die Fahrt werde nach Potsdam gehen, wo sie an die vierzig Kilometer zu wandern hätten, was ihn zu keinerlei Begeisterung hinriss. Schon bei Jochen war die Rede auf diese Klassenfahrt gekommen. Da hatte er gemeint, wenigstens im Beisein der ganzen Klasse werde er noch so tun müssen, als wenn er auf Mädchen stehe.
Uns beiden war der Gesprächsstoff ausgegangen. Wir saßen da und starrten auf das leere Bächlein, dem die Quelle versiegt war. Ich fragte ihn daher, ob er lieber nach Hause gehen möchte. Thomas legte daraufhin seinen Arm auf meinen nackten Schenkel und wirkte tatsächlich und irgendwie sehr müde.
Wenn er wirklich müde ist, dann solle er ruhig nach Hause und in sein Bett gehen, dachte ich, ich wäre der Letzte, der ihm das verübeln wolle, nur dann dürfe er nicht immer sagen, dass er kommen werde. Schließlich kann ich meinen Schlaf auch gebrauchen. Obwohl, ich warte gern auf ihn. Diese innere Erregung, die die wartende Ungeduld jedes Mal in mir hervorruft, ist ein schönes und prickelndes Gefühl, mit keiner anderen Vorfreude vergleichbar. Nur gut, dachte ich, dass ich mir wieder etwas übergezogen hatte. Ich hätte schön blöd ausgesehen, so nackt an seiner kalten Seite.
Als Thomas fort war, schaltete ich den Herd aus, auf dem noch immer die Pflaumen vor sich hin musten. In meinem einsamen Bett liegend, sah ich auf die Uhr: Es war genau dreiundzwanzig Uhr zwanzig. Mein Spielkamerad hatte die Buddelkiste verlassen und mich allein zurückgelassen. Da lag ich nun und musste mit mir selber spielen. In der Schublade lag die Tube Creme umsonst griffbereit, die ich extra seinetwegen gekauft hatte. Auch die nötigen Körperschutzmittel und eine Grubenlampe für den Einsatz in Thomas‘ kleinem Honigbergwerk waren vorhanden.
Heute war ich pünktlich um sechzehn Uhr zwanzig zu Hause. Obwohl es bei heftigem Sturm zu regnen begonnen hatte, war ich trocken geblieben. Fünfzehn Minuten nach fünf kam Jochen, ich saß gerade über der Literaturkartei, und bat mich um etwas Geld. Er wolle in die Kaufhalle gehen und habe vergessen, sich welches aus der Sparkasse zu holen. Wegen Brot brauche er nicht extra hinzugehen, meinte ich, denn ich hätte schon welches aus Gehlsdorf mitgebracht. Ein Kollege sei mit frischem, noch ofenwarmem Landbrot zur Arbeit gekommen. Für Brot allein hätte das Geld auch noch gereicht, sagte Jochen, er habe aber von Thomas noch einen Großauftrag mitbekommen.
„Er will zur Klassenfahrt eine große Flasche Eierlikör mitnehmen, und weil er in der Kaufhalle Schwierigkeiten befürchtet, schickt er mich vor.“
„Weil er so niedrig ist?“ Ich musste unwillkürlich schmunzeln. „Daher wohl auch sein Drang, sich als älter auszugeben“, sagte ich.
„Ich hab zu ihm gesagt, er solle, wenn die an der Kasse Ärger macht, ganz einfach fragen, ob er ihn erst rausholen muss oder ob es ihr genügt, wenn sie ihm übers Kinn streichen darf.“
„Du machst ihm ja schöne Vorschläge! Na weißt du, in der Kaufhalle. Aber denkt er, mit Eierlikör groß rauszukommen? Wen will er damit beeindrucken, die Jungs oder die Mädchen?“
Jochen erzählte, dass Thomas gegen halb fünf mit Kuchen zu ihm gekommen war, den sie zu einer Tasse Kaffee gegessen hätten, alleine, denn ich sei ja nicht da gewesen. Thomas habe aber gleich nach Friedel gefragt. Um halb sieben wolle er wiederkommen. Dabei seien sie auch wieder auf Frank zu sprechen gekommen, besonders aber auf dessen übergroßes Ding, den ihm Jochen in den schillerndsten Farben ausgemalt hatte. Thomas sei daraufhin etwas verlegen gewesen, wohl, weil er nicht so ein großes Ding vorzuweisen hat. Er habe aber zu Thomas gesagt, dass es beileibe nicht darauf ankomme, wie groß ein Schwanz sei. Und diejenigen, die so ein riesiges Ding mit sich herumschleppen müssten, hätten damit auch so ihre Last. Das schien Thomas wieder etwas besänftigt zu haben. Jochen hatte ihn spekulativ gefragt, was er wohl machen würde, wenn Frank jetzt käme, um mit ihm, Jochen, schlafen zu wollen, wenn der einfach seine Hosen fallen ließe, wie es so seine Art sei, ob er dann rausgehen würde. Thomas habe darauf geantwortet, dass er gar nichts machen würde, er würde ganz still sitzen bleiben und zukucken. Und was, wenn nun er, Jochen, rausgehen müsse, weil Frank mit ihm, Thomas, rummachen wolle, was dann? Da habe Thomas schnell das Thema wechseln wollen. Noch nie habe Thomas über derlei Dinge reden mögen, nun tue er es, meinte Jochen.
Kurz vor sechs war ich Jochen nachgegangen und traf ihn nun über der langweiligen Tagespresse an. Er schien auch gerade erst hereingekommen zu sein. Ich blätterte die interessantere Wochenpost durch. Die zwei Stückchen Käsekuchen und der Schluck kalten Kaffee, die spärlichen Überbleibsel einer großen Schlacht, waren schon in meinem Bauch. Thomas hatte auch noch Brötchen und zwei Packungen Wiener dagelassen, die wir uns dann zu dritt beim Abendbrot, von Jochen mit Käse überbacken, schmecken ließen. Thomas war wider Erwarten bester Laune und obenauf. Diesmal machte er auf Kleinkind. Das stand ihm wegen seiner nur geringen Höhe auch sehr gut. Kurz vor acht verließ er uns bereits, mit der Begründung, er wolle noch in die Badewanne. Sicher wollte er den Mädchen seiner Klasse von allem reingewaschen gegenübertreten. Als er weg war, sprach Jochen ganz begeistert von dem knackigen Pöker, den Thomas habe. „Nur Muskeln“, meinte er, „nicht so wie deiner.“
Das kränkte mich. Nie werde ich so vermessen sein, mich, was das Knackige betrifft, mit Thomas vergleichen zu wollen. Ich weiß auch ohne Jochens spitze Bemerkung ganz genau, wo ich meinen Hintern noch durchkriege und wo nicht. Ich finde, dass er mir steht. Das heißt, ich stehe zu ihm. „Meinen brauchst du ja dann in Zukunft nicht mehr anzufassen, wenn dafür kein zwingender Grund vorliegt“, erwiderte ich.
Jochen hatte, stellte sich heraus, Thomas die Hinterbacken massiert, als der auf der Liege lag und herummallte. Ich fühlte mich bemüßigt, ihn an unsere Abmachung zu erinnern, in der sich beide vertragschließenden Seiten dazu verpflichtet hatten, nicht mehr in derartiger Weise an Thomas herumzumanipulieren, einfacher gesagt herumzufummeln, an die er sich scheinbar nicht mehr gebunden fühlte. Ich habe es auch nicht dürfen, lautete mein behutsamer Einspruch, werde mir aber künftig das Recht herausnehmen, meinerseits diesbezügliche Schritte zu unternehmen, wenn er, Jochen, es nicht lasse. Die beiden hohen vertragsschließenden Seiten kamen zu keiner neuen Übereinkunft. Es zeichneten sich für die Zukunft diplomatische Verwicklungen ab. In beschwichtigenderweise prophezeite Jochen, dass sich Thomas noch eines schönen und nicht mehr allzu fernen Tages in unserem Beisein gänzlich ausziehen werde. Woher er seine seherischen Fähigkeiten nahm, blieb mir verborgen, wusste ich doch, dass Jochen aus gefestigten familiären Verhältnissen kam.
„Wenn es wirklich einmal dazu kommen sollte, dann gehe ich“, versicherte ich.
„Um nie mehr wiederzukommen?“, fragte Jochen ängstlich.
„Doch, doch, das schon“, beruhigte ihn ich.
„Du brauchst aber keine Angst zu haben, mit mir allein macht er es nicht. Dem wäre es doch vorhin viel lieber gewesen, du hättest ihm den Po massiert.“
Mir natürlich auch! Bevor ich um halb neun gegangen war, erhielt ich von Jochen den Auftrag, morgen seine Mutter anzurufen und sie zu fragen, was sie wolle. Er hatte auf seinem Schreibtisch in der Werft einen Zettel mit der Nachricht vorgefunden, dass sie angerufen hatte. Er selber sei aber dank der modernen Vorkriegstechnik nicht zu ihr durchgekommen, als er zurückrufen wollte. Zu Hause drehte ich als erste Amtshandlung den Schalter des Herdes auf Drei, denn das Pflaumenmus schien noch immer nicht dick genug. Aber was sollte es, die Kilowattstunde kostete eh nur acht Pfennige. Beim Duschen musste ich mich wohl dann ein wenig verzettelt haben, denn der aromatische Duft, der bis ins Bad wehte, bekam plötzlich eine ganz andere, wenn auch nicht weniger bekannte Note. Ich entfloh dem prickelnden Brausestrahl und stürmte in die Küche: zu spät! Den Herd ausschalten und den Topf auf eine andere Platte ziehen, war eins. Hatte einfach zu lange auf Drei gestanden. Ich hätte nicht gedacht, dass der Kram so schnell zu kochen anfängt. Hoffentlich ist noch was zu retten. Einen leichten Brandgeschmack kann Pflaumenmus ruhig vertragen. Die Literaturkartei und das anschließende Lesen im Bett halfen mir über den Schrecken dieser Beinahekatastrophe hinweg. Von zehn vor bis zehn nach elf wartete ich dann auf jemanden. „Vier Tage lang kein Herzklopfen“, hatte ich ihm geantwortet, als Thomas uns während des Abendbrots danach fragte, ob wir froh seien, ihn bis Dienstag nicht zu sehen, denn Montagabend käme er erst wieder zurück. Ich legte mich wieder ins Bett, gleich auf meine Einschlafseite. Meine Enttäuschung hielt sich in Grenzen, denn ich hatte nicht ernsthaft mit seinem Kommen gerechnet. Natürlich, gehofft hatte ich schon. Er hatte ja heute nicht noch einmal betont, dass er kommen wolle, mit keiner Silbe, mit keiner auch noch so kleinen Andeutung. Ich versuchte einzuschlafen, ohne Erfolg. Grübelte. Plötzlich erwischte ich mich dabei, wie ich mit angehaltenem Atem in die dunkle Nacht hinein lausche, ob nicht vielleicht doch noch unten die Haustür geht. Ich hörte aber nur dieses furchtbare Ungeheuer, welches mit seinem Ticken die Stille durchbrach und gegen sie anbrüllte.

Mittwoch, 28. September 1988 - Freitag, 30. September 1988

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