Die Hoschköppe / 90. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 90. Kapitel

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Montag, 28. November 1988


Trotz des miserablen Wetters, es regnete stürmisch, zwang ich mich dazu, nach der Arbeit zum Buchladen am Neuen Markt zu gehen. Es war nicht umsonst: Das Buch war noch da. Gleich daneben stand eines von Andre Gide, das mir am Sonnabend gar nicht aufgefallen war und ich natürlich auch mitnahm. Zusammen kosteten die Bücher siebenundzwanzig Mark. Mehr, als hätte ich sie neu gekauft.
Der Schirm, dessen Griff ich verbissen umklammerte, war mehr im Wege, als dass er nützte. Er versperrte mir nur die Sicht und eckte bei einigen Passanten an, weil der Wind ihn hin und her und mitunter bedrohlich in die Höhe riss, sodass ich befürchtete, wie Mary Poppins über die Dächer der Stadt davon zu segeln. Ich hastete an den dicht gedrängten Menschen vorüber, die die Buden des Weihnachtsmarktes umstanden. Es roch nach geräuchertem Fisch, Glühwein, Rauchwurst oder Schmalzgebäck. An den Karussells flackerten bunte Lichter. Ich verspürte keine Lust, mich bei dem Wetter irgendwo anzustellen. Es hätte sich ohnehin nicht gelohnt. Dafür ließ ich mich in den Boulevard treiben und kehrte dort in den Plattenladen ein, wo ich die LP von Edward Elgar kaufte, die Jochen bereits am Sonnabend in den Händen gehabt hatte, sich aber zu einem Kauf nicht entschließen konnte.
An der Straßenbahnhaltestelle stand Schwester Renate und wartete unter ihrem Schirm. Ich war schon an ihr vorbei, als ich sie bemerkte. Ich musste zurück, um sie zu begrüßen, sonst hätte sie es mir übel genommen. Dabei träumte sie vor sich hin und hatte mich noch gar nicht gesehen. Nun war es zu spät. Wir fuhren gemeinsam zum Bahnhof, wo ich mich unter dem Vorwand, noch Fahrscheine kaufen zu müssen, von ihr verabschiedete. Vergebens suchte ich nach einem schönen Platz in der S-Bahn. Es war trostlos. Da hätte ich auch bei Schwester Renate bleiben können.
Weil es auf Weihnachten zugeht, gab es in der großen Kaufhalle Bananen. Bananen - wie schnell doch das Jahr vergangen war! Das Schwanzende der Boa, die deswegen vor dem Gemüsestand auf Lauer lag, wedelte mir bereits am Eingang entgegen. Dort wartete ich geduldig auf einen freiwerdenden Einkaufswagen, den ich dann unter Protest der Wartenden am Schlangenleib entlang schob. Vor dem Obst- und Gemüsestand machte ich eine Pause und betrachtete den Haufen gelber Würste, der auf dem Tresen lag. Eine misslaunige Verkäuferin dahinter entnahm den großen Pappkartons, die ihr sichtlich im Wege waren, weitere Früchte und wog sie neidisch in Zweikiloportionen ab. Eine zweite Verkäuferin reichte jedem inzwischen nervös gewordenen Kunden seine Zuteilung über den Tisch. Die dritte Verkäuferin war vor dem Tresen postiert, um aufzupassen, dass ich mich nicht eigenmächtig bediente. Ich rollte meinen Wagen, dessen alle vier Räder sich ausnahmsweise gleich gut drehten, zum Brotregal und suchte mir dort die größte Hälfte eines frischen Mischbrotes heraus. Dem Salatbüfett entnahm ich zwei kleine Plastebecher unterschiedlichen Inhalts. An der Kasse war es angenehm leer.
Jochen ahnte sofort, welche LP in der Tüte steckte und gestand mir, dass er sich die in den nächsten Tagen hätte auch noch kaufen wollen. Um sieben Uhr wurde sie feierlich auf den Plattenteller gelegt. Ich schloss beide Augen gleichzeitig und lauschte der Violine von Igor Oistrach, während Jochen sich seinem Buch widmete, was er nicht besonders intensiv tat, da auch seine Augen zugeklappt waren. Ich lag auf der Liege und sank immer tiefer in die bezaubernde Musik ein. Oistrach spielte zusammen mit der Moskauer Philharmonie unter Leitung von Valentin Shuk das Konzert für Violine und Orchester h-moll op. 61 von Edward Elgar (1857 - 1934). Auf der Plattenhülle steht „DMM“ und darunter „Direct Metal Mastering Digital Recording“. Das sollte den Musikliebhabern einen ungeheuren Qualitätszuwachs versprechen, wofür die natürlich zahlen mussten: fünfzehn Mark sechzig. Aber was nutzen „DMM“ und die teure HiFi-Anlage, wenn auf der Platte neben der Musik auch verschütteter Kaffeegrund und diverse Kekskrümel eingepresst sind.
Als ich nach einer friedlichen Stunde der Musik nach Hause gehen wollte, wäre beinahe ein ernsthafter Ehestreit ausgebrochen. Jochen hatte mir wieder viel Spaß gewünscht und gemeint, ich solle mich beeilen, denn man warte bestimmt schon. Und: Er werde kontrollieren kommen! Und so weiter. Also alles wie gehabt!
Ich, innerlich vor Zorn bebend, bat ihn in aller Ruhe, soweit mir das möglich war: „Solltest du uns jemals erwischen, dann zieh dich mindestens so diskret zurück, wie ich es immer tue. Auf so einen Zirkus, wie du ihn veranstaltet hast, werde ich nicht noch einmal hereinfallen. Jedenfalls ist dann unsere Freundschaft aus, ein für alle Mal.“ Ich fragte ihn: „Was hättest du getan, wenn ich so ein Fass aufgemacht hätte, als du mit Eike rumgebumst hast?“
Daraufhin umarmte mich Jochen und versuchte, mir mit einem Kuss den Mund zu verbieten.
Ich ging und weißte meine Korridordecke.


Sonntag, 27. November 1988 - Mittwoch, 30. November 1988

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