Die Hoschköppe / 41. Kapitel - Abstrakte Irrwege

Direkt zum Seiteninhalt

Die Hoschköppe / 41. Kapitel

Texte > Die Hoschköppe

Sonntag, 25. September 1988


Heute Morgen sind wir eine volle Stunde zu früh aufgestanden, weil wir es versäumt hatten, unsere Uhren auf MEZ umzustellen. Ich ging sicherheitshalber bereits zu halb neun nach Hause, weil Meik sein Kommen versprochen hatte. Auch der hatte sich in der Zeit verlaufen, denn er wartete schon ungeduldig unten im Hausflur. Bis halb elf hatte er damit zu tun, seine Bilder zu trocknen und zu sortieren. Ich schrieb derweil. Als Meik auf Nimmerwiedersehen abgezogen war, bügelte ich den Rest unserer Fotos, den ich vor seinen Augen solange verborgen gehalten hatte. Darunter befanden sich auch zwei Bilder, die ich im Sommer am Strand fotografiert hatte und die Jochen und Andreas R. beim Picknicken zeigen. Ob sich Meik noch einmal sehen lässt? In einem Jahr vielleicht wieder. Noch schnell ein Gedicht abgetippt, ging dann zurück zu Jochen, der inzwischen Rouladen mit Erbsen und Vanillepudding mit Rhabarber kreiert hatte. Danach wollte ich mich, wieder bei mir zu Hause, auf das Treffen mit Klaus H. vorbereiten, bastelte aber stattdessen ein neues Gedicht zusammen, zu dem mir vorhin bei Jochen zwei Zeilen eingefallen waren. Es blieb noch etwas Zeit, an der Literaturkartei zu arbeiten, bevor ich kurz nach drei zur S-Bahn musste. Ich war mit Eddi, der aus Warnemünde kommen würde, in der Bahn drei Uhr vierundzwanzig, Nachlösewagen unten, verabredet. Wir wollten gemeinsam zu Klaus hinfahren. Da ich aber überhaupt nicht in der Stimmung war, Eddis geschwätzige und zum Teil recht aufdringliche Gegenwart zu ertragen, kuckte ich mir von den gerade einfahrenden Wagen einen anderen aus, als ich die Treppe zum Bahnsteig hinunterstieg. Über das ganze Gesicht strahlend und winkenderweise kam mir aber Eddi auf dem Bahnsteig entgegen. Wie denn das!, dachte ich. Er habe die Adresse von Klaus versiebt und mich auf keinen Fall verpassen wollen, erklärte er.
Das Zweifamilien-Puppenhäuschen im Rahnstädter Weg, in dem Klaus wohnt, macht äußerlich einen ganz netten Eindruck, ist aber unter der Pelle total marode und von der KWV sträflichst vernachlässigt worden. Klaus belebt die Zimmer unterm Dach. Hier sieht zwar alles sauber und ordentlich aus, aber Farbe, Tapeten und Fußbodenbeläge können nur schwerlich die Fraßschäden verheimlichen, die der Zahn der Zeit überall hinterlassen hat. Klaus und der Freund von Harald, frisch gebrühter Tee und noch leere Likörgläser erwarteten uns bereits. Aber bevor wir uns niederließen, wies uns Klaus vorsichtshalber auf die Fußbodenbereiche hin, die wir wegen der Gefahr des Durchbrechens besser umgehen sollten. Klaus, Eddi und ich lasen unsere neuesten Stücke vor, aus denen wir dann das Programm für den siebenten Oktober zusammenstellten. Nachdem diese gewaltige und kräftezehrende Arbeit getan war, zog ich mich mit Klaus in dessen Kabinett zurück, um Aufklärung über ihn und Bernd zu erbitten. Es sei eben aus, sagte Klaus, ohne noch darüber zu trauern, so einfach sei das. Aus. Wie es dazu kam, schilderte er dann aber doch mit flatternder Stimme. Plötzlich tat es mir leid, ihn danach gefragt zu haben, ich hatte in keiner noch offenen Wunde herumwühlen wollen. Es tat Klaus aber gut, sich das von der Seele reden zu können, was er nicht jedem hätte erzählen mögen. Mich in seiner Schuld fühlend, erzählte ich dann die eigene Geschichte und zeigte das erste gesammelte Material zu dem Buch, das ich vorhatte, daraus zu machen.
Abends gegen fünfzehn Minuten vor acht rüsteten wir zum Aufbruch. Klaus bot sich an, uns auf dem Weg zur S-Bahn ein Stück zu begleiten, um nebenbei seinen Hund auszuführen. Neben dem Haus steht ein mittelgroßer Birnenbaum im Rasen, der schon eine erhebliche Menge seiner Früchte unter sich gemacht hatte, wie es schien. Klaus hatte aber die Birnen am Vortage gepflückt und in den Rasen gelegt, weil das gut für sie sei, so habe er wenigstens gehört. Hiervon sammelten wir, bevor wir gingen, eine große Plastetüte voll, die ich Jochen mitnehmen sollte.
Eddi fuhr weiter bis Warnemünde, ich stieg in Lichtenhagen aus. Jochen war allein zu Haus. Meine Stullen für morgen zur Arbeit, eine Tomate und ein Apfel lagen bereits auf der Flurgarderobe. Auf dem Tisch in der Stube warteten die fertigen Schnitten auf mich, die ich mit Heißhunger verspeiste. Jochen hatte schon gegessen. Obwohl ich ihn den ganzen Tag über allein gelassen hatte, schien er doch irgendwie guter Stimmung zu sein. Er hielt es mir zwar vor, aber mit nur sehr wenig Nachdruck. Ich vermutete deshalb, dass Thomas bei ihm war, fragte aber nicht danach und von sich aus sprach Jochen nicht davon. Auf alle Fälle hätte er sich darüber beschwert, wenn Thomas nicht da gewesen wäre, nahm ich an. Ich brachte mein Geschirr in die Küche. Vom Nachmittagstee stand aber nur eine benutzte Tasse in der Abwäsche. Komisch, dachte ich. Aber mit wem sollte er, wenn nicht mit Thomas, so viel Kuchen gegessen haben? Doch nicht er allein. Wenn ein anderer da gewesen wäre, hätte er es bestimmt gesagt. Und dann stände auch mehr als nur eine Tasse da! Jochen wurde bald müde und machte sich sein Bett.
Ich war noch vor neun zu Hause, duschte und rasierte mich. Sollte Thomas um elf nicht kommen, dann werde ich um halb zwölf zu Jochen zurückgehen, nehme ich mir jedenfalls vor.



Sonnabend, 24. September 1988 - Montag, 26. September 1988

zurück zur Kapitelübersicht

Zurück zum Seiteninhalt