Die Hoschköppe / 88. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 88. Kapitel

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Freitag, 25. November 1988


Ich ging von der S-Bahn kommend in die große Kaufhalle, um den Wunschzettel abzuarbeiten, den mir Jochen mitgegeben hatte. Von da aus hatte ich zu mir gehen wollen, weil auch dort noch einiges zu erledigen war. Jochen sollte deswegen damit rechnen, dass ich erst gegen halb sechs zu ihm kommen würde. Schwer schleppend verließ ich die Kaufhalle und wählte schnell entschlossen den kürzeren Weg, um die Sachen vorher bei Jochen abzuladen. Um halb fünf stand ich bei ihm im Korridor, wo sich unter der Flurgarderobe gelbe Schuhe vom Getreten- und am Garderobenhaken Thomas‘ Jacke vom Geschlagenwerden erholten. Scheiße, dachte ich. Dass Thomas schon so früh kommen wollte, hatte Jochen mir nicht gesagt. Hinterher meinte er, es auch nicht gewusst zu haben. Unschlüssig stand ich da. Am liebsten hätte ich den Beutel und das Netz vor den Kühlschrank gestellt und wäre abgehauen. Aber dann hätte ich mir wieder die Frage gefallen lassen müssen, was mit mir los ist, zumal sie mich bestimmt gehört hatten. Ich öffnete also die Zimmertür, warf ein allgemeines „Hallo!“ in den Raum und stellte die Sachen in der Küche ab. Thomas saß in der vorderen Couchecke, die Beine auf den Sessel gelegt, und sah einen Film, während Jochen auf der Liege lag und in einer Zeitung las. Ohne weiter Notiz von ihnen zu nehmen, denn ich selber war auch ohne jegliche Wirkung geblieben, ging ich zurück in den Korridor, um mich langsam auszuziehen, und dann ins Bad, mir gründlich die Hände zu waschen. Dann erst setzte ich mich auf den Stuhl zwischen ihnen. Als der Film um viertel sechs zu Ende war, verschwand Thomas sang- und klanglos, nur sein Aroma blieb in der Luft hängen. Jochen zog sich aus und ging in die Wanne. Ich nahm mir mein Buch vor und versuchte, zu lesen. Als Jochen fertig war, kam er mit der Salbentube. Die folgende Prozedur nötigte mich, mir noch einmal die Hände zu waschen. Ich war gerade damit fertig, als ich aus dem Treppenhaus heraus junge Stimmen vernahm. Durch den Spion sah ich zwei junge Burschen die Treppe hochkommen und sich angeregt unterhalten. Der Letzte von den beiden interessierte sich auffallend für Jochens Tür, denn selbst beim Höhersteigen konnte er seinen Blick nicht davon abwenden. Da sich diese keineswegs von den Nachbartüren unterscheidet, musste der Erste, der im Haus wohnt, seinem Kumpel erzählt haben, dass hier zwei Schwule wohnen. Aber das alleine wäre ja noch nichts Schlechtes.


Donnerstag, 24. November 1988 - Sonntag, 27. November 1988, 1. Advent

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