Die Hoschköppe / 89. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 89. Kapitel

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Sonntag, 27. November 1988, 1. Advent


Schon am Freitag hatte Jochen angedroht, am Sonnabendvormittag mit mir in die Stadt fahren zu wollen, um nach Weihnachtsgeschenken Ausschau zu halten. Leider war es nicht nur bei einer leeren Drohung geblieben. Also stürzten wir uns gestern mit dem nötigen Kämpfergeist ins Schlachtengetümmel, wo wir auf fette Beute hofften und einen leuchtenden Siegerkranz erfechten wollten. Aber aus beidem wurde nichts. Unsere ganze Ausbeute, die wir von unserer Kaperfahrt mit nach Hause brachten, bestand aus einem Hemd und drei Schallplatten. Im Bücher-A&V war mir ein Titel von Flaubert aufgefallen, den ich in meiner Kartei zu haben meinte, war mir aber nicht sicher: Bouvard und Pecuchet. Später sah ich in der Kartei nach und fand meine Vermutung bestätigt. Ich beschloss, am Wochenanfang noch einmal hinzufahren. Vielleicht würde das Buch dann noch da sein. Schon lange war ich auf der Suche nach einem ganz bestimmten Titel: In der Hand des Engels. Wir hatten dieses Buch in Prag gekauft und später auf Nimmerwiedersehen verliehen.
Am Nachmittag waren wir dann für drei Stunden in der Sauna, wo sich für die Vorweihnachtszeit allerhand hübsches Volk versammelt hatte. Dass es aber nicht übervoll war, hing wohl mit der Eröffnung des Weihnachtsmarktes zusammen.
Hol‘s der Teufel, ich meine jetzt nicht Thomas, aber ich kann mich weder daran erinnern, ob es nach der Sauna zu Hause beim Stolle essen oder schon am Freitagabend war, noch daran, was den Anstoß dazu gegeben hatte: Jochen haute plötzlich heraus, Thomas habe ihm erzählt, dass er und ich schon miteinander geschlafen hätten. Wieder so ein gottverdammter Bluff, da war ich mir ganz sicher. Wenn ich nicht höllisch aufpasse, rassel ich eines schönen Tages mächtig in die Scheiße. Ich bin mir vollkommen sicher, dass Thomas nichts dergleichen gesagt hatte. Jochen schaffte es aber immerhin, mich wieder zu verunsichern. Wie viel weiß er wirklich, frage ich mich.
Abends bauten wir beide recht frühzeitig unser Nest, denn wir mussten dringend den Überdruck ablassen, der sich am frühen Nachmittag in unseren Kesseln aufgestaut hatte. Aber dazu kam es nicht, denn wir hatten einen fatalen Fehler gemacht. Kaum war der Fernseher eingeschaltet und die ersten Bilder der vierten Cookschen Reise flatterten über den Bildschirm, da fielen auch schon Jochens Jalousien. Der unsichtbare, aber mächtige Dschinn aus dem Apparat hatte ihn von hinten gepackt, mit Müdigkeit geschlagen und mit einem einzigen gezielten Ruck unter die Bettdecke gezerrt, wo ich ihn erst heute Morgen mithilfe meiner Wünschelrute aufspüren konnte. Wir bestellten beim Frühstücksservice weich gekochte Eier und feierten damit unser Wiederfinden.


Freitag, 25. November 1988 - Montag, 28. November 1988

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