Die Hoschköppe / 65. Kapitel - Abstrakte Irrwege

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Die Hoschköppe / 65. Kapitel

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Sonntag, 23. Oktober 1988


Ein Wochenende ganz ohne aufregende Ereignisse liegt hinter uns. Das ungewöhnlich schöne Herbstwetter, das die Massen zu einem Strandbummel nach draußen gelockt hatte, genossen Jochen und ich bescheiden in der Enge unserer vier Wände, mit häuslichen Dingen beschäftigt. Frische Luft schnappten wir nur, wenn wir einen Arm aus dem Fenster streckten, um das Staubtuch auszustauben, mit dem wir mühevoll den Staub auf den Möbeln von einer Stelle zur anderen gewischt hatten. Der verfrühte, oder besser gesagt der verspätete, Frühjahrsputz verschaffte dem arg gebeutelten Staubsauger eine akute Atemnot, von der er sich sobald nicht erholen wird. Sogar die unschuldigen Lampenschirme mussten sich ein Bad gefallen lassen. Verschiedene Pflanzen erhielten neue Erde, in die sie begierig ihre gestutzten Wurzeln senken.
An beiden Tagen trampelte uns Roland vor den Füßen herum, um unseren Tatendrang mehr oder weniger zu behindern. Am Sonnabend wollte er Platten überspielen und am Sonntagvormittag brachte er dann meinen Diaprojektor zurück. Nachdem er heute mit sehr viel Beharrlichkeit stundenlang gelangweilt herumsaß, eröffnete er uns um dreiviertel zwölf, dass seine Mutter nach Warnemünde in die Sauna gefahren sei und er nun uns die Freude mache, ihn abfüttern zu dürfen. Jetzt hatten wir ein Problem, denn es war nur ein Zweipersonenmenü zubereitet worden. Und wer würde die Atzung eines Nestes voller siebenköpfiger Raupen nicht als echtes Problem ansehen? Hier konnte nur durch rasche Improvisation Abhilfe geschafft werden, indem ein großer Topf Nudeln gekocht wurde. Dazu stellten wir ihm eine Flasche Ketchup hin. Fertig! Ich nahm natürlich den Faden, den Roland ins Zimmer geworfen hatte, sofort auf und lud ihn ein, am Donnerstag mit in die Sauna zu kommen. Er meinte aber, dass es am Donnerstag nicht so günstig wäre, da ihn ein Telegramm der Reederei am Freitag wieder aufzusteigen verpflichtet hatte. Ich, einmal angebissen, ließ nicht locker und schlug mit banger Hoffnung den Mittwoch vor, dem er zustimmte.
Obwohl wir Thomas am Mittwoch das letzte Mal gesehen hatten, war er doch allgegenwärtig und geisterte wie ein Phantom durch unser Reden und Schweigen. Unsere Entzugserscheinungen äußerten sich ähnlich wie die eines Alkoholikers, der mit tranigem Blick, aber doch liebevoll auf den Rest in seiner Flasche blickt, von dem er sich zu trennen gerade entschlossen war. Wir lenkten unsere verstohlenen Blicke fragend aus dem Fenster, hinüber zu seinem. Ist es offen oder geschlossen, hat er das Rollo runter, brennt das Licht? Alles Fragen, die zu keiner Antwort, sonders nur zu einer weiteren Frage führten: Ist er da oder nicht? Sooft wir aus dem dreiteiligen Fenster blickten, sahen wir nur auf den gegenüberstehenden Block. Es interessierte nicht die Bohne, wer da alles rechts oder links in den Fenstern lag, bei wem die Gardine zugezogen war oder wo überall das Licht brannte. Nur ein einziges Fenster beanspruchte unsere ganze Aufmerksamkeit. Oft gestehen wir es uns selbst nicht ein, dass wir auf ihn warten, aber wir warten immer.
So war es auch am Sonnabend kurz nach dem Mittag. Wir waren beide allein. Ich lag auf der Liege und döste vor mich hin und befürchtete, jeden Moment durch Jochen aufgescheucht zu werden, wie man einen Schwarm ausgehungerter Spatzen von einem frisch bestellten Beet verjagt, um mit ihm zum Strand zu fahren, wie es alle Leute taten.
„Thomas ist nicht schwul. Er weiß es jetzt, hat er gesagt“, meinte Jochen aus heiterem Himmel.
Warum musste er mich ausgerechnet damit überfallen? „Wie schön für ihn! Wann hat er dir das gebeichtet?“
„Das war Dienstag, bevor du mit Roland gekommen bist.“
Wenn dem tatsächlich so ist, dann hatte ich Thomas also missverstanden, als er mir versichert hatte, dass sich auch bei ihm nichts geändert habe. Ich hatte diese Aussage wie selbstverständlich auf unsere ersten Nächte bezogen und nicht auf das letzte spätabendliche Zusammensein, das für mich so schmerzlich geendet hatte. Auf den Gedanken, dass Thomas gerade den letzten Abend hätte meinen können, war ich gar nicht gekommen. Sollte es wirklich nur Neugierde darauf gewesen sein, wie es mit einem Mann, wie es mit einem Schwulen im Bett ist? Es kann doch nicht sein, dass seine Liebe nur gespielt war, dass sie nur einen Teil des großen Dilemmas in den Wochen davor ausmachte, nur die fein inszenierte Ouvertüre zu einem Theaterdrama, das schon nach dem ersten Akt abgebrochen werden sollte? Das darf einfach nicht sein! Soll Jochen in allen Punkten recht behalten, sollen sich alle seine Befürchtungen und Warnungen am Ende doch bewahrheiten? Das hieße ja dann, dass sein selbstmörderisches Getue und Gefuchtel, das er Thomas und vor allem mir vorgespielt hatte, eben auch nur Theater und gar nicht nötig gewesen wäre. Ich sah ihn noch immer, Rotz und Wasser heulend, im Korridor in sich zusammengesackt vor mir liegen und mit den Armen um sich schlagen, nachdem er Thomas wortgewaltig und achtkantig rausgeschmissen hatte. Das Bild werde ich so schnell nicht verdrängen können. Ich werde nie im Guten von Jochen loskommen können! Nicht, dass ich das will! Ich habe Angst vor ihm. Auch Jochens Abschiedsbriefe fielen mir ein, die er voller Wut und Schmerz geschrieben und gut sichtbar in seinem Schreibfach der Schrankwand aufgestellt hatte.
Dass aber seine Mutter überhaupt kein Verständnis für solche Leute aufbringen könne, die sich umbringen, nur weil sie mit ihrem Partner nicht klarkämen, hatte Jochen mächtig geschockt. Sie hatte sich in diesem Sinne anlässlich eines solchen Vorfalles geäußert.
Ich war schon in den letzten Tagen in Gedanken viel bei meinem Thomas gewesen, der mir zwar nicht gehört und nie gehören wird, doch nun umso mehr, nachdem mir Jochen dies erzählt hatte. Und noch immer bekomme ich, wenn ich an ihn denke, schreckliches Herzklopfen.
Jochen hatte der mangelnden Lust wegen nur wenige Schlehen von den sich verzweifelnd wehrenden Sträuchern gepflückt, die aber wenigstens für eine Flasche Likör hinreichend sein mochten, wohingegen ich an die zwei Kilo Hagebutten in meine Fahrradtaschen gesammelt hatte, womit wir uns vom Strand aus auf den Heimweg begaben. Kurz darauf kam uns Goldbrille vor die Räder, der zwar im selben Haus wie Jochen, aber im rechten Aufgang wohnt und aus uns bislang unbekannten Gründen nicht besonders gut auf uns zu sprechen ist. Um ihn zu ärgern, grüßten wir ihn wieder. Als wir mühsam den tief ausgefahrenen Weg entlang radelten, da hing die Sonne noch ein ganzes Stück über den Sträuchern als glutroter Karnevalslampion am Himmel. Es war aber schon wieder diesig geworden und uns froren die Hände am Lenker.
Als es am Sonnabendabend noch sehr später mehrmals hintereinander mit nicht nachlassender Penetranz klingelte, lagen Jochen und ich bereits in den Federn. Jochen rührte sich nicht, denn es konnte nur Frank gewesen sein, der sich schon beim letzten Mal, als Jochen ihn vor der Tür hatte eiskalt abblitzen lassen, für diesen Abend angekündigt hatte. Nun unterzog sich Jochen, eben im Bewusstsein, dass es nur Frank sei, gar nicht erst der Mühe, zur Tür zu gehen mit der Begründung, dass ich anwesend sei. Das ließ mich stutzig werden, denn ich hatte, selbstlos wie ich bin, wegen des zu erwartenden Besuchs vorher nach Hause gehen wollen, was Jochen mit der Bitte abgelehnt hatte, ich möge doch bleiben. Denn er wolle nicht, dass es mit Frank eines Tages genauso enden solle wie mit Kay. Dabei waren wir schon längst soweit. Bei seinen unverhofften und immer erst sehr späten Besuchen pflegte Kay sich ohne viel Federlesens auszuziehen und zu Jochen ins Bett zu kriechen, obwohl ich auf der Couch lag und dann zwangsläufig so tun musste, als schliefe ich. Er kann sich nicht voll hingeben, meinte Jochen, wenn er weiß, dass ich zusehe, denn ab und an musste ich rüber schielen, ob ich es nun wolle oder nicht. Ich hätte Kay, den Schuft, nicht teilen sollen.
Nachdem Roland heute Mittag seinen schlimmsten Hunger halbwegs gestillt hatte und nach Hause gefahren war, sagte Jochen: „Vorhin ist Thomas mit dem Rad vorbeigefahren. Jetzt hängt er bestimmt wieder bei Raymond rum.“
Wir gingen dann nach meiner Wohnung, weil auch dort so einiges liegen geblieben und noch zu tun war. In der Wilhelm-Hörning-Straße sahen wir Thomas uns entgegenfahren. Wir warteten. Er hielt erwartungsgemäß bei uns an, aber mehr als eine spärliche Begrüßung und die Frage nach einem sauberen Taschentuch, das wir ihm nicht bieten konnten, brachte die Begegnung nicht ein. Mein Angebot, er könne bei mir zu Hause eines haben, schlug Thomas dankend aus. Er müsse jetzt sowieso nach Hause. Wenig bereitwillig gab ich ihm den Weg frei und zwang mich, mich nicht umzusehen, als er davonfuhr.
Beim Abendbrot fragte dann Jochen: „Denkst du noch oft an Thomas?“
„Ja, sehr viel. … eigentlich immer!“


Donnerstag, 20. Oktober 1988 - Montag, 24. Oktober 1988

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