Die Hoschköppe / 120. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 120. Kapitel

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Montag, 20. März 1989


Frühlingsanfang! Ein fernes Rauschen schwebt von irgendwo heran. Auseinandergezupfte Wattebällchen durchbrechen vereinzelt das Hellblau des Himmels, das zum Horizont hin in ein milchiges Weiß übergeht. Die Sonne wärmt schon. Flugwetter! Der reinliche Wind fegt die Trampelpfade der Düsenjäger fort. Von einigen Zweigen flattern hauchdünne Spinnfäden, die in der Sonne wie Lametta glitzern, und auch die Warnow, die geschäftig ihre Mitbringsel in die Ostsee befördert, funkelt an ihrer Oberfläche, als würden unzählige Sterne auf den Wellen schwimmen.
Nachher werde ich Ausgrabungen vornehmen. Ich hatte hier im verwilderten Park, der diese alte Villa umgibt, in der oben unsere Büroräume und unten die Sanitätsstelle untergebracht ist, Efeu entdeckt, dem ich ein paar bewurzelte Triebe entreißen will, um sie bei mir zu Hause am Giebel des Nachbarhauses und an der Seitenfront, da wo keine Fenster sind, einzupflanzen. Mit ein wenig Glück, so hoffe ich, werden sie anwachsen und die tristen Betonflächen ergrünen lassen. Mit der Zeit.
Es ist doch komisch, hinter allen Gesten oder Bemerkungen, die wir aufschnappen, egal ob sie uns oder jemand anderem gelten, vermuten wir eine kränkende Absicht. Wir ziehen uns diese Jacke über, ob sie für uns bestimmt ist oder nicht. Wir scheinen eine eigens dafür bestimmte Antenne zu haben, die ständig empfangsbereit ist und nur auf der Lauer liegt, damit wir uns über das Empfangene einen Kopf machen.
Gestern Nachmittag war ich ans Fenster getreten, um es zu schließen. Jochen und ich hatten ausnahmsweise fast den ganzen Vormittag und Nachmittag bei mir zugebracht. Jochen hatte sich mit meiner kaputten Stereoanlage und ich mich mit der Literaturkartei beschäftigt. Nur zum Mittagessen waren wir zwischendurch zu Jochen gegangen. Ich stand also am Fenster und beobachtete den hübschen Jungen, der mit einem Eis in der Hand zufällig unten vorüberging. In dem Moment war ein Mieter aus der vierten Etage zusammen mit seiner Bekannten aus dem Haus gegangen. Als die beiden mich bemerkten, streckte der Kerl mir eine Faust mit nach oben gerichtetem Daumen entgegen. Beide grinsten zu meinem Fenster hinauf. Wenn das Jochen oder einer unserer Freunde getan hätte, dann wäre die Bedeutung klar gewesen: Ist das nicht ein toller Bursche, ein geiler Typ! Mit dem zwei-, dreimal in die Sträucher! Aber das konnte der Kerl mit seiner Geste unmöglich gemeint haben. Eher das: Na, du schwules Schwein, dem würdest du wohl gerne das Schloss versilbern, oder? Es konnte natürlich sein, dass gar nicht ich gemeint war. Aber das hatte ich in dem Moment nicht in Betracht gezogen. Es sah so aus, als konnten sie nur mich meinen. Und das genügte mir. Nur, bislang waren die beiden immer recht freundlich gewesen. Aber ich war nun mal vom Floh gebissen worden, was zur Folge hatte, dass meine Konzentration schlagartig im Arsch war. Ich musste meine Arbeit einstellen.
Letzte Woche Donnerstag war mir ein ähnliches Ding passiert, von dem ich mich allerdings inzwischen erholt habe. Es trug sich im Jugendklub zu, wo der Diskussionsabend veranstaltet worden war. Die Leute vom Arbeitskreis saßen um einen gesonderten Tisch herum, weil es noch einiges abzustimmen galt, als zusammen mit einigen Jungs ein Mädchen den Raum betrat, das ich zu kennen glaubte. Ich sagte zu Detlef: „Du, die sieht aus, als wäre sie eine Kollegin von mir.“ Hätte sie einen weißen Kittel angehabt, hätte ich sie möglicherweise sofort daran erkannt. Mir war gar nicht wohl. Nur nicht hinsehen, dachte ich. An der kleinen Bar, die wie ein Provisorium, aber dennoch sehr stabil aussah, ich ließ mir gerade einen Wodka mit Tonic für nachher mischen, da grüßte sie mich dann. Teufel, dachte ich, sie ist es tatsächlich. Hätte ich das vorher gewusst, ich hätte auf diesen Auftritt verzichtet. Detlef versuchte mich zu trösten: „Vom Sehen her kenne ich die, die tingelt nur mit Schwulen rum.“
Von der S-Bahn kommend, ich war auf dem Weg zu mir nach Hause, schnappte ich heute gegenüber dem Sonnenblumenhochhaus im Vorübergehen ein paar Satzfetzen zweier älterer Damen auf. Sie standen links vom grauen Asphaltweg neben den kläglichen Resten einer Bank. Rechts tummelten sich in größerer Entfernung Fußball spielende Kinder im Rasen. Die eine der beiden Damen sagte: „… war schon tot. Drei Wochen! Sie saß noch auf dem Stuhl am Tisch. Vor ihr stand die Tasse …“ Diesmal war ich aber mit Sicherheit nicht gemeint.
Von Weitem schon sah ich dann die wilde Horde, die wieder unsere Haustür belagerte und mich Spießruten laufen lassen würde. Hilft nichts, dachte ich, jetzt musst du den Efeu einpflanzen, sonst vertrocknet er womöglich. Ich tat es dann, nachdem ich sie ohne Behinderung passiert und mir einen Spaten aus dem Keller geholt hatte, unter solchen Anfeuerungsrufen wie: „Passt auf den Opa auf!“ Sie fummelten gerade mit einem gefundenen Ball herum und bemühten sich rücksichtsvoll, ihn nicht in meine Richtung zu schießen. Meine Veranlagung war heute kein Thema für sie. Ich kroch mühsam und gebückt zwischen den Sträuchern herum, die schon vor längerer Zeit am Haus entlang gepflanzt waren und dem grauen Beton jetzt eine grüne Basis geben, wenn sie denn grün werden. Ich hörte einen der Bengel rufen: „Was macht denn der Opa da? Will der da sein Nachtquartier aufschlagen?“ Ich schmunzelte in mich hinein. Ich war angenehm überrascht, soviel Aufmerksamkeit zu erregen, auch wenn mir die Bezeichnung Opa etwas gegen den Strich ging. Ich gebe aber zu, dass es reichlich komisch ausgesehen haben muss, wie ich mit einer Obststiege, in der die Efeuranken lagen, und einem roten Plasteeimer voller Wasser, den mir Charlotte runter gebracht hatte, durch das schier undurchdringliche Dickicht der schon ziemlich großen und gut bedornten Sträucher brach. Angesichts der Schweißperlen, die mir unentwegt in die Augen rannen, hoffte ich, dass die Jungs die Ranken nicht gleich wieder rausreißen würden. Auch später nicht! Der Markus, Jochens Nachbarssohn, war auch dabei.
Drei kleinere Buben, im Alter von vier oder fünf Jahren, kamen auch vorbei. Ich scharrte noch immer wie eine Würmer suchende Amsel zwischen dem Gesträuch herum. Zwei davon hatten Flaschen in den Händen, zu denen der Dritte sagte: „Ich sammle doch keine Flaschen! Da könnte man ja denken, ich bin arm oder so!“
Liegen deswegen überall so viele Scherben?, dachte ich.


Donnerstag, 16. März 1989 - Dienstag, 4. April 1989

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