Die Hoschköppe / 111. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 111. Kapitel

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Freitag, 17. Februar 1989


Ein unbestimmtes, aber deswegen nicht weniger unangenehmes Völlegefühl ließ mich zu ungewohnter Zeit erwachen. Aus weiter Ferne näherte sich langsam und tastend, aber unaufhaltsam, wachsender Brechreiz. Ich wälzte meinen rebellierenden Körper von einer Seite auf die andere und wischte dabei die Schweißperlen von meiner Stirn ins Kopfkissen. Mein Magen übte sich noch in vornehmer Zurückhaltung, nicht aber die Blase, die mich mit Nachdruck aufzustehen zwang …
Vom Klo zurückkommend und um einiges erleichtert trat ich ans Fenster. Es hatte aufgehört zu regnen, nur der Nachtwind pfiff noch immer auf zwei Fingern, eine Technik, die mir zeit meines Lebens ein Geheimnis geblieben war. Der Mond, über den sich jetzt ein sternenklarer Himmel stülpte, schien mit voller Breitseite auf die alte knorrige Euleneiche im weiten Innenhof und in unser kleines Zimmer. Es war das gleiche funzlige Licht, welches die alten Pinsler inspirierte, es mittels ihrer alten Pinsel in alte funzlige Schinken zu verwandeln. Nur hier gab es weit weniger Romantiksoße zum Übergießen. Gegenüber war nur ein einziges Kinderzimmerfenster (Jugendzimmerfenster) erleuchtet. Ich sah auf die Uhr: Es war ein Uhr fünfzehn.
Im Bett versuchte ich wieder einzuschlafen, aber ohne Erfolg. Meine Gedanken irrten zwischen vielen kleineren und größeren Bildern hin und her, die alle in einer endlosen Galerie nebeneinander hingen. Sie konnten sich nicht auf ein bestimmtes konzentrieren, denn immer wieder mischte sich der rebellische Bauch ein. Eine Weile lag ich mit offenen Augen da und starrte an die Decke. Von Zeit zu Zeit trieb der Wind irgendwas an die Scheiben. Ich sprang aus dem Bett und eilte erneut ins Bad, trat danach abermals ans Fenster und schob die Gardine etwas beiseite, um besser sehen zu können. Draußen war nur in den Zweigen Bewegung, die wegen der ungewöhnlichen Milde bereits zu grünen angefangen hatten. Am Tage hatte es sich aber abgekühlt. Ich wurde sogar von einem heftigen Schneetreiben überrascht, als ich nach der Arbeit von der S-Bahn nach Hause kam. Noch immer lagen von dem Schnee klägliche Reste im Rasen. Wir müssen uns nicht beklagen, denn es ist erst Mitte Februar.
Nachdem ich längst wieder im Bett lag und mein Bauch mehrmals tüchtig Dampf abgelassen hatte, rührte sich auch Jochen. Er gab irgendwelche stöhnenden Äußerungen von sich, die darauf schließen ließen, dass auch er sich in ähnlicher Bedrängnis befand. Und tatsächlich, er ging den gleichen beschwerlichen Weg wie ich. Als er wieder ins Zimmer kam, fragte er, ob er das Fenster ein wenig öffnen dürfe, denn wir hatten es beim Zubettgehen des Windes wegen, der den Regen ins Zimmer getrieben und an der Gardine gerissen hatte, geschlossen gelassen. Gegen frische Luft wollte ich nichts einwenden. Vielleicht hatte ich in Ermangelung dessen nicht wieder einschlafen können.
„Siehst du nun endlich ein, dass auch du nicht richtig schlafen kannst, wenn der Vollmond scheint!“, sagte Jochen. Auch er war einen Augenblick am Fenster stehen geblieben. „Bei Thomas brennt noch Licht“, meinte er nach einer Weile. „… und es ist jetzt viertel drei!“ Er kroch wieder unter seine Decke und ließ den Wind durchs Zimmer wirbeln.
„Ja, ich habe es gesehen“, antwortete ich. „Wahrscheinlich kann ich deswegen nicht wieder einschlafen.“
Zusammen mit seiner Mutter, die gestern zu Jochens Geburtstag gekommen war, hatten wir noch am Abend darüber diskutiert, welchen Einfluss der Mond auf den Schlaf ausübe. Es läge in ihrer Familie, vielleicht seit Generationen schon, meinte sie, dass sie und auch Jochen bei Vollmond nicht schlafen können. Ich wollte mich nicht so ohne Weiteres davon überzeugen lassen, dass der gute alte Mond noch eine andere Wirkung habe als nachts zu scheinen. Außer vielleicht noch solche Kleinigkeiten wie Ebbe und Flut. Ich hielt das ganze Getue für eine Art Marotte. Der Mond sei doch schließlich jede Nacht da, meinte ich, was mache da der Unterschied schon aus, ob er gänzlich voll oder nur halb besoffen sei. Richtige Argumente, die mich hätten überzeugen können, hatte weder die Mutter noch der Sohn. Sie sprachen lediglich aus Erfahrung.
Weitere Geburtstagsgäste hatte Jochen diesmal nicht. Ein wenig Post war gekommen und zwei Anrufe: einer von Nati und der andere von einer Tante. Seine Mutter rief, die kostengünstige Gelegenheit nutzend, in Boden an, um mit Kati zu sprechen, die dann trotz ihrer Erkältung die Kraft hatte, auch noch mit Jochen zu sprechen.
Das Telefon ist schon eine feine Sache. Wenn man eines hat. Zumal wenn man es ohne eigenes Zutun, sozusagen aus Versehen kriegen konnte. Ich warte auf meines nun schon zwölf Jahre. Mit steigendem Optimismus. Im vergangenen Jahr erschreckte mich ein Brief vom Fernmeldeamt. Aber die hatten nur ihre Daten aktualisieren wollen. Sie teilten mir ferner mit, höflich und bestimmt, ich möchte doch möglichst von eventuell beabsichtigten Nachfragen Abstand nehmen, aber nicht im Warten nachlassen.
Als Jochen glaubte, das Zimmer sei genug mit frischer Luft bevorratet, stand er auf und schloss das Fenster. Da es im Zimmer ziemlich frisch geworden war, hatte er erstaunlich flinke Hufe. Ich blieb dabei, mich hin und her zu drehen. Jochen hatte dagegen keine Mühe beim Einschlafen.
Ich richtete mich etwas auf und sah hinaus. „Jetzt ist das Licht aus“, sagte ich mehr zu mir selbst, denn Jochen hörte mich nicht mehr, und schaltete kurz unser Licht an. „Es ist halb drei.“ Kurz danach schlief auch ich ein.
Als mich das Radio heute Morgen weckte, konnte ich mich an keinen Traum erinnern, und während ich mich im Bad zurechtmachte, brühte mir Jochen einen Kaffee auf. Er legte sich anschließend wieder hin, denn er brauchte ja erst später raus.
Vor dem Haus wartete der Wind, der mich zur S-Bahn begleitete. Er hatte vom Regen nicht viel übrig gelassen. Nur in einigen Vertiefungen war noch etwas Wasser stehen geblieben. Die klare Nacht hatte eine dünne Eisschicht draufgelegt.


Donnerstag, 2. Februar 1989 - Montag, 27. Februar 1989

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