Die Hoschköppe / 123. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 123. Kapitel

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Montag, 10. Juli 1989


Der launenhafte April sorgte für eine nochmalige Begegnung mit Thomas, diesmal aber des miesen Wetters wegen in die Kaufhalle. Thomas stand in der Schlange, die zur Kasse strebte. Mich hatte das wohlwollende Schicksal direkt hinter ihn platziert, als wolle es uns versöhnen. Wieder hatte Thomas mich im Rücken. Ich war die ganze Zeit gezwungen, auf seinen blonden Hinterkopf zu kucken und seinen Duft einzuatmen, brachte aber einfach nicht den wenigen Mut auf, der nötig gewesen wäre, ihn anzusprechen. Außer ruckweise in Richtung Kasse, rührte sich Thomas nicht, dabei hätte er mein Herz schlagen hören müssen.
Der April ging traurig zu Ende, Mai und Juni brachten nur den Sommer näher. Heute, es ist der erste Montag des Monats, händigte Jochen mir einen Brief von Thomas aus, den er beim Aufräumen wiedergefunden hatte. Er erhielt diesen Brief bereits im vergangenen Jahr, wann genau, konnte er sich nicht mehr erinnern. Damals hatte er ihn mir nicht zeigen wollen.

   Hallo Jochen!
Vielleicht erinnerst Du Dich noch, daß Du damals mal zu mir sagtest, Raymond müsse nicht alles über Euch wissen. Ich habe den Klang Deiner Stimme noch jetzt in meinen Ohren, und um so deutlicher die Worte, die Du benutztest. Dich nun noch um das Gleiche Deinerseits zu bitten wäre wohl überflüssig, weil Raymond ja schon alles weiß. Natürlich sprach er mich daraufhin an, und bat mich um eine Erklärung, die ich versuchte zu vertuschen. Das Glück stand auf meiner Seite, denn wir trafen ein paar Kumpel, mit denen wir uns unterhielten, so daß wir vom Thema abkamen, jedenfalls für diesen Tag. Nicht schwer vorstellbar, daß Ihn diese Tage, wenn nicht sogar Wochen, beschäftigen werden. Du hieltest mir vor, ich würde Dein Vertrauen mißbraucht haben, Du tatest des gleichen, und das grundlos. Nein, einen Grund wirst Du sicher gehabt haben, nämlich den, daß ich um so seltener zu Dir komme und aufgrund dieses Vorfalls auch kommen werde. Nun versetze Dich mal in meine Lage und in mein Alter. Aber ich glaube dazu hast Du zu wenig Einblick. Es gibt eben noch Leute, die legen die Dinge so aus, wie sie sie sehen, und nicht so, wie sie sich tatsächlich zugetragen haben. Du bist eben nicht der Typ, dem ein Hieb ins Gesicht nicht einen Schlag in die Magenkuhle wert wäre. Belohne nie Gleiches mit Gleichem.
Spiele nie mit dem Feuer, die Asche, die runterfällt, könnte Deine Eigene sein.
Gruß an Friedel, falls er noch was darauf gibt.
Ich empfinde nur noch Mitleid!
Vielleicht steckst Du diesen Brief an die Kaufhalle, wäre doch ne gute Idee, und nicht weniger lohnenswert!

Bedauerlich, dass Thomas in der Schule nicht gelernt hat, dass zu einem Brief auch eine Datumsangabe gehört, denn die genaue zeitliche Einordnung des Briefes hätte eventuell einiges erklären können.


Mittwoch, 19. April 1989 - Anfang September

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