Die Hoschköppe / 113. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 113. Kapitel

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Sonntag, 5. März 1989


Es ist jetzt schon zehn Minuten nach zehn Uhr vormittags. Ich sitze an diesem hellen Sonntag bei mir zu Hause in der Josef-Schares-Straße und warte. Um zehn Uhr wollte ich mich hier mit Frank Goyke treffen. Ich hasse Unpünktlichkeit, selbst, wenn es sich um einen Frank Goyke handelt. Wir hatten uns am Freitagabend im Arbeitskreis nach seiner Lesung, und nachdem uns Detlef K. miteinander bekannt gemacht hatte, auf diesen Termin geeinigt, denn das wäre eine christliche Zeit, so Frank G. Er hatte zugesagt, sich ein paar Gedichte von mir anzusehen. Vielleicht seien einige darunter, die tauglich wären, in „Temperamente“ abgedruckt zu werden. Ich war von Detlef K. dazu beschwatzt worden, der die Sache dann auch eingefädelt hatte. Es wird später und später und ich wartete noch immer. Bis jetzt ist mein Besuch noch nicht gekommen. Ob er mir eine Enttäuschung ersparen will?
Frank G. war am Freitagabend zusammen mit zwei anderen jungen Autoren zu uns in den Arbeitskreis gekommen, um aus ihren eigenen, zum größten Teil noch unveröffentlichten Werken zu lesen. Sie waren auf den ersten Blick drei durchschnittliche, also unauffällige Menschen, aber als Autoren vollkommen unterschiedlich, das merkte ich ihren Stücken an. Ich fand an jedem in seiner Art Gefallen. Gemeint sind die gelesenen Stücke. Anschließend wurde zur Diskussion aufgerufen. Sie kam zum Glück nicht zustande. Nur fünf Leute aus der zahlenmäßig starken Zuhörerschaft entpuppten sich als Querulanten und fühlten sich genötigt, etwas zu sagen. Zwei davon gaben sich redliche Mühe, alle Stücke verbal mittendurch zu reißen. Ich halte es für sehr unsinnig und vermessen, einem Autor zu sagen, wie er sein Stück zu schreiben, womöglich noch besser zu schreiben habe. Die Arbeiten sollten so genommen werden, wie sie sind! Kein Maler lässt sich vorschreiben, wie er seinen Pinsel zu führen habe. Die Texte müssen keineswegs jedem Einzelnen gefallen, es kommt überhaupt nicht darauf an, ob der damit etwas anfangen kann. Ob sie ihm eine Botschaft vermitteln, das muss jeder für sich entscheiden, und das darf nicht mit den Gefühlen und Ansichten des Autors verglichen werden. Erst im Kopf des Konsumenten wird das Werk zur Kunst.
Freitagabend wurde allen Anwesenden offiziell mitgeteilt, dass mit April beginnend jeden zweiten und vierten Freitag des Monats in der „Küche“ in Groß Klein eine Schwulendisco veranstaltet werden wird. In meinen Jugendjahren hatte die Cousine einer Klassenkameradin mir irgendwann einmal den Floh ins Ohr gesetzt, dass es in Rostock eine Bierbar gebe, in der nur Schwule verkehren. Damals fand ich das ungeheuerlich! Im Sinne von aufregend und faszinierend, natürlich. Nach dieser Enthüllung, mit der sie mir, warum auch immer, aber sicher unbeabsichtigt ein Ziel vorgegeben hatte, wollte ich erst recht raus aus Fürstenwerder, diesem für mich zu eng gewordenem Nest meiner Kindheit und Jugend. Ich wollte mehr erleben, als nur mit den Dorfjungs rumzuwichsen, ich wollte in diese Bar gehen. Meine junge Neugier war riesengroß. Wie mochten diese Männer aussehen, die sich trauten, in eine solche Bar zu gehen? Ich musste unbedingt zu diesem Ort, auch wenn ich das Biertrinken verabscheute. Erst viele, viele Jahre später kam ich dann tatsächlich einmal nach Rostock. Die Bar aber fand ich nicht. Vielleicht hatte es sie nie gegeben oder die Zeiten hatten sich inzwischen geändert. Jetzt haben sie sich wiederum geändert und ein Discotermin jagt den nächsten, denn auch in Lütten Klein ist seit längerem schon zweimal im Monat was los. Da aber deren Termine immer auf einen Donnerstag fallen, waren Jochen und ich noch nie hin gewesen. Eines ist mir nicht ganz klar bei der Sache: Lässt „man“ uns jetzt gewähren und mehr Freiheiten aus gewonnener Einsicht oder hat „man“ lediglich unser Geld dabei im Sinne? Viele von uns auf einem Haufen zu wissen, macht es denen sicher leichter, die von Amtswegen ein Auge und ein Ohr auf uns haben.
Als ich dann vom Arbeitskreis spät nach Hause kam und Jochen von allem berichtete, sprudelnd wie ein frischer Quell, meinte er, ich solle endlich den Schnabel halten, mich ausziehen und machen, dass ich ins Bett komme, denn er habe mir auch was zu erzählen. Nicht weniger weitschweifig beschrieb Jochen dann, wie er kurz nach sieben in die Sauna gefahren war.
„Rate mal, wen ich da vorgefunden habe“, sagte er.
Ich dachte sofort an einen ganz bestimmten, sah beklommen durchs Fenster in die Finsternis hinaus, und war wie auf die Folter gespannt. „Komm endlich zu Potte“, drängte ich.
„Nils war mit seinem Vater da“, fing Jochen an.
„Na und?“ Ich war erleichtert, nichts anderes zu hören.
„Der hat sich mit einem ganz süßen Bengel unterhalten, der wäre was für dich gewesen“, meinte Jochen fachmännisch. „Und der lange Schwarze von unten war auch da.“
Das hatte mich dann doch überrascht. Der hatte am Mittwoch schon einmal einen Anlauf genommen, dann aber ganz schnell die Kurve gekratzt, als er in den Kassenvorraum rein spaziert kam und mich dort warten sah. Ich wusste, dass der eine schwule Ader hat!
„Gegrüßt hat er ja, aber sonst ist kein Wort weiter gefallen“, sagte Jochen.
„Ich hätte die Gelegenheit genutzt und ihn gefragt, warum er solche Angst vor uns hat. Wir können doch schließlich nichts dafür, dass der auch schwul ist.“
Die Leute im Haus haben bestimmt nichts dagegen, denn mir ist aufgefallen, dass sie in letzter Zeit wesentlich freundlicher geworden sind. Sie grüßen jetzt alle. Sogar der Nachbar. Seit dessen Sohn Nils aus dem Gröbsten raus ist und endgültig festzustehen scheint, dass der sich ausschließlich zu Mädchen und Alkohol hingezogen fühlt, hatte auch er keine Angst mehr vor uns.
„Als ich raus ging und zum Bus wollte, da saß der Bengel, mit dem sich Nils unterhalten hatte, vorne und wartete“, erzählte Jochen weiter. „Worauf der wohl gewartet hat? Na jedenfalls ist der mir nachgekommen. Vielleicht hatte Nils ihm erzählt, dass ich schwul bin. Zum Bus nahmen wir dann aber verschiedene Wege. Ich war über den alten Friedhof gegangen und wollte gerade die Straße überqueren, als jemand vor mir stehen blieb, sich umdrehte und auf mich wartete. Rate mal, wer das war!“
Ich traute mich kaum zu fragen: „Thomas?“
„Ja, tatsächlich! Der ist angeblich aus der Hallenbar des Neptunhotels gekommen, wo er drei Glas wer weiß, wovon getrunken hatte. Um den anderen Jungen habe ich mich nun dummerweise nicht mehr kümmern können.“
„Was hat Thomas so erzählt?“, fragte ich in der Hoffnung, der habe nach mir gefragt oder mir Grüße bestellen lassen. Aber nichts davon.
Jochen sagte nur: „Thomas wäre nicht mehr zu uns gekommen. Jedenfalls solange nicht, bis er alle Prüfungen hinter sich hat. So hat er es jedenfalls gesagt. Das ist dann ja erst Juni/Juli, hab ich zu ihm gesagt.“
Mehr erzählte Jochen nicht. Und mehr mochte ich auch nicht erfragen, denn Jochen hatte mich schon vorneweg gewarnt, dass ich mich nur ärgern würde. Ich legte mich in mein Bett und zog mir die Decke bis ans Kinn.
Ich schlief sehr unruhig und wachte mehrmals nach irgendwelchen blöden Träumen auf. Kurz nach vier Uhr war dann am frühen Sonnabendmorgen für mich die Nacht zu Ende. Jochen hatte zwar den Wecker auf halb fünf gestellt, aber wozu sollte ich mich noch bis dahin quälen, da war es gescheiter, ich ginge gleich leise ins Bad und hielte mir dort die Dusche über den Kopf.
Ich fuhr wieder mit dem Zug sechs Uhr siebenundzwanzig ab Hauptbahnhof. Ich ging wie üblich an den Waggons entlang, nur um festzustellen, dass der Zug noch fast leer und für mich nichts dabei war. So setzte ich mich in einen mit rotem Kunstleder gepolsterten Waggon und blieb mit meinem Buch, in dem ich zu lesen angefangen hatte, eine Weile ungestört. Doch dann kam ein Dreigenerationengespann in der Zusammensetzung von Oma, Vater und Kind und nahm auf der anderen Fensterseite Platz. Ich nahm spontan Reißaus und suchte Zuflucht in einem anderen Eckchen, wo ich in Ruhe die mitgebrachte Weltliteratur zu genießen hoffte. Weiter hinten glaubte ich es, gegenüber einem hoch aufgeschossenen jungen Mann mit Kreuzworträtsel, tun zu können. Ich war noch gar nicht fertig, ihn zu studieren, als eine wilde Horde aufgescheuchter Jungen und Mädchen durch die Tür in den Wagen lärmte. Unter fröhlichem Gejohle verteilten sie sich so auf die umliegenden freien Plätze, dass mir ein hübscher Junge mit sehr kurz geschnittenen blonden Haaren direkt ins Blickfeld geriet. Na, wenn das nichts ist, dachte ich. Mein Buch schlug ich erst gar nicht wieder auf. Nachdem etwas Frieden eingekehrt war und der Herr Lehrer die Häupter seiner Lieben gezählt hatte, begann der Blonde mit seiner Nachbarin Schach zu spielen. Aber wen der Teufel in sein Herz geschlossen hat, den straft er gleich! Vor den Schachspielern, meinem Gegenüber und mich selbst, bauten sich zwei wehrsame Weibsbilder mit Kleinkind auf. Die eine wedelte mit ihrer Platzkarte, die andere mit dem Kind. „Sie müssen hier aufstehen!“, befahl die Ältere. Woanders als hier hätten wir es auch schlecht gekonnt. So wurde ich mit einem schmerzlichen Ruck brutal der schönen Aussicht beraubt, denn mir blieb jetzt nur noch ein entfernter Platz übrig, gegenüber einer weitaus sanfteren Dame. Nun musste ich eine gewisse Zeit lang ungestört lesen. Damit war erst dann Schluss, als sie, sich artig verabschiedend, ausstieg und ihr noch warmer Platz durch eine andere Frauensperson vereinnahmt wurde, die zwei kleine Kinder in ihrem Fahrwasser nach sich zog.
Etwas zermürbt in Neustrelitz angekommen und den langen Fußmarsch scheuend, hatte ich auf den Stadtbus, diesmal den richtigen, gewartet und war mit dem bis zur Haltestelle Hans-Kahle-Allee gefahren, wo kurz nach dem Chausseehaus Schwager Edwin winkend an mir vorüberfuhr. Sein Auto zog einen Hänger, auf dem zwei Säcke lagen. Er wollte sicher zum Garten. Edeltraud erzählte mir dann, dass er dort Dünger streuen wolle.
Sie hatte viel zu erzählen, ich hörte zu. Es gehe ihm, sie meinte Edwin, gar nicht gut, er überspiele das zwar, aber sie habe, nachdem er dort war, mit der Ärztin gesprochen. Die habe gefragt, wie er denn mit der neuen Situation fertig werde. Edwin hatte zu Hause gar nichts von einer neuen Situation durchblicken lassen. Nichts davon, dass sich sein Herz vergrößert hatte, und wer wusste schon, was sich inzwischen noch alles verschlechtert haben mochte. Der Zucker sei aber ganz gut, hatte die Ärztin gemeint. Der war dann noch so eine nebulöse Bemerkung rausgerutscht, deren Wortlaut Edeltraud sich nicht richtig hatte merken können und die sie jetzt sehr beunruhigte. Sie sollten jeden Tag genießen: so in der Art. Ich brachte es nicht über mich, meiner Schwester gerade in die Augen zu sehen, denn ihr kullerten die Tränen über die Wangen, als sie davon sprach.
Von unserer „Kleinen“ konnte sie berichten, dass sie ein wenig aufgelebt sei, seit sie in dem neuen Zimmer wohne, dass sie nicht mehr so verängstigt sei, wie vordem. Sie habe guten Appetit, aber das werde ich ja sehen, wenn wir nachmittags hinfahren würden. Ein Problem sei die Wäsche. Sie mache sich sehr oft nass. Sie merke wohl nicht mehr, dass sie müsse, und wenn doch, dann sei es eben oft zu spät. Häufig müsse sie Mutti umziehen, wenn sie hinkäme. Sogar die Hausschuhe seinen dann vollkommen durchnässt. Die müssten dann tagelang eingeweicht werden. Und trotzdem rieche es in dem neuen Zimmer nicht so sehr, wie in dem vorherigen.
Dann kam die gute Nachricht. In diesem Jahr werde es zwei Hochzeiten statt nur einer geben. Auch Alex werde geheiratet. Von Susannes Hochzeit wusste ich schon. Von beiden Paaren hatte meine Schwester die neuesten Ablichtungen ihrer Sprösslinge vorrätig, die galt es jetzt gebührend zu bewundern.
Nach dem Eintopf fuhren Edeltraud und ich mit dem Bus nach Hohenlanke. Als wir in das Zimmer unserer Mutter kamen, war es leer. Beide Omas waren ausgebüxt. Wir hingen unsere Jacken an einen Haken neben der Tür, Edeltraud packte die mitgebrachten Sachen aus und ich ging in den langen Korridor zurück, um Oma Gretchen zu suchen, die ich dann vom Ende des Ganges her ankommen sah. Von einer Schwester, die sich die Zeit dazu genommen hatte, untergehakt, schlurfte sie mir langsam und Schritt für Schritt entgegen. Ich ging mit weichen Knien auf sie zu, blieb kurz vor ihr stehen und sagte: „Guten Tag, Mutti!“ Sie sah mich von irgendwoher mit wässrigen Augen an, ein flüchtiges Lächeln huschte ihr über das faltige Gesicht, und hob ein wenig die schlappen Arme. Dann sagte sie leise und mit kaum hörbarer Freude des Erkennens: „Dor is jo mien …“, und hatte mich schon wieder vergessen. Ich nahm sie der Schwester ab und zockelte mit ihr zu Edeltraud ins Zimmer. Der Schlüpfer war zwar trocken, Edeltraud zog ihr aber dennoch frische Wäsche an. Ich bemühte mich, ihr die mitgebrachten Hausschuhe anzuziehen, was einige Schwierigkeiten bereitete, denn die Schuhe schienen beim Waschen eingelaufen zu sein und zudem hatte unsere Mutter geschwollene Füße. Die Hausschuhe, die ich ihr vorher ausgezogen hatte, waren feucht und rochen brammig. Deswegen stellte ich sie zum Auslüften nach draußen aufs Fensterbrett, wo sie wohl noch heute stehen. In ihrem Schrank lag im unteren Teil ein Haufen schmutziger Wäsche, den Edeltraud zum Mitnehmen einsackte. Der Tisch erhielt eine weiße Decke, die Edeltraud aus ihrer Tasche gezogen hatte. Während sie dann in der Küche den Kaffee aufbrühte, schnitt ich den Kuchen auf. Inzwischen hatte sich auch die andere Oma wieder angefunden und freiwillig an den Tisch gesetzt. Sie war in Ostpreußen geboren, aufgewachsen und auch nicht weiter als bis hierhergekommen. Oma Gretchen mümmelte drei große Stücke von dem Kuchen in sich hinein und trank dazu zwei Tassen Kaffee, als wäre es nichts gewesen und hatte hinterher doch nicht sagen können, ob sie schon was gegessen hat.
Das Zimmer sah eigentlich genauso aus, mit der gleichen Einrichtung, wie das andere auch. Über Muttis Bett hingen ihr Hochzeitsbild und ein Foto von Edeltraud in Schwesterntracht, in dessen Rahmen noch zwei kleinere Fotos steckten, beide von Muttis goldener Hochzeit. Die Tapeten hielten sich nur noch schwach an den Wänden, weswegen allzu starker Durchzug vermieden werden musste. Die Scheuerleisten wurden von einem undefinierbaren, sehr schmuddeligen Saum eingefasst. Unter den hochbeinigen Betten sah es sehr dunkel aus. Auf ihnen türmte sich unter einer Decke zur Wand hin eine Unmenge an Bettzeug. Wir saßen auf kunstlederbezogenen, halbrunden Sesseln, die auch einen Hauch Urin ausatmeten, wenn sich jemand draufsetzte. Nach dem Kuchen gab es noch Eierlikör aus Richtenberg. Eine Unterhaltung mit unserer Mutter war trotzdem nicht möglich. Mehr als „Ja“, „Nein“ oder „Weiß ich nicht“ hatte sie nicht parat, wovon sie „Ja“ und „Nein“ wieder nach Gutdünken gebrauchte. Sie wusste nicht mehr, was sie zu Mittag gegessen oder ob sie überhaupt Mittag bekommen hatte. Deswegen waren Edeltraud und ich gleichermaßen perplex, als sie plötzlich und ohne ersichtlichen Grund sagte: „Tiet vageit, Licht vabrennt, Großmutter ward olt!“ Ich blickte zu meiner Schwester, die auch überrascht aufsah.
Der Geist von Oma Nicht aus Ostpreußen funktionierte dagegen noch recht gut und mit ihrem Mundwerk war sie weit besser zu Fuß als mit ihren Beinen, nur verstehen konnte ich lediglich den vierten Teil von dem, was aus ihm hervorsprudelte. Die zwei Gläschen Eierlikör hatten sie in eine angemessene Fröhlichkeit versetzt, während unser Oma Gretchen nur still am Tisch saß, mal den einen, mal den anderen ansehend. Als wir uns um vier Uhr verabschiedeten, sagte Edeltraud zu ihr, dass sie am Mittwoch nicht kommen könne, weil sie dann die Kleine von Alex bei sich haben werde. Am nächsten Sonntag käme sie aber ganz bestimmt wieder. Oma Gretchen fragte daraufhin, was sie dann kochen solle. Sie brauche nichts zu kochen, sie werde selbst alles mitbringen, antwortete meine Schwester.
Unten auf dem Parkplatz atmeten wir tief durch. Die Kleidung, die wir am Leibe trugen, hatte dagegen keine Gelegenheit, sich zu erholen, denn Edwin kam pünktlich vorgefahren. Mit dem Auto waren es nur ein paar Minuten, bis wir wieder zu Hause waren. Edeltraud bat mich, den Beutel mit der schmutzigen Wäsche gleich raus auf den Balkon zu bringen, denn es sei schon wieder ein kleines Päckchen Kacke dazwischen. Das käme auch oft vor. Und mir war es während der Fahrt peinlich gewesen, weil ich die ganze Zeit glaubte, irgendwo rein getreten zu sein. Meine Schwester aber musste ich bewundern.
Mit dem Zug zwanzig Uhr vier fuhr ich wieder nach Rostock zurück. Seltsamerweise war er pünktlich. Gegen halb elf traf ich dann bei meinem Schieter ein. Von der Flurgarderobe war das Telefon verschwunden, deshalb fiel mir sofort der Zettel mit der nüchternen Nachricht auf: Dieter ist verstorben. Ich nahm den Zettel in die Hand, drehte ihn hin und her und las noch einmal die darauf geschriebenen drei Worte, ungläubig und ohne ihre traurige Botschaft so recht zu begreifen: Dieter ist verstorben. … Dieter tot? Erst nach und nach wurde mir bewusst, was die Worte aussagten: Dieter ist tot!
Wann hatte ich ihn das letzte Mal gesehen, überlegte ich. Zu Weihnachten hatten wir ihm noch eine Karte geschrieben. Er hatte aus dem Krankenhaus geantwortet. Mit dem Zettel in der Hand ging ich ins Zimmer. Die gemachten Betten waren unübersehbar. Jochen, schon im Schlafanzug, geisterte aber noch vor dem Fernseher herum und erwartete mich schon. Ich hielt ihm den Zettel hin und sah ihn fragend an. Jochen kam auf mich zu, wir tauschten einen raschen und stummen Begrüßungskuss aus, und sagte dann: „Ist das nicht schlimm? Ich hab es heute bei meiner Mutter in der Zeitung gelesen. Ich fing von hinten an und denk, ich sehe nicht richtig. Da stand die Danksagung seiner Mutter drin. Er muss also schon eine ganze Weile tot sein. Mit den Danksagungen lassen die sich immer Zeit. Die Todesanzeigen stehen ja immer gleich drin.“
„Und wir kucken immer zu seinem Fenster hoch, ob Licht brennt, wenn wir vorbeifahren. … Und dabei ist er schon längst tot“, sagte ich stockend. Ich zog mich aus und legte mich, nachdem ich aus dem Bad zurück war, zu Jochen ins Bett, denn ich hatte sehr kalte Füße. Als ich sie gegen Jochens warme Schenkel drückte, meinte der: „Dafür bin ich gut!“
Ich war mit meinen Gedanken aber bei Dieter. „Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich wenigstens zur Beerdigung gegangen“, sagte ich traurig.
„Ich auch“, stimmte Jochen mir zu.
„Mit Dieter haben wir einen unserer besten Dirigenten verloren“, sagte ich, obwohl mir gar nicht zum Scherzen war. Ich hatte nur eben daran denken müssen, wie Dieter bei uns, ein Trinkröhrchen durch die Luft hin und her schwingend, ein Konzert dirigierte, das von einer Platte kam. Immer wenn er einen Kleinen in der Krone hatte, fühlte er sich zum Dirigenten berufen. „Ob er einfach so gestorben ist? … Ich meine, an seiner Krankheit? … Oder ob er da ein bisschen nachgeholfen hat?“, spekulierte ich. „Oft genug hatte er ja davon gesprochen, dass er seinem Scheißleben ein Ende machen, dass er aus dem Fenster springen wolle.“ Ja, davon sprach er wirklich oft, wenn er wieder einmal verzweifelt und ihm zum Heulen war. Mit seinen Jungs hatte er auch immer wieder Pech gehabt. Die haben ihm das Herz kaputt gemacht. Dieter schraubte dann oft den Deckel von einer Schnapsflasche ab und suchte darin einen Ausweg aus seinem Leben. Nun war er gestorben, ohne dass wir es gemerkt hatten. „Wozu hat der Mensch eigentlich Freunde, wenn er dann doch alleine sterben muss? Wir hätten ihn wenigstens im Krankenhaus besuchen gehen sollen, er hätte sich bestimmt gefreut. Sicher hatte er darauf gewartet“, sagte ich.
„Jetzt machst du mir Vorwürfe, dass wir nicht hin gewesen sind“, wehrte sich Jochen.
„Ach was, ich mache dir doch deswegen keine Vorwürfe. Ich hätte ja auch allein hinfahren können.“ Die Vorwürfe machte ich mir selber. Nicht einmal den kleinen Brief hatte ich ihm geschrieben, um den Dieter auf seiner Karte gebeten hatte. Der würde ihn auch im Krankenhaus erreichen und er sich freuen, stand auf der Karte. Wir haben nicht geahnt, dass es so schlecht um ihn stand. Nicht einmal die Ärzte waren davon überzeugt. Und seine Kollegen schon gar nicht. Hatten die nicht immer zu ihm gesagt, er spinne? Nach einer Weile stillen Schweigens, nur der Fernseher dudelte noch immer vor sich hin, sagte ich zu Jochen: „Ich soll dich schön grüßen, von meiner Schwester.“
„Ja?“, fragte er und wollte wissen, wie es dort stehe. Nachdem er sich eine Kurzfassung meines Reiseberichts angehört hatte, sagte er: „Ich soll dich auch grüßen. Von Kati.“ Und nach einer Pause: „Und von Thomas!“
Aha, der verspätete Gruß von Freitag, nahm ich an.
„Er war heute hier, kurz nach dem Mittag.“
„So? Und du hast ihn rein gelassen?“, fragte ich verwundert.
„Ja, warum nicht?“
„Ja, warum eigentlich nicht?“ Ich wünschte ihm eine gute Nacht und ging in mein Bett.
Jochen stand auf, um den Fernseher auszuschalten.


Montag, 27. Februar 1989 - Montag, 6. März 1989

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