Die Hoschköppe / 114. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 114. Kapitel

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Montag, 6. März 1989


Heute erzählte Jochen so ganz nebenbei, dass er mit Thomas in der Kunsthalle war. Er habe nicht mit ihm alleine in der Wohnung sein wollen und dort wären sie eben unter Menschen gewesen. Wieso betonte er das und wovor hatte er Angst?
Im Büro habe ich sofort alle noch greifbaren Zeitungen durchgeblättert und nach langem Suchen die Danksagung von Dieters Mutter ausgeschnitten.

Herzlich danken wir allen,
die uns ihr Mitgefühl durch persönliche und schriftliche Anteilnahme
zum Tode meines lieben Sohnes, Bruders und Schwagers
Dipl.-Ing. Dieter Nüske
erwiesen haben.
Rostock, im Februar 1989                         Unterschrift


In der Wochenendausgabe vom 18./19. Feb. fand ich die Anzeige seines Betriebes.

Wir erhielten die Nachricht, daß unser Kollege
Diplom-Ingenieur Dieter Nüske
nach kurzer, schwerer Krankheit im Januar 1989 verstorben ist.
Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.
VEB
Betriebsdirektor                                                      BGL


Er war also schon im Januar gestorben! Eine Todesanzeige, die uns hätte sagen können, wo und wann die Beerdigung sein würde, habe ich nicht gefunden. Im Dezember war Dieter einundfünfzig geworden, glaube ich. Alle Wege des Lebens führen hin zum Tod. Dieter war nun auf seinem mit Nagelbrettern ausgelegten Weg endlich ans Ziel gekommen und hatte alles hinter sich zurückgelassen: sein Leben, ein paar Freunde, vor allem aber diesen Scheißstaat, den er mit jedem zweiten Satz beklagte und verfluchte, durch den er sich bevormundet, bedroht und bespitzelt fühlte. Selbst in seinem Sarg würde er eine Wanze vermutet haben.
Sein Grab zu suchen, werden wir viel Zeit haben. Thomas der Geile, wie Dieter ihn immer nannte, hatte uns vor vielen Jahren miteinander bekannt gemacht.


Sonntag, 5. März 1989 - Dienstag, 7. März 1989

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