Die Hoschköppe / 122. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 122. Kapitel

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Mittwoch, 19. April 1989


Mitte April, genau gesagt am Siebzehnten, wurde ich neununddreißig. Aber das macht mir nichts aus. Das Entscheidende an diesem Datum ist, dass wir, Jochen und ich, es nun volle neun Jahre miteinander ausgehalten haben. Diese neun Jahre gaben dem Tag sein Gewicht und machten ihn zu einem glücklichen, auch wenn er auf einen Montag gefallen war. Jochens Mutter wird deswegen am Sonntagnachmittag zum Kaffee erscheinen.
Gefreut habe ich mich über Katis Karte:

Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag wünscht Dir, lieber Friedemann, ganz herzlich Kati aus der City Boden. Ich hoffe, Du feierst schön, auch wenn die Prominenz fehlt. Sonst gibt es nichts Neues. Morgen will ich nun wieder zu meiner großen Schwester fahren, wird zwar wieder langweilig, aber was soll‘s. Ich hoffe, wir sehen uns bald. Vielleicht zum 1. oder 31. Mai. Also Tschüß sagt Euch Kati

Auch von meiner Schwester hatte ich Post:

Blumige Grüße zum Geburtstag
Lieber Friedemann! Alles Liebe zum Geburtstag wünschen Dir aus Neustrelitz Edwin u. Dein kleines Schwesterlein. Heute vor einer Woche haben wir um die gleiche Zeit in der Küche gesessen u. gefrühstückt. Schade, daß es heute nicht so ist. Ich hoffe, daß Du gut nach Hause gekommen bist. Nun zu unserer Mutti. Als ich Montagnachmittag so gegen ½ 2 bei ihr reinkam, dachte ich, unser Gretchen hat mit allem abgeschlossen. Sie lag teilnahmslos mit offenem Mund u. starrem Blick zur Wand, hat mich nicht erkannt u. so war es in den ganzen drei harten, tränenreichen Stunden bis Edwin mich um 16.00 holte. Am Dienstag war ich nur für ½ Std. bei ihr, Edwin hat unten gewartet, u. es war genauso. Mittwoch ging‘s wieder besser, da hat sie sogar Kuchen, den ich ihr reingeschoben hatte, u. teelöffelweise Kaffee zu sich genommen u. als ich gestern mit dem Rad hin war, da dachte ich, ein Wunder ist geschehen. Unser Gretchen saß im Sessel, zwar zusammengefallen, aber sie hat mich wieder erkannt, Kaffee getrunken + Kuchen gegessen u. ich war mit ihr aufs Klo. Was sagst Du nun? Ich war glücklich u. konnte es gar nicht fassen. Frau Nicht hat gesagt: ,No, ich dachte, die holt bald der Deibel.‘ Hoffentlich bleibt es so u. ist nicht nur ein Aufflackern. Mir ist auf jeden Fall um vieles leichter u. ich werde mir ein ruhiges Wochenende machen. Fahre erst Montag wieder raus. 2 Tage brauch ich mal für mich. Also mein Lieber, bleib gesund u. freu Dich mit mir. Werde schnell die Karte zum Kasten bringen, damit die Post sie noch mitnimmt. Alex, Volkmar u. Udo machen heute die Spargel hoch. Viele liebe Grüße auch an Jochen, Deine Edeltraud

Lieber Friedemann! Ganz locker, konzentriert und engagiert ein happy birthday to you. Umseitiges (Sonne, Freude, Wonne + vielleicht noch was) für Dich können nicht lassen Dir zu wünschen
                  Manfred, Marko, Detlef S., Karsten, Rainhard, Klaus H., Detlef K.

Diese Karte war aus dem fernen Dierhagen gekommen, wo der Leitungskreis in einer noch winterklammen Finnhütte ein Arbeitswochenende durchführte.
Auch vom Westberliner Thomas hatte am Montag eine hübsche Ansichtskarte im Kasten gelegen. Sie war aus dem nahen Jerusalem, wo er mal eben ein paar Tage Urlaub eingeschoben hatte.
Der andere Thomas, der wesentlich dichter wohnt und der der eigentliche Held dieser Geschichte ist, lässt nichts mehr von sich hören und sehen. In der vergangenen Woche, es war auch ein Montag, war er mir zwar vor die Füße gelaufen, aber ohne mich zu beachten. Er war gerade durch die Kaufhallentür ins Freie hinausgetreten und musste mich gesehen haben, denn es war ein heller Tag. Aber der Abstand zwischen uns war wohl schon, obwohl er nur drei Schritte betrug, zu groß. Ich wollte zum Briefkasten und sah ihn nun in voller Größe nur ein paar Schritte voraus. Meine Blicke wanderten zwischen den bekannten gelben Schuhen und dem Blondschopf unruhig hin und her und drangen durstig in die Tiefe. Wenn ich meinen Schritt beibehalte, so dachte ich, dann werde ich ihn gleich überholen. Ich wusste mich nicht zu entscheiden. Was mache ich bloß? Langsam hinterher zu dackeln, wäre auch blöd gewesen. Als ich dann endlich mit ihm auf gleicher Höhe war, grüßte ich ihn. Thomas tat sehr erschrocken. Die Sekunden, die wir dann bis zum Briefkasten dicht, doch schweigend nebeneinander gingen, taten mir sehr weh.
War es das nun? War unsere Geschichte zwischen einer HO-Kaufhalle  und einem Briefkasten, dem wieder einmal die linke Klappe fehlte, auf der Strecke geblieben?
„Ach, vergiss es!“, hätte Thomas gesagt.


Dienstag, 4. April 1989 - Montag, 10. Juli 1989

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