Die Hoschköppe / 92. Kapitel - Abstrakte Irrwege

Direkt zum Seiteninhalt

Die Hoschköppe / 92. Kapitel

Texte > Die Hoschköppe

Sonntag, 4. Dezember 1988, 2. Advent


Heute Morgen schneite es erneut. Mit großer Heftigkeit strebten die Schneeflocken in dichten Wolken dem grauen Land zu. Die Pracht währte aber nur kurze Zeit, dann regnete es. Der Himmel hellte sich auf, um sich erneut verdunkeln zu können.
Ich krempelte mir die Hemdsärmel runter, denn ich war gerade mit dem Abwaschen des Mittagsgeschirrs fertig geworden, und ging zu Jochen, um mir von ihm die Manschetten zuknöpfen zu lassen.
„Wenn ich dich nicht hätte, Mäuschen!“, meinte Jochen anerkennend.
„Ja, dann hättest du niemanden, mit dem du meckern könntest.“
„Mäuschen“, sagte Jochen, „habe ich schon jemals mit dir gemeckert?“
„Ich kann mich jedenfalls an keinen Tag erinnern, an dem du das versäumt hättest.“ Ich schmunzelte und erkundigte mich, ob er Thomas nach dessen Wiederkommen befragt habe.
„Heute wollte er wiederkommen“, antwortete Jochen.
„Na, dann wird es Zeit, dass ich mich aus dem Staube mache“, sagte ich und wurde hektisch.
„Ist es denn so schlimm, wenn er hier ist?“, fragte Jochen und sah mich von der Seite an.
Ich sah aus dem Fenster und sagte: „Noch schlimmer! Ich kann ihn nicht einmal ansehen.“
„Dann bekommst du schon Herzklopfen?“, vermutete Jochen.
„Ach, Herzklopfen habe ich die ganze Zeit, in der er hier ist. … Und wenn ich dann noch sehe, wie du aus dir rausgehst, wie du aufblühst, wie deine Augen funkeln! Das halte ich nicht aus.“
„Deine Augen funkeln aber auch“, unterstrich Jochen.
Ich ging ins Bad, wo meine Schuhe in der Badewanne standen. Sie waren vom Schneematsch äußerlich ziemlich nass geworden. Jetzt waren sie es auch innen! Mir war nämlich entgangen, dass die darüber hängende Wäsche noch tropfte. Ich beeilte mich mit dem Anziehen, denn es war schon dreiviertel eins. Gestern war Thomas um ein Uhr gekommen. Auch gestern hatte ich bereits weg sein wollen. Thomas war mir aber zuvorgekommen. Als ich im Korridor dabei war, mir den Schal umzulegen und den Anorak anzuziehen, kam Jochen erstaunt dazu. Er hatte nicht geglaubt, dass ich tatsächlich gehen wollte.
„Wenn er nicht kommt, dann kannst du mich zum Tee abholen. Wenn du ausgeschlafen hast. Und wenn er kommt, dann holst du mich ab, wenn er wieder weg ist. Auf alle Fälle komme ich zum Abendbrot“, sagte ich zu ihm.
„Wenn du gehst, dann tue ich noch was ganz anderes“, drohte Jochen. „Und du willst auch nicht den Film um dreizehn Uhr fünfundvierzig sehen?“, fragte er.
„Den kann ich mir auch zu Hause ansehen.“
„Und was willst du sonst noch tun zu Hause?“
„Ich habe genug zu tun“, beruhigte ich ihn und verschwand.
Soll ich ein paar Worte zum Freitag und Sonnabend nachholen? Vielleicht der Vollständigkeit halber?
Ich beginne also mit Freitag.
Jochen konnte den Krankenbesuch bei seiner Mutter kürzer als veranschlagt gestalten, denn da sie bereits alles Nötige im Haus hatte, erübrigte sich das Einkaufen. Er war schon wieder zurück, als ich von der Arbeit kam. Es stand dem also nichts im Wege, nach dem Abendessen gemeinsam in die Sauna zu fahren. Dort waren die Schlüssel für die Garderobenfächer natürlich alle ausverkauft, wir mussten warten. Allerdings konnte das keine Ewigkeit dauern, denn es war nur noch ein Gast vor uns dran. Durch die schwarze Pendeltür kam ein geiles Stück in den Kassenvorraum herein und setzte sich neben mich. Es war genau der Bengel, den ich vor Augen hatte, als ich vor wenigen Stunden das Gedicht „Unter der Dusche“ entwarf. Zufälle gib es! Nach ihm war dann der Oberschüler aus Evershagen gekommen, der im Vorbeigehen Jochen grüßte. Er hatte diesmal einen Freund dabei, der auch nicht übel aussah. Er machte einen sehr lustigen und aufgeweckten, aber auch zugleich jugendlich-naiven Eindruck.
In der Sauna zählte ich mindestens neun Schwule, woraufhin Jochen meinte, dass wir den Arbeitskreis auch ebenso gut hierher verlegen könnten.
Am Sonnabend war Jochen gleich nach dem Frühstück mit dem Bus nach Lütten Klein gefahren. Er wollte dort ins Kaufhaus. Wegen der Glätte auf den Straßen hatte er das Rad sicherheitshalber im Keller gelassen. Ich schob inzwischen ein schönes Stück Kaßler in die Bratenröhre und hoffte, dass dadurch auch die kalte Bude etwas wärmer würde. Mein viel zu wenig gerühmter Pudding mit Sahnegeschmack stand seit Kurzem zum Abkühlen auf dem Tisch. Dann machte ich mich über die große Tüte mit Rosenkohl zu zwei Mark achtzehn her. Ich liebe Rosenkohl. Er, der Rosenkohl, stand bereits fertig eingetütet in der Kaufhalle und machte einen so verlockenden Eindruck, jedenfalls verlockender als die tropfenden Beutel mit Sauerkraut, dass ich nicht umhin konnte, eine Tüte davon mitzunehmen. Es waren noch zwei weitere, ebenso wertvolle, aber für die menschliche Ernährung weniger gut geeignete Gemüsesorten im Angebot. Ich hatte nicht allzu viel geistige Mühe verwenden müssen, um mich für diese schönen Kohlröschen zu entscheiden, die zu putzen mir richtigen Spaß bereiten würden. Ich freute mich schon auf den herrlichen Duft, der dem Topf entsteigen würde, wenn die Röschen darin ihrem Verzehr entgegen dünsteten. Aber der Spaß und die Vorfreude ließen schnell nach, wie so oft, wenn erst einmal die äußeren Hüllen gefallen sind. Hier waren sie auf die paar Röschen beschränkt, die in der Tüte obenauf lagen. Alles, was darunter verborgen lag, verursachte nur Ärger und einen ganzen Fünflitereimer voll Schweinefutter. Die Tüte war wie eine von Eddis vielen Ideen: Sie sah zwar sehr gut aus, enthielt aber nur für andere einen Haufen Arbeit. Ich hätte das Sauerkraut nehmen sollen, das wäre uns auch bekommen. Ich war gerade mit dem Rosenkohl fertig, als Jochen durchgefroren wieder nach Hause kam.
Es war kurz nach dem Kaßler mit Rosenkohl - ich war noch am Überlegen, ob es günstiger wäre, sich mit Jochen auf die Liege zu begeben, oder ob es besser sei, gleich nach Hause zu gehen, für den Fall, dass Thomas käme - als es klingelte. Ich konnte gerade noch: „So ein Scheiß, wäre ich bloß gleich gegangen“, sagen, mich wieder an den Tisch zurücksetzen und so tun, als löse ich das Wochenendbeilagen-Kreuzworträtsel und als wäre nichts gewesen.
Als Thomas zu mir kam, aber noch bevor er mir die Hand gab - er gab mir, beziehungsweise uns, jetzt immer die Hand: eine Förmlichkeit, auf die er früher gern verzichtet hatte - kreischte er: „Iiii! Was macht der denn da? Kreuzworträtsel! Äh, das könnt ich nicht.“
Nachdem sich Thomas beruhigt und in einen Sessel hatte fallen lassen, erklärte ich, dass sich mein Ehrgeiz bei der Lösung solcher Probleme auch in sehr engen Grenzen halte, zumal wenn ich nicht über die befriedigende Beantwortung der ersten drei Fragen hinauskomme. Ich drehte und rollte den Kugelschreiber zwischen Daumen und Zeigefinger als wäre der ein übergroßer Nasenstein und stierte mit bisher nicht gekannter Verbissenheit auf dieses Rätsel. In einigen wenigen Feldern war es mir bereits mit Glück gelungen, Buchstaben einzutragen. Jochen, der an einer bösen und krankhaften, zu unterschiedlichen Reaktionen führenden Überempfindlichkeit gegen einen stillsitzenden Friedel litt, konnte nicht ahnen, dass er mir mit seiner spitzen Bemerkung: „Die Saunatücher sind auch noch immer nicht gespült!“, einen großen Gefallen erwies. Ich schlurfte befreit ins Bad und spülte. Sehr gründlich! Aber wie lange konnte man schon mit dem Spülen von vier Handtüchern zubringen? Jedenfalls nicht lange genug. Ich ging in die Küche und begann, Apfelsinen zu schälen und zu filetieren. Für einen Obstsalat. Daran hoffte ich, mich eine Weile festhalten zu können. Plötzlich standen Jochen und Thomas neben mir und waren ganz versessen darauf, zu helfen. Jochen weichte fünf ausgesuchte Rosinen in Rum ein und Thomas bastelte schmucke Apfelscheiben. Ich bat Jochen, er möge bitte in die Josef-Schares-Straße gehen, um die Bananen aus dem Kühlschrank zu holen. Ohne Widerrede machte er sich auf den Weg. Nun stand ich unverhofft mit Thomas allein in der Küche. Nach langer Zeit wieder alleine mit ihm! Verbissen kämpfte ich mit den Apfelsinen, die sich als übertrieben glitschig erwiesen, waren sie ihrer orangenen Schale beraubt. Mit einem scharfen Messer schnitt ich ihnen die Saft triefenden Filets aus ihrer nackten Seite. Vor mir lag Thomas auf dem Seziertisch, dem ich das Fell von den Rippen schälte. In Wirklichkeit stand er rechts neben mir und schwieg, keinen Schmerz fühlend. Ich brachte nicht den Mut auf, ihn anzusehen.
Plötzlich sagte Thomas: „Du bist in letzter Zeit so anders.“
Darauf hätte ich gewiss vieles antworten können. Wenn auch nichts, was sich Thomas nicht selbst hätte denken können. Vielleicht hätte ich mich erklären sollen, als nur diesen einen nichtssagenden Satz von mir zu geben, den ich mir dann von den Lippen quälte. Vielleicht hatte Thomas gehofft und nur darauf gewartet, dass ich den ersten Schritt tat, einen Schritt in seine Richtung. Ich weiß es nicht. Ich sagte nur, und das mit einem Kloß im Hals: „Ich bemühe mich jedenfalls, nicht anders zu sein als sonst.“ Was natürlich eine hundsgemeine Lüge war, und so musste Thomas diese Antwort wohl auch aufgefasst haben.
Mehr Worte waren nicht gefallen, die Chance vertan. Obwohl wir so eng beieinanderstanden, dass wir uns beinahe berührt hätten, war zwischen uns doch so viel leerer Raum, dass er nicht mehr zu überbrücken war. Dabei wäre es für uns ein Leichtes gewesen, uns vom Boden abzustoßen und aufeinander zuzuschweben. Aber wir waren ja bereits abgestürzt. Und obwohl sich Jochen ungewöhnlich viel Zeit gelassen hatte für den kurzen Weg, war sie doch nicht ausreichend für wenigstens einen kurzen Blickwechsel, der vieles sagen und alles hätte erklären können.
Nachdem die Bananen eingetroffen waren, schnipselte ich zwei davon scheibchenweise in die schon fast volle Glasschale, die dann mit meiner Hilfe in den Kühlschrank wanderte. Aus der Anbauwand wurde das gute Service hervorgeholt und aufgedeckt. Dem zweiten Adventswochenende angemessen, sollte der Tisch etwas Festliches bekommen. Zwei brennende Kerzen im Hintergrund, ein paar Zweige nadelndes Tannengrün und Turnen im Fernsehen sorgten angemessen für eine vorweihnachtliche Stimmung. Dass die gute Teekanne beim Eingießen mehr unter sich als in die Tasse machte und der sogenannte Butterstollen aus der Kaufhalle furztrocken war, tat dem keinen Abbruch. Und beinahe wäre alles okay gewesen. Dass der Fernseher lief, gab mir die Möglichkeit, dort hineinzusehen, auch wenn ich eigentlich Sportsendungen grundehrlich hasse. Wenn wenigstens Jungs geturnt hätten.
Fünf lange Stunden war ich bemüht gewesen, Thomas zu ignorieren. Das heißt, ihn als einen meinem Herzen Nahestehenden zu ignorieren, ihn als einen solchen nicht zur Kenntnis zu nehmen. Das ging natürlich über meine Kräfte. Je mehr ich mich dazu zwang, von ihm loszukommen, weil Thomas offensichtlich darauf bestand, dass ich von ihn loskomme, und in Gedanken den Abgrund zwischen uns vertiefte, der sich ohnehin schon aufgetan hatte, desto mehr beschäftigte sich mein ganzes Innere mit ihm und desto schneller ging mein Herz und mein Atem. Jede einzelne Faser meines Körpers verzehrte sich, unbeeinflussbar vom Willen, nach ihm. Jede Berührung, die ich durch Jochen erfuhr, und sei es nur im Vorübergehen ein Streicheln im Genick oder ein flüchtiger Händedruck auf meinen Schenkel, was ich sonst als schön und zärtlich empfinde und mir wünsche, war mir in Thomas‘ Beisein zutiefst zuwider geworden und auch noch eine gewisse Zeit nach seinem Gehen verweigerte ich mich jeder einschmeichelnden Berührung. Da Jochen wusste, wie sehr ich litt, mochte ich seine Berührungen nicht als Trostspenden empfinden, sondern witterte darin nur die Perversität, mich damit obendrein verhöhnen zu wollen. Ich bat ihn, er möge eine Platte auflegen, bei der ich die Augen schließen und träumen könne, und mich eine Weile in Ruhe lassen. Als die ersten Klänge ertönten, zog sich Jochen mit einem Buch in die hinterste Couchecke zurück.
Den Vormittag des heutigen zweiten Advents verbrachte ich bei mir zu Hause, denn ich war schon wieder mit der Treppe dran, wohin ich gleich nach dem Mittagessen, wie bereits gesagt, zurückkehrte. Eine Neuauflage des gestrigen Nachmittages wollte ich meiner Gesundheit ersparen. Ich setzte mich vor die Schreibmaschine und tippte einige Gedichte ins Reine. Um drei kam Jochen, an den ich gerade hatte denken müssen: Wenn Thomas nicht gekommen ist, dann wird er mich wohl jeden Moment abholen kommen.
„Ich habe noch jemanden mitgebracht“, sagte Jochen, „der steht draußen.“
Zuerst glaubte ich, dass Jochen nur scherze, und dann, dass das nicht wahr sein könne. Hatte er ihn tatsächlich mitgebracht. Das hatte er also mit seiner angedeuteten Drohung gemeint.
„Komm doch rein!“, rief Jochen in Richtung Korridor und an mich gewandt fragte er: „Wen schreibst du da?“
Da im Flur lange alles ruhig geblieben war, glaubte ich wieder an einen Scherz, aber dann trat Thomas leise und schüchtern ins Zimmer. Sie waren sich vor wenigen Minuten vor Jochens Haustür begegnet, als Jochen zu mir auf dem Weg war und Thomas zu Jochen wollte. Sie zogen sich aus und nahmen Platz. Thomas zog die Schreibmaschine zu sich herum, die auf dem Tisch stand und von der ich rasch alle beschriebenen Papiere fortgeräumt hatte, spannte einen Bogen in die Maschine und begann, wild drauflos zu hämmern. Ich hatte kein Interesse daran, dass Thomas etwas von dem zu lesen bekäme, was ich gerade getippt hatte. Jetzt jedenfalls noch nicht. Jochen kümmerten meine Gedichte kaum. Als Thomas mit dem Schreiben fertig war, gab er es Jochen, auf das der es wohlklingend vortrage.
Wegen der Kürze des Textes und seines sicher schwerwiegenden Inhalts, es scheint für Thomas der schwierige Tag der Selbstbenennung gewesen zu sein, darf ich ihn dem Leser nicht vorenthalten. Er hat folgenden Wortlaut:

HALLO,IHR IDIOTEN!
KDUNCMKI JU NK JCNHFZMKXHZ JNCHCDMJDNUSNCH KMCH LCMJFUMB
KCMJFUNVKBDHZ BCHGFJNKLMH JNCBHFBN NBHERNCJKIDLMCJU XBCGZEPLKSNFJCL
JFUZEOCNMDKI NVJ JUGHZSM?f tNVJDOAMMXN LCNJUFNXH LOMCNH NBCHZFUIO
MCNHFIDKEK DUNCJHFIOSMKCJ ?!CHHFUKOSKCNJF M?CHUZDLDJUUNV HD ZI
NXBBHDUHZUNCGFDKUDNN G?JFUZNVJDHUSLLONCMJ MKLXBSZ NXJUSKIF JNVJ

Wenn es auch auf den ersten Blick vielleicht nicht so scheinen mag, aber der Text ist in seiner Aussage sehr krass und deutlich. Mit knapperen Worten hätten sich die letzten Monate nicht zusammenfassen lassen.
„Wollen wir hier noch lange rum sitzen?“, fragte Thomas, als Jochen zum besseren Verständnis den Text zum zweiten Mal vorgelesen hatte.
„Fühlst du dich hier nicht wohl?“, fragte ich ihn daraufhin.
Um fünfzehn Uhr fünfundvierzig saßen wir drei bei Jochen um die beiden Kerzen herum und tranken Tee und aßen trockenen Stollen. Im Anschluss daran versuchte jeder Teilnehmer, von seinem Platz aus und ohne sich vorzubeugen, die Kerzen auszupusten. Thomas schaffte es zweimal. Als Kleinster schien er am meisten heiße Luft von sich geben zu können.
Nun saßen wir uns wieder gegenüber, war doch das eingetreten, was ich so gern vermieden hätte. Ich setzte mich darum seitlich in meinen Sessel und ließ das rechte Bein über die Lehne baumeln. Damit hatte ich Thomas an den linken Rand meines Gesichtsfeldes gedrängt und mich sah nur noch sein Spiegelbild vom toten Bildschirm an. Von dem brauchte ich mich aber nicht abzuwenden. Immer wieder spürte ich seinen Blick auf mich ruhen. Drehte ich dann unverhofft den Kopf in seine Richtung, musste er mir in die Augen sehen. Ich spürte auch, dass Jochen uns beobachtete. Was mochte Thomas denken und fühlen, wenn er mich ansah? Er musste doch wissen, dass ich ihn noch immer liebe, dass ich nicht loskomme von ihm. Leichter ist es, einem Alkoholiker die Flasche zu entwöhnen. Ob er sein Foto bemerkt hatte, das über meinem Schreibtisch steckt? Thomas stand auf und setzte sich auf den Fußboden vor den Fernseher, den er einschaltete. Den Rücken stemmte er (liebevoll?) gegen meinen Sessel. Sein blonder Schopf überragte die Lehne. Ich verkrampfte meine Finger ins blass grüne Sesselpolster, um der magischen Kraft zu widerstehen, die sie unaufhörlich zu den hellen Haaren hintrieb. Wie gerne hätten sie der Versuchung nachgegeben und wären durch das lange weiche Haar gefahren. Als sich Thomas dann zu mir umdrehte, mich mit seinen sanften, so harmlos erscheinenden Augen ansah, mit einem Blick, der vier Kilo Tiefkühlkost hätte dahin schmelzen lassen, und mit den Armen meine weichen Knie umschlang, da hätte ich himmelhoch aufjauchzen und vor lauter Glückseligkeit am liebsten aufspringen und hinauslaufen mögen, so gut tat mir das.
Um sechs verließ uns Thomas. Er wollte zum Abendessen pünktlich zu Hause sein. Vorher musste Jochen noch eine in Frage kommende S-Bahn aus dem Fahrplan heraussuchen, mit der er aus der Stadt gekommen sein wollte, denn zu Hause hatte er gesagt, er wolle zum Weihnachtsmarkt.



Mittwoch, 30. November 1988 - Sonntag, 11. Dezember 1988, 3. Advent

zurück zur Kapitelübersicht

Zurück zum Seiteninhalt