Die Hoschköppe / 45. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 45. Kapitel

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Freitag, 30. September 1988


Da es im Büro nichts Besseres zu tun gab, obgleich die gewichtige Chefin im Hause war, nutzte ich den heutigen Vormittag, um weisungsgemäß mit Jochens Mutter zu telefonieren, was eine Einladung für morgen zum Essen zur Folge hatte.
Abends fuhren dann Jochen und ich mit dem Bus kurz nach achtzehn Uhr nach Warnemünde, um in die Sauna zu gehen. Wir durften sogar hinein, ohne warten zu müssen.
Die zwei Stunden, die wir gebucht hatten, waren schnell vergangen. Jochen, der natürlich wieder zuerst mit dem Anziehen fertig war, wartete vor der Sauna im Gang. „Ich warte dann vorne noch, der kommt bestimmt mit“, kündigte er an, als auch ich endlich raus kam.
„Das glaube ich nicht, der hat doch seinen Vater dabei“, gab ich zu bedenken.
„Das sollst du sehen, der kommt trotzdem mit.“
Schlecht wäre es nicht, dachte ich, denn der Bengel mochte vielleicht siebzehn sein. Vielleicht aber auch schon achtzehn … oder erst sechzehn? Nein, älter als sechzehn ist er bestimmt. Groß, tadellose Figur, dunkelblond. Und bestimmt schwul. Mit Sicherheit sogar.
Während Jochen dann vorne unter dem Schleppdach des Eingangs wartete, war ich an der hellen Fensterfront der Schwimmhalle vorbei in Richtung Bus davongegangen, aber am Ende des Gebäudes hinter einer vorspringenden Hecke stehen geblieben, um ihn zu beobachten. Es dauerte aber nicht lange, bis auch er kam.
„Na“, fragte ich ihn, „hat das geile Stück dich gesehen?“
„Ja.“
„Und?“
„Er sitzt drinnen auf der Bank und wartet auf seinen Vater.“
„Habe ich doch gleich gesagt, dass der nicht so einfach mitgehen kann, wenn sein Vater dabei ist. Dann hätte er schon alleine in die Sauna kommen müssen. Kannst ja nächsten Freitag noch mal hergehen, vielleicht ist er dann wieder da.“
„Vielleicht.“
„Aber du wirst ja Thomas nicht allein lassen wollen.“ Ich hatte leider schon versprochen, am nächsten Freitag beim Literaturabend mitzumachen.
„Ist der schwul?“, fragte Jochen, als wenn ich das immer wissen müsste.
„Keine Ahnung. Ich glaube schon. Es kann auch sein, dass es gar nicht sein Vater war!“ Wir befanden uns auf der löchrigen Asphaltstraße, die uns unter hohen Kastanienbäumen, die alles in ein gespenstiges Dunkel hüllten, am links gelegenen Parkplatz vorbei zur Bushaltestelle in der Parkstraße führte. Von links kommend, traten jetzt die beiden jungen Männer auf die Straße, die schon vor einer halben Stunde die Sauna verlassen hatten. Sie hatten den Weg über den noch finsteren alten Friedhof gewählt.
„Die beiden sind ja auch noch nicht weiter“, sagte ich laut genug, sodass sie es hören mussten. „Mir wäre das ja ein innerer Vorbeimarsch gewesen, wenn der wirklich mitgekommen wäre!“
„Wieso?“, wollte Jochen wissen.
„Du hättest dann den behalten können und ich hätte endlich Thomas bekommen.“
„Nee, so nicht, mein Lieber“, empörte er sich. Die Haltestelle war leer, es musste gerade ein Bus gefahren sein.
„Wenn du ihn betatschst von oben bis unten, wenn du ihm den Hintern massierst, dann ist das in Ordnung, ja? Ich darf es nicht!“, beschwerte ich mich zum x-ten Mal.
„Du tust es doch auch“, wehrte Jochen diesen Schlag ab.
„Ja, aber erst, wenn du mich fünfmal dazu aufgefordert hast. Und am siebenten Oktober willst du ihn ausziehen! Das könnte dir so passen! Wenn ich nicht da bin!“ Solche oder ähnliche Diskussionen führen wir oft. Sie brachten nichts und waren auch nicht allzu ernst zu nehmen. Sie lenkten nur ab.
Zu Hause gingen wir dann friedlich miteinander ins Bett. Ich hatte es ihm angedroht: Freitagabend, Sonnabendfrüh, Sonnabendabend und Sonntagfrüh.

Donnerstag, 29. September 1988 - Sonnabend, 1. Oktober 1988

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