Die Hoschköppe / 91. Kapitel - Abstrakte Irrwege

Direkt zum Seiteninhalt

Die Hoschköppe / 91. Kapitel

Texte > Die Hoschköppe

Mittwoch, 30. November 1988


Es ist immer noch sehr stürmisch und kalt, aber kann man das dem letzten Tag des Novembers verübeln?
Obwohl der ganze Abend einen merkwürdigen Verlauf nahm, muss man sich ihn nicht merken. Zu vieles passte wieder wie ein Puzzle ineinander: wie arrangiert! Es war halb sieben, ich schälte uns gerade eine Apfelsine ab, als es klingelte. Das konnte nur Thomas sein. Jochen erzählte mir hinterher, dass Thomas gleich beim Eintreten gefragt hatte, ob Raymond jetzt bei uns oder irgendwann vorher hier gewesen sei. Im Nachhinein kommt mir das wie eine Ankündigung vor. Jochen goss jedem einen Zitronenflip ein. Thomas, der dieses Getränk in der Vergangenheit stets mit hohem Genuss zu sich genommen hatte, zeigte sich heute etwas pikiert und veranlasst, sich demonstrativ die kleine Nase zuzuhalten, als würde ihm sonst vom Gestank, der seinem Glas entstieg, kotzübel werden. Nichtsdestotrotz setzte er das Glas an die Lippen und kippte den Inhalt, ohne zu zögern, in sich hinein. Dann fragte er Jochen: „Hast du dich nicht gewundert, dass ich am Wochenende nicht rüber gekommen bin?“
„Nein. Du wolltest doch auf Kirstin warten.“
„Die war aber nicht da. Das ganze Wochenende nicht“, klagte Thomas. „Ich hab ihr deswegen am Sonntagabend einen Brief geschrieben.“
Daran schloss sich ein interessanter Disput zwischen den beiden über die Länge von Thomas‘ Haaren an. Er hatte sie sich noch immer nicht schneiden lassen. Vor lauter Langeweile war sicher keine Zeit dafür gewesen. Die Maschine hatte er schon lange genug.
„Warum reagierst du nicht, wenn ich mich am Fenster zeige? Und auf Blinkzeichen gibst du wohl auch nichts mehr?“, beschwerte sich Jochen bei ihm.
„Das stimmt nicht, ich habe immer rüber gesehen und gestern Abend habe ich mit dem Blitzlicht meines Vaters mindestens zwanzigmal rüber geblitzt, aber das hast du ja auch nicht gesehen“, wies Thomas den Vorwurf kategorisch zurück.
Mir war aber auch nichts aufgefallen. Mich wurmte, dass Thomas die ganze Zeit wieder nur mit Jochen sprach. Ich war kalte Luft für ihn.
Thomas war ungefähr seit einer Stunde bei uns, als endlich Raymond die Bühne betrat. Irgendwie hatte ich es gleich gewusst, dass er hinten wartet, als es in den Kulissen klingelte. Raymond der Dunkle war gekommen, um sich auch einmal die Haarschneidemaschine auszuborgen. Angeblich. Davon abgesehen sah er heute Abend richtig toll aus. Seine Augen glitzerten unter den wuscheligen Augenbrauen wie seine Glitzersteine. Der Maskenbildner hatte in der Garderobe ganze Arbeit geleistet. Als Erstes erzählte er, dass er am Wochenende bei Kirstin in Dirkow gewesen sei. Aber nicht allein, setzte er rasch hinzu, als brauchte er ein Alibi. Mit unverhohlener Schadenfreude gestand er dann sein Wissen darüber ein, dass sie eigentlich zu Thomas gewollt habe. Weil sie es dem versprochen hatte.
Als Raymond seinen Text mit aller ihm zur Verfügung stehenden Theatralik von sich gegeben hatte, und das scheint der eigentliche Zweck seines Auftrittes gewesen zu sein, stand Thomas auf, ihn an Gespreiztheit noch überbietend, und ging von der Bühne ab. Seine und Raymonds Anwesenheit hatte sich kaum fünf Minuten überschnitten. Wir glaubten zuerst, Thomas wolle nur eben für Raymond die Maschine holen. Aber von diesem Aberglauben befreite er uns: „Die soll er sich nachher gefälligst selber holen, wenn er sie denn unbedingt haben muss!“ Sprach’s und verschwand in den Kulissen.
Thomas musste lange auf Raymond warten, denn der war nicht vor halb zehn von unserer Seite gewichen. Als kurz danach auch ich ging, stimmte Jochen dem zu: „Genauso werden sich die beiden den Verlauf des Abends wohl ausgedacht haben.“
„Warum Thomas so schnell gegangen ist, werde ich sicher morgen von ihm erfahren, denn dann will er wiederkommen“, hoffte Jochen.
„Glaubst du daran?“, fragte ich.
Aber was war nun der tiefere Sinn dieses Abends, was sollte er uns oder mir sagen? Ich entwarf auf meinem Weg nach Hause mehrere denkbare Thesen:
   1. Thomas bemühte sich wieder um Kirstin, dem aber Raymond im Wege steht.
   2. Thomas hat nichts mehr mit Kirstin.
   3. Thomas will den Kontakt zu Jochen (zu uns?) nicht abreißen lassen.
   4. Thomas hat nichts (mehr) mit mir.
   5. Thomas meidet uns (mich), weil auch hier Raymond im Wege ist.
   6. Und so weiter.
Soll ich also mein Hoffen draußen zwischen den Sträuchern vergraben? Vielleicht wird es dort im Frühjahr wieder neu ausschlagen?


Montag, 28. November 1988 - Sonntag, 4. Dezember 1988, 2. Advent

zurück zur Kapitelübersicht

Zurück zum Seiteninhalt