Die Hoschköppe / 35. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 35. Kapitel

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Sonnabend, 17. September 1988


Der Hals schmerzte bei jeder Bewegung, als ich heute Morgen aufstand. In der Nacht hatte ich wieder schlecht geschlafen. Gleich nach dem Frühstück war ich zu mir nach Hause gegangen, um einen weiteren Anstrich aufzutragen. Einen zu dicken, wie sich hinterher herausstellte. Ich bin gespannt, was daraus geworden ist, wenn die Farbe trocken ist. Die Pelle wirft jetzt schon winzige Falten. Dann kam Jochen. Auch er hatte sich dazu durchgerungen, sein Fenster zu streichen und brauchte nun Pinsel und Farbe. Weil ich noch auf Eddi warten musste, ist er allein zurückgegangen. Ich griff mir zwei Pullover und drückte sie zum Einweichen in das mit Baby-Haarwäsche versetzte handwarme Wasser. Eddi platzte herein, gerade als ich mir danach die Hände abtrocknen wollte. Er brachte die Trockenpresse zurück. Ich bat ihn um einen Augenblick Geduld und im Zimmer allein Platz zu nehmen, da ich vorher schon heißes Wasser zum Abwaschen ins Spülbecken eingelassen hatte. Zuerst kam also das Geschirr dran, denn das hatte schon länger auf mich gewartet, als es jetzt Eddi tun musste.
Eddi erzählte vom Arbeitskreis, der am Vorabend zusammengekommen war, und von den nächsten Veranstaltungen, die vorzubereiten waren. Ein Literaturabend mit Selbstgeschriebenem stehe auf dem Programm.
„Ich werde diesmal wohl nicht dabei sein, wenn aber Mangel an Material bestehen sollte, dann will ich gerne aushelfen“, sagte ich vorlaut, obwohl ich noch gar nicht um mein Dazutun gebeten wurde.
Eddi hat bereits aus eigener Produktion sehr viel Material vorliegen, wovon ich einiges kenne, was ich mit meinem Laienverstand für sehr gut halte. Aber wie gesagt, was bedeutet schon mein dilettantisches Urteil. Ich hatte es inzwischen von kompetenter Stelle schriftlich bestätigt bekommen, dass meine poetischen Versuche keinen Pfifferling wert sind. Deswegen scheue ich mich jetzt, mit meinem Geschreibsel andere Leute zu behelligen, die meine Gedichte vielleicht am Ende noch für gut halten, nur weil sie genau wie ich keinen blassen Schimmer davon haben, was eigentlich ein gutes Gedicht ausmacht. Eddi wollte sich jedenfalls telefonisch noch einmal melden, um einen Termin auszumachen, an dem wir zusammen einige Stücke auswählen wollten.
Es klingelte. Das fehlt noch!, dachte ich. Es war aber nicht Thomas, wie ich befürchtet hatte, sondern Meik, der ja schon mehrere Male vergeblich Anlauf genommen hatte. Und das ausgerechnet jetzt, wo Eddi hier ist. Wie mache ich Eddi unauffällig und in kurzer Zeit klar, dass er sich mit irgendwelchen obszönen oder prahlerischen Äußerungen zurückhalten soll, fragte ich mich. Für gewöhnlich ließ er nämlich niemanden und keine Gelegenheit aus, um auszuposaunen, dass er schwul ist. Seht her Leute, ich bin schwul! Sonst bewundere ich seinen Mut, wenn es denn Mut ist, jetzt war er aber fehl am Platz. Zum Glück riss sich Eddi am Kragen. Meik hatte sich abwartend und still in den Hintergrund gedrückt, bis Eddi gegangen war. Da Meik, ein dunkelblonder Lockenkopf, ausnehmend gut aussieht, konnte sich Eddi nicht verkneifen, um ein Aktfoto von ihm zu bitten, als er sich im Korridor verabschiedete. Das könne er voll vergessen, gab ich ihm zu verstehen. Selbst wenn ich welche hätte, würde Eddi sie von mir auf keinen Fall bekommen. Meik berichtete, dass er jetzt Maurer lerne, aber nach der Lehre nicht Maurer bleiben möchte, denn als Heizer verdiene er mehr, hatte ihm ein Freund verraten, der vielleicht Heizer ist. Er hatte sich bis kurz vor halb zwölf bei mir aufgehalten. Eddis Wunsch im Hinterkopf, sagte ich dann an der Tür zu ihm, er solle sich, bevor er das nächste Mal komme, ordentlich waschen, denn dann werde ich von ihm ein paar tolle Aktfotos machen. Er lachte nur. Für Mittwoch und Donnerstag sind wir wieder verabredet. Natürlich wird er sich auf derartige Scherze nicht einlassen wollen, das weiß ich. Wahrscheinlich macht es ihm Angst, im Gegensatz zu meinen flüchtigen Griffen an seinen Steifen, während er sich die Pornos ansieht.
Am Dienstag will Peter K. kommen. Er hat nach einer Ewigkeit überraschend bei mir angerufen. Ich hatte ihn noch vor Jochen auf dem Wall kennengelernt. Später hatte er unerwartet geheiratet, zwei Kinder gezeugt und sich von allem wieder scheiden lassen.
Bei Jochen hatte ich Mittag gegessen, war danach aber gleich wieder zurückgegangen, um den Brief an meine Schwester zu beenden und einen an meine Tante A. zu schreiben. Während der ganzen Zeit nervten mich die Pflanzen mit ihren lauten Rufen nach Wasser. Also begoss ich sie, damit sie das Maul hielten. Das viele plätschernde Nass machte es nötig, auf die Toilette zu gehen. Ich saß gerade bei offener Tür so schön mit gespreizten Beinen auf der Brille, als plötzlich die Wohnungstür aufging, durch die Jochen eintrat. Er sah zuerst in die Stube und fragte dann noch überflüssigerweise, ob ich allein sei. Glaubte er etwa, ich hätte jemanden unter mir? Dann wollte er wissen, ob ich sie beide habe kommen sehen. Wen hätte ich denn kommen sehen sollen? Ich tat so, als wunderte ich mich. Ich konnte mir schon denken, wen Jochen meinte. Aber wie hätte ich sie auf dem Klo sitzend sehen sollen? Das stille Örtchen liegt in eine ganz andere Himmelsrichtung. Und ein Fenster hat es auch nicht. Dann erst ließ Jochen Thomas rein. Der hatte die Zeit gebraucht, um sein Fahrrad in den Keller zu schaffen. Ich freute mich ungemein, ihn zu sehen. Vom Klo war ich natürlich schon runter. Neben der Unterhaltung hatten wir ein Glas Wein getrunken, denn die Flasche stand noch seit Eddis Besuch auf dem Tisch. Nun liegen wieder mehrere Gläser in der Abwäsche und müssen warten. Thomas, dieser Schuft, hatte weiter nichts zu tun, als mich wieder mit Frank aufzuziehen. Der muss ihm ganz schön zu schaffen machen. Mit diesen Sticheleien macht er mich ganz verrückt.
„Hab ich dir schon erzählt, dass er einen Waffenschein hat?“, fragte ich ihn.
„Wer? Frank? Wieso hat der einen Waffenschein?“, fragte der ungläubige Thomas.
„Ja, Frank! Der hängt eingeschweißt an einem Kettchen um seinen Hals. Den sieht man aber nur, wenn er sich ausgezogen hat.“
„Du spinnst! Und wofür?“
„Na für das gefährliche Kanonenrohr, das er unten hängen hat. Oder Kampfkeule eines Riesen. Ganz wie du willst.“
Thomas sagte nichts mehr, schaute nur betreten in seinen Schritt. Wahrscheinlich dachte er traurig an seinen kleinen Ableger.
Jochen schlug vor, nach Warnemünde zu fahren und in die 17-Uhr-Vorstellung zu gehen. Kino wäre mal wieder fällig. Vorher wollten wir aber noch bei ihm Tee trinken. Unterwegs fragte ich ihn, Thomas war nach Hause gefahren, um sich umzuziehen, warum sie beide gekommen waren, denn ich war extra zu mir gegangen, um allein zu sein. Thomas habe es so gewollt, meinte er. Mit Kuchen und Tee warteten wir dann auf ihn.
Im Kino gab es wider Erwarten Knatsch. Sollte man gar nicht glauben, aber es war so. Unsere Sitzordnung verleidete mir den ganzen Film. Zuerst wurden die Reihen identifiziert, die zu der bezahlten Platzgruppe gehörten. Jochen war dann als Erster in eine Reihe getreten, danach ich und mir folgte Thomas. In dieser Reihenfolge setzten wir uns auch. Logisch! Jochen sah mich verkniffen von der Seite an und fauchte, dass habe er sich wieder gedacht. Na gut, wenn es denn sein musste: Wir versuchten es noch einmal. Von diesen Plätzen konnte man ohnehin nicht besonders gut sehen, entschieden wir und zogen in eine andere Reihe um, etwas tiefer. Jochen ging wieder zuerst in die Reihe. Ich trödelte etwas, um Thomas vorbeizulassen, dass der diesmal in die Mitte zu sitzen käme. Der wartete aber und ließ wieder mir den Vortritt. Es war alles wie schon gehabt. Jochens Gesicht bekam etwas Beängstigendes. Ein abgekartetes Spiel, warf er mir vor. Ob ich nicht auf seine andere Seite kommen wolle. Wollte ich eigentlich nicht, aber um des lieben Friedens willen, die Leute wurden schon aufmerksam, tat ich ihm den Gefallen, aber mit ziemlich viel Wut im Bauch. Ich hatte mir das Kinoerlebnis anders vorgestellt. Thomas war auf seinem Platz sitzen geblieben und spielte den Eingeschnappten. Zwischen ihm und Jochen klaffte nun eine schadenfrohe Lücke. Dass Thomas nun in sich gekehrt dasaß und die Außenwelt abgeschaltet hatte, passte Jochen erst recht nicht. Er brauchte eine Weile, um sich einigermaßen zu beruhigen, bat mich aber dann, mich doch wieder zurückzusetzen. Das war mir dann doch zu blöd, obwohl ich es liebend gerne getan hätte. Unter den Augen der hinter uns sitzenden Kinobesucher wollte ich mich nicht lächerlich machen. Ich blieb also eine Weile still sitzen, stand dann auf und ging zur Toilette, die mir kurz vor der Leinwand entgegen gestunken kam, schlimmer als ein Bahnhofsklo. Meine Jacke hatte ich auf dem leeren Platz zwischen den beiden liegen lassen, wo ich mich dann glücklich hinsetzte, als ich zurück war. Thomas wachte sofort auf, allein durch meine Anwesenheit oder durch die neue Duftfahne, die ich hinter mir herzog, weiß ich nicht, und begann auf mich einzureden. Jetzt flippte Jochen vollends aus. Das war ganz gegen meine Erwartung, hatte er doch gerade noch gesagt, ich könne, ich soll mich wieder dorthin setzen. Mir rissen sämtliche Geduldsfäden auf einmal. Ganz leise natürlich! Ich stand erneut auf, verließ meinen klapprigen Sitz, stieg zwei Reihen höher und setzte mich dort gleich auf den ersten Platz. Am liebsten wäre ich ganz raus gegangen. Vom ersten Teil des Filmes hatte ich ohnehin nicht viel mitbekommen, vom zweiten dann auch nicht, denn ein Schrank von einem Kerl versperrte mir die Sicht auf die Leinwand. Ich wagte mich aber nicht noch einmal von meinem Sitz hoch. Froh, dass niemand den ärztlichen Notdienst gerufen hatte, schloss ich die Augen und döste vor mich hin.
Der Fußmarsch nach Lichtenhagen zurück hatte unsere Gemüter wieder auf ein erträgliches Maß abgekühlt. Wenn das alles nicht so zum Heulen wäre, müsste man lachen. Oder umgekehrt? Da Thomas gleich nach dem Essen nach Hause ging, verlief der Abend ruhig.
An dieser Stelle soll nun der Brief an meine Schwester wiedergegeben werden.

                                                                                                                        Rostock, den 14.9.88
  Hallo Edeltraud!
Gestern lag Dein Brief im Briefkasten. Habe ihn mit klopfendem Herzen rausgenommen und erst einmal beiseitegelegt. Ich mochte ihn noch gar nicht gleich öffnen. Zumal kurz darauf Thomas kam. Ich hatte schon die ganzen Tage zuvor mit Bangen den Briefkasten aufgeschlossen.
Nachdem Thomas dann gegangen war, habe ich ihn aufgemacht. Zuerst habe ich die Anrede und die Schlußformel gelesen. Alles gut, dachte ich. So war es dann ja auch. Ich bin jetzt froh, daß endlich die Katze aus dem Sack raus ist. Mir ist jetzt wirklich leichter. Du hast recht, dieses unausgesprochene Problem, oder wie auch immer man es nennen möchte, stand immer zwischen uns. Es stand auch immer zwischen Mutti, Papa und mir. Du weißt ja, jedes Mal, wenn ich nach Hause kam, fragte Mutti danach, wann ich endlich heiraten wolle. Du kannst Dir vielleicht nicht so richtig vorstellen, was diese Frage für einen Schwulen bedeutet, wenn sie von seinen Eltern gestellt wird. Papa sagte in den letzten Jahren schon immer: laß ihn doch. Vielleicht hat er sich seinen Teil gedacht. Wenn ich heute so darüber nachdenke, daß ich besonders zu Papa nie so ein richtig herzliches Verhältnis hatte deswegen, dann tut es mir leid, daß ich nie den Mut gefunden hatte, ihnen reinen Wein einzuschenken. Man möchte heulen darum. Aber ich glaube bestimmt, daß weder er noch Mutti hätten das richtige Verständnis aufbringen können. Das ich schwul bin, war für mich gar nicht so schlimm. Da bin ich ganz einfach hineingewachsen. Seit ich elf Jahre war, hatte ich immer nur mit Jungs zu tun. Das war für mich natürlich, da machte ich mir eigentlich keine Gedanken drüber. Wenn ich zwischendurch auch mal zwei Freundinnen hatte, dann war das nur ein Versuch, ob es auch anders geht. Ging aber nicht. Auch wenn dabei wahrscheinlich eine Tochter zurückgeblieben ist.
Ich hätte auch sowieso nicht in Fürstenwerder bleiben können. Da wäre ich elendiglich eingegangen. Auch Prenzlau war noch zu klein für mich, deswegen ging ich in diese Stadt. Weit weg genug von zu Hause und von Euch. Hier kannte mich keiner und hier wollte ich untertauchen. Bekanntschaften zu machen war hier unkompliziert und problemlos. Und dann lernte ich ja auch bald Jochen kennen und die glücklichste Zeit meines Lebens begann. Nicht einmal das konnte ich, so wie es war, nach Hause schreiben, daß ich glücklich war. Ich mußte immer etwas offenlassen. Du weißt es jetzt.
Jahrelang kam dann Jochen zu mir, bis seine Mutter nicht mehr fragte, wohin er immer fahre. Sie wohnt in Evershagen, daß ist zwei Stadtteile entfernt. Später bekam er dann in meiner Nähe eine eigene Wohnung. Seitdem sind wir ständig zusammen. Der Trabi gehörte übrigens seiner Mutter. Wir haben uns einen kleinen Bekanntenkreis aufgebaut, ich arbeite in einem Arbeitskreis Homosexualität mit. Solche Arbeitskreise haben sich vor Jahren an einigen Kirchen in der ganzen DDR gebildet. Im Betrieb bin ich Genosse. Stellvertretender APO-Sekretär. Im Betrieb weiß es niemand von mir, denke ich jedenfalls. Ob auch die das verkraften könnten? Das heißt, ein Kollege weiß, was das für eine Literaturdatei ist, die ich erstelle. Er verhält sich deswegen aber nicht anders.
Manche Leute können es aber nicht verkraften. Der ehemalige Chefarzt erzählte im ganzen Haus herum, das heißt, er hatte es nur meiner Chefin anvertraut und das ist das selbe, daß eines morgens aus dem Zimmer seines Sohnes ein Mädchen herausgekommen sei. Die Absicht, die dahinter steckte, ist mir erst später aufgegangen, als nämlich sein Sohn zu unseren Schwulendiscos kam. Ein Freund von uns, Gerd, dem wir seine Armeezeit mit vielen Briefen auflockern halfen, hat zu Hause keinen guten Stand deswegen. Seine Schwester hatte einige Briefe gefunden und gelesen. Seine Eltern wollten ihn deswegen rausschmeißen, als er dann zugab, schwul zu sein.
Die Sache mit Thomas ist noch lange nicht durchgestanden. Er geht jetzt in die zehnte Klasse und ist noch dabei, sich selbst zu finden. Ich weiß da wirklich nicht, was ich machen soll. Jochen möchte ich auf gar keinen Fall verlieren. Gleichzeitig grüble ich aber darüber nach, wie ich auch Thomas behalten kann. Es ist zum verrückt werden. Entweder gibt es einen großen Knall oder alles verläuft sich im Sande. Warum kann man nicht zwei haben?
                                                                                                                                               17.9.88
Es ist doch komisch, all die Jahre habe ich nichts gesagt und nun so ein freimütiger Brief, in dem ich Dinge schreibe, über die ich mich sonst nur mit Freunden unterhalten konnte. Aber schreiben läßt sich vieles sicher eher, als es Dir, Dir gegenübersitzend und in die Augen schauend, zu sagen. Zu reden hätte ich bestimmt nicht allzu bald angefangen. Wenn ich das nächstemal zu Euch komme, ich weiß noch nicht wann, dann wird mir bestimmt ganz komisch zumute sein, wenn ich Dir dann gegenüberstehe. Bis dahin aber die herzlichsten
Grüße von Friedemann an alle.


Freitag, 16. September 1988 - Montag, 19. September 1988

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